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Das rasante Wachstum der Schülerzahlen durch die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Zerstörung von Schulen im Bombenkrieg machen vielerorts den Neubau von Schulen nötig. Das Bild zeigt die Grundsteinlegung der Alexanderschule in Raesfeld 1949 (Ausschnitt) / LWL-Medienzentrum für Westfalen







Aufwachsen in Westfalen

Krisenjahre und Aufbruchsstimmung -
die Nachkriegszeit in Deutschland
1945-1965



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Inhaltsverzeichnis
Veronika Jüttemann /  Einleitung

Thomas Abeler /  1. Von der Not zur Normalität

Adalbert Hoffmann /  2. Kriegskinder

Ursula Janik /  3. Freizeitverhalten von Jugendlichen

Hans-Peter Johannsen /  4. Töchterheim Sonnenwinkel

Edith Kreyenschulte /  5. Vertriebenenkinder

Angela Prinz /  6. "Aufwachsen" im Sportverein

Norbert Schäfers und Roland F. Stiegler /  7. Besatzungskinder

Wilfried Voß /  8. Evangelische Kindheit



 
 




Adalbert Hoffmann

Münster i. W. - Erinnerungen von Kriegskindern an Bombenkrieg und Evakuierung

 
 


Gliederung
1. Einleitung

2. Der Bombenkrieg | 2.1 Die Eskalation des Bombenkriegs |
2.2 Münster im Bombenkrieg | 2.2.1 Die Bombardierungen |
2.2.2 Die Fliegeralarme | 2.3 Zeitzeugenerinnerungen |
2.3.1 Vorbemerkungen | 2.3.2 Undatierte Erlebnisse |
2.3.3 Datierte Erlebnisse | 2.3.3.1 Angriffe am 02.07.1940 und am 12.06.1943 | 2.3.3.2 Angriff am 10.10.1943 |
2.3.3.3 Weihnachten 1943

3. Evakuierte im II. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit |
3.1 Evakuierte allgemein | 3.1.1 Der Begriff | 3.1.2 Zahlen, Evakuierungsgründe, Erlasse |
3.1.3 Zur Situation von Evakuierten | 3.1.4 Evakuierte in der Nachkriegszeit | 3.2 Evakuierte aus Münster |
3.3 Zeitzeugenerinnerungen | 3.3.1 Vorbemerkungen |
3.3.2 Wege in die Evakuierung | 3.3.2.1 Grund und Zeitpunkt der Evakuierung | 3.3.2.2 Kurze Wege | 3.3.2.3 Weite Wege |
3.3.3 Die Evakuierten an ihrem neuen Ort |
3.3.3.1 Die Unterkunft | 3.3.3.2 Die Aufnahme der Evakuierten und ihre Behandlung | 3.3.3.2.1 Gute Erfahrungen |
3.3.3.2.2 Schlechte Erfahrungen | 3.3.3.2.3 Verwandte |
3.3.4 Kriegserfahrungen | 3.3.4.1 Bombardierungen |
3.3.4.2 Tiefflieger | 3.3.4.3 Im Krieg gefallene Väter |
3.3.5 Schule | 3.3.6 Kinderlandverschickung | 3.3.6.1 Im Kindergartenalter in der KLV | 3.3.6.2 Als Oberschülerin in der KLV | 3.3.6.2.1 Im KLV-Lager Reit im Winkl |
3.3.6.2.2 Kriegsende und Rückkehr aus der KLV | 3.3.7 Vom (Über)leben | 3.3.7.1 Spielzeug | 3.3.7.2 Ernährung |
3.3.7.3 Lebensmittel-, Kohlen- und Möbelklau |
3.3.7.4 Besuche | 3.3.8 Kriegsende | 3.3.9 Das Ende der Evakuierung | 3.3.9.1 Vorbemerkungen | 3.3.9.2 Der Abschied | 3.3.9.3 Baldige Rückkehr | 3.3.9.4 Späte Rückkehr

4. Münster in der Nachkriegszeit | 4.1 Die Situation am Kriegsende | 4.2 Wiederaufbau | 4.3 Zeitzeugenerinnerungen |
4.3.1 Mithilfe von Kindern | 4.3.2 Schule | 4.3.2.1 Die ersten Schuljahre | 4.3.2.2 Die späteren Schuljahre | 4.3.3 Freizeit |
4.3.4 Versorgung | 4.3.4.1 Nahrungsmittel |
4.3.4.2 Medizinische Versorgung | 4.3.4.3 Kleidung |
4.3.4.4 Brennstoffe

5. Zusammenfassung als Beitrag zum Thema Kriegskinder |
5.1 Der Begriff Kriegskinder | 5.2 Zeitzeugen |
5.2.1 Zeitzeugen ohne Schädigungen | 5.2.2 Zeitzeugen mit Schädigungen | 5.3 Über das Erinnern der Zeitzeugen | 5.4 Zum Verhältnis von Krieg und Evakuierung | 5.5 Unterschiedliche Erlebnisse der Kriegskinder | 5.6 Abschließende Gedanken

6. Anhang | 6.1 Verzeichnis der Literatur | 6.2. Verzeichnis der Orte | 6.3. Verzeichnis der Zeitzeugen
 
 
 
PAX OPTIMA RERUM
(Der Friede ist das höchste Gut.) [1]


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Medaille zur 300 Jahrfeier des Westfälischen Friedens 1948
 
 
 

1. Einleitung

 
 
 
In zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen zum Thema "Notfallseelsorge" lernte ich Hilfsmöglichkeiten für Menschen nach sehr schlimmen Erlebnissen wie dem plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen oder einem anderen traumatischen Ereignis kennen. Mir wurde deutlich, dass in unserer Zeit auf vielfältige Weise hierzulande versucht wird, Menschen nach einem schweren Schicksalsschlag Unterstützung zu geben. In einer dieser Fortbildungen kam die Frage auf: Wie sind eigentlich Menschen früherer Zeiten mit außergewöhnlich belastenden Ereignissen ihres Lebens fertig geworden? Früher gab es kein Netz zur psychosozialen Unterstützung und auch keine eigenständige Psychotraumatologie, die sich in Forschung und Lehre mit den Folgen schlimmer Erlebnisse befasst und auf wissenschaftlicher Grundlage zur Therapie traumatisierter Menschen ausbildet. Oft genug hieß es: Darüber spricht man nicht. Das muss jede und jeder mit sich selbst ausmachen. In diesem Zusammenhang dachte ich an meine vor einigen Jahren verstorbenen Eltern: Was haben die Erfahrungen von Krieg, Bombardierung und Flucht mit ihnen gemacht? Wie haben sie das verarbeitet (oder auch nicht)? Was haben sie überhaupt im Krieg mitmachen müssen? Leider habe ich mit meinen Eltern nie über solche Fragen gesprochen.

Als an der Universität Münster im Rahmen des Studiums im Alter ein Seminar zum Thema "Aufwachsen in Westfalen 1945-1960" angeboten wurde, sah ich eine Möglichkeit, mich auf wissenschaftlicher Ebene mit den Traumatisierungen durch den Krieg zu befassen. Aus diesem überaus umfangreichen Themenkreis musste ich einen begrenzten Bereich auswählen. Ich habe meinen Blick auf die Erlebnisse von Kindern bei der Evakuierung aus einer luftkriegsgefährdeten Stadt gerichtet. Dabei kam unweigerlich auch der "Bombenkrieg" selbst in meinen Blick; denn die Bombardierungen waren der Grund für die Evakuierung. Dass mich das Thema Evakuierung interessierte, lag daran, dass ich darüber - etwa im Gegensatz zum Thema "Flucht und Vertreibung" - bisher wenig wusste. [2] So stellte sich mir die Frage: Was ist mit den Menschen, die infolge des Bombenkrieges ihre Heimatstadt verlassen mussten, bevor die großen Flüchtlingsströme kamen?

Zehn Menschen, die als Kinder aus Münster in Westfalen evakuiert wurden, haben mir von ihren Erlebnissen erzählt. Zwei Personen haben mir schriftliche Aufzeichnungen gegeben. [3] Eine Übersicht über die Zeitzeugen mit ihrem jeweiligen Geburtsjahrgang und Angaben zum Interview sowie ein Verzeichnis der Orte, an die sie evakuiert wurden, habe ich in den Anhang gestellt. Das Erzählen erfolgte in der Form von narrativen Interviews. Das bedeutet: Ich habe die Zeitzeugen möglichst viel erzählen lassen. Zwischendurch habe ich Fragen zum Verständnis oder zum Ansprechen eines neuen Themas gestellt. Zu betonen ist dabei, dass die Zeitzeugen aus ihrer Kinderzeit erzählen. Bombenkrieg und Evakuierung stellen sie so dar, wie sie das als Kinder erlebt haben. Spannend ist die Frage, was diese Menschen bis heute in Erinnerung behalten haben und mir als einem für sie fremden Mann erzählen möchten. Mit ihren Erinnerungen geben sie keine durchdachte Darstellung von Geschichte, etwa indem sie ihre Erinnerungen in die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit einordnen. [4] Sie erzählen vielmehr selbst erlebte Geschichten aus der lange zurückliegenden Zeit ihrer Kindheit. Dadurch aber können sie mir ein zwar nicht komplettes, aber dafür buntes und hochlebendiges Bild von Bombenkrieg und Evakuierung liefern. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

Die Erinnerungen dieser Kriegskinder schildere ich in einem doppelten Rahmen. Räumlich gesehen ist er markiert von der Stadt Münster als Ort des Bombenkrieges und von verschiedenen Evakuierungsorten im Münsterland und in Bayern. Thematisch ist der Rahmen abgesteckt durch die Kapitel Bombenkrieg, Evakuierte, Nachkriegszeit und Kriegskinder. Einen besonderen Blick will ich auf die Frage werfen, was die Erfahrungen der Zeitzeugen im Krieg und der Nachkriegszeit für ihr weiteres Leben bedeuten und wie sie die damaligen Erlebnisse verarbeitet haben. Als Ergänzung der Zeitzeugenerinnerungen schaue ich mich in der schier unüberschaubaren Literatur um. Dazu kommen Kontakte zu den Stadtarchiven Telgte und Münster. [5]

In den Erinnerungen geht es oft um Berichte über schweres Leid. Dieses Leid ist die Folge des Zweiten Weltkriegs. Dabei darf nicht vergessen werden, wer den Krieg begonnen hat: Am 1. September 1939 überschritt die Deutsche Wehrmacht die polnische Grenze. Daraus folgte für eine unübersehbare Zahl von Menschen Tod und Leid. In diesem Zusammenhang fragt Hartmut Radebold:
"Dürfen wir uns angesichts des Leides, das wir anderen zufügten, mit unserem eigenen Leid befassen?"

Er bejaht diese Frage: Trotz mancher Fragen und Einwände
"müssen wir uns heute aus wissenschaftlicher Sicht ... fragen, welche Befunde über die damaligen (häufig als traumatisierend anzusehenden) Ereignisse und ihre Folgen vorliegen." [6]

Meine Arbeit soll dazu dienen, einige der von Hartmut Radebold erwünschten Befunde zu erheben. Dazu hoffe ich, auch einen kleinen Beitrag zu einigen Fragen liefern zu können, die wegen der "denkbar schlechten Quellenüberlieferung" noch ungeklärt sind:
"Dies gilt ... für das Leben der in der Stadt verbliebenen und der evakuierten Münsteraner. Es wäre z. B. wünschenswert zu erfahren, was sich für Probleme bei der Unterbringung im Münsterland oder bei der Rückführung der Umquartierten ergaben." [7]
 
 
 
 

2. Der Bombenkrieg

 
 
 

2.1 Die Eskalation des Bombenkriegs

 
 
 
Der Bombenkrieg gegen das Deutsche Reich eskalierte mit einer stetig wachsenden Bombenmenge. Diese Menge war so groß, dass es noch 65 Jahre nach Kriegsende in einem Zeitungsbericht heißt:
"Täglich rücken in Deutschland Räumdienste aus, um Weltkriegsmunition zu bergen. Täglich wird irgendwo eine Straße gesperrt oder ein Wohnviertel evakuiert. Die Meldungen schaffen es meist nur in die Lokalpresse. Wer sie in der Zusammenschau betrachtet, könnte glauben, die unmittelbare Nachkriegszeit sei nie zu Ende gegangen." [8]

Aus dem Bombenkrieg ergibt sich unendliches Leid vor allem für die Zivilbevölkerung, aber keineswegs nur in Deutschland. Ein Mädchen, das einen Angriff der deutschen Luftwaffe auf London erlebt hat, schreibt:
"Die ganze Straße stand in Flammen. Diese Szene werde ich nie vergessen." [9]

Elisabeth Domansky und Jutta de Jong stellen bei Zeitzeugenbefragungen fest:
"So wird häufig berichtet, dass Soldaten, die auf Heimaturlaub waren, ihrem Gefühl Ausdruck gaben, dass die Situation an der Front den Bombenangriffen in der Heimat vorzuziehen wäre." [10]

Das Besondere des Bombenkrieges ist die Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung. Das aber verstößt offensichtlich gegen das Völkerrecht.
"Nach der Haager Landkriegsordnung (1907) dürfen nur Militärpersonen und militärische Objekte angegriffen werden." [11]

Auch wenn eine ausdrückliche "Luftkriegsordnung" fehlte, so war auch auf diesem Gebiet die Zivilbevölkerung möglichst weitgehend zu schützen. [12] Wie schlimm die Zivilbevölkerung zu leiden hatte, zeigte einer breiten Öffentlichkeit das 2002 erschienene Buch von Jörg Friedrich "Der Brand", das Hans Mommsen ein "Panorama des Grauens" nennt. [13] Besonders belastet hat mich bei der Lektüre dieses Buches die Ausweglosigkeit von Menschen, die dem Bombenhagel in Bunker oder Luftschutzkeller ausgesetzt waren. Immer wieder bestand die Gefahr verschüttet zu werden oder im "Feuersturm" umzukommen. Von dieser bedrückenden Ausweglosigkeit hörte oder las ich auch bei einigen Erzählungen von Zeitzeugen.
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Organisation des Luftschutzes, Schma 1933
 
 
Das Buch von Friedrich hat eine lebhafte Debatte ausgelöst. So sieht Hans Ulrich Wehler "die Gefahr", den "modischen Opferkult" zu unterstützen. Dadurch könnte
"die deutsche Öffentlichkeit Schritt für Schritt eine kostbare Errungenschaft der letzten Jahrzehnte [verlieren A.H.]: die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen jüngeren Geschichte." [14]

Zu dieser selbstkritischen Auseinandersetzung gehört die Beschäftigung mit den Angriffen der deutschen Luftwaffe gegen Warschau, Rotterdam und vor allem England. So flog am 14.11.1940 die Luftwaffe Angriffe gegen Coventry.
"Der Großteil der Innenstadt samt der berühmten Kathedrale war zerstört, 75 % der Industrieanlagen beschädigt." [15]

Deshalb sprach man in der Folgezeit von "coventrieren", wenn es um die Zerstörung einer Stadt ging. Während im Jahr der Bombardierung von Coventry die deutsche Luftwaffe noch dreieinhalb Mal so viel Tonnen an Bomben abwarf wie die Engländer, änderte sich das in den folgenden Jahren völlig. 1943 übertraf die Menge der englischen Bomben die der deutschen um mehr als das fünfzigfache, 1944 um mehr als das siebzigfache. [16] Dabei ging es um das flächendeckende "area bombing", das ganze Städte oder zumindest Stadtteile in Schutt und Asche legte. Aus dem "coventrieren" wurde sehr bald ein "hamburgisieren." [17] Angespielt wird dabei auf den Bombenangriff auf Hamburg unter dem Stichwort "Operation Gomorrha" Ende Juli, Anfang August 1943, über den Bert Brecht schrieb: "Hamburg geht unter".
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Der Bombenkrieg von 1940 bis 1945
 
 
Die Zahlen der deutschen "Luftkriegsopfer" sind nicht genau zu beziffern. Hans Sperling nennt als Zahl "für die Toten zwischen 300.000 und 600.000, für die Verwundeten zwischen 600.000 und 800.000." [18] Die Zahl der getöteten Kinder unter 14 Jahren beträgt etwa 75.000, verletzt wurden 116.000. [19] Dazu kommen zahlreiche Zerstörungen von Gebäuden und eines erheblichen Teils der Infrastruktur. Hans-Ulrich Thamer spricht von einem Verlust von 1,63 Millionen Gebäuden mit 5 Millionen Wohnungen, wobei 14 Millionen Menschen ihren Besitz verloren haben. [20] Darüberhinaus aber hat der Bombenkrieg in Körper und Seele vieler Menschen langanhaltende Traumatisierungen hervorgerufen. Auch darüber berichten manche meiner Zeitzeugen.

In der aktuellen Diskussion geht es auch um den militärischen Nutzen des Bombenkrieges. Hans Mommsen stellt dazu fest, "dass die Eskalation des Luftkrieges aus militärischen und aus humanitären Gründen gleichermaßen verfehlt war." [21] Damit könnte gemeint sein, dass der Bombenkrieg bei der Zivilbevölkerung zu einer Annäherung an das NS-Regime geführt hat. Hans Rumpf, "Generalinspekteur der deutschen Feuerschutzpolizei", behauptet nämlich:
"Das Leid, das die Städtezerstörungen schufen [sic!], war der Kitt, der die Menschen zusammenhielt und an den nicht mehr bejubelten Staat fesselte." [22]

Indem die "Partei als Helfer im Bombenkrieg" auftrat, gelang es dem "Regime, die Notlage der Ausgebombten plakativ auszunutzen, um die im Lande weitgehend diskreditierte NSDAP wieder ins Spiel zu bringen." [23] Wieweit das auch für Westfalen und Münster galt, ist fraglich; denn Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow schrieb im Februar 1943 in sein Tagebuch:
"Aber wohin ich blicke, -überall wendet sich das Volk ... von dieser so entarteten NSDAP ab und bleibt sich selbst treu." [24]

Immerhin kümmerte sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) um die Evakuierung von Müttern mit Kleinkindern, die Hitlerjugend (HJ) um die Lager der Kinderlandverschickung (KLV). Auch darüber reden von mir befragte Zeitzeugen.
 
 
 
Nach meiner Meinung steht hinter allen Diskussionen um den Bombenkrieg die ernüchternde Erkenntnis: Im Luftkrieg als Teil des "totalen Kriegs" bleiben Vernunft und Humanität auf der Strecke. Ein solcher Krieg verläuft nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sicherlich nicht nur im Hinblick auf Deutschland stellt Hans-Ulrich Thamer fest:
"Überkommene Normen wurden ausgehöhlt, eingeübte Verhaltensformen abgeschliffen. Mit der 'zunehmenden Gewöhnung an Gewalt, Elend und Tod' (Hans Mommsen) wuchs eine moralische Indifferenz." [25]

Noch einen Schritt weiter geht Hans-Ulrich Wehler:
"Das Schreckliche ist, dass in einem totalen Krieg die Normen des Verhaltens auf beiden Seiten ausgelöscht werden." [26]

Deshalb ist es kein Wunder, dass der Luftkrieg in den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio keine Rolle spielte.
"Hätte man die Kriegsverlierer dafür belangt, hätten die Sieger ihren eigenen Luftkrieg kriminalisiert." [27]
 
 
 

2.2 Münster im Bombenkrieg

 
 
 

2.2.1 Die Bombardierungen

 
 
 
Auf die Stadt Münster hat es im Verlaufe des Krieges über 100 Luftangriffe mit dem Abwurf von Bomben gegeben. [28] Beim ersten Fliegerangriff auf Münster am 16.05.1940 trafen eher zufällig sechs Bomben die Stadt. [29]
"Dieser Bombenabwurf - einer der ersten in Nordwestdeutschland überhaupt - wirkte sensationell und lockte einige Tage lang Tausende von Neugierigen zur Abwurfstelle. Noch ahnten diese nicht die Schrecken, die ihnen die kommenden Jahre bringen sollten." [30]

Doch zunächst geschah noch nicht allzu viel: Am 02.07.1940 kam es nach einem Bombenangriff zu einem Großbrand am Hafen. Ein Jahr später fielen in den vier aufeinander folgenden Nächten vom 6. bis 10. Juli 1941 Bomben auf Münster. [31] Obwohl die Schäden noch überschaubar waren,
"gruben sich diese Nächte des Schreckens so stark in die Erinnerung derjenigen, die sie miterlebt haben, ein, weil sie zum erstenmale [sic!] ein schauriges Bild eines neuartigen Krieges gaben, der auch die zivile Bevölkerung mit seinen Schrecken nicht verschonte."

"Erst allmählich beruhigte sich die durch Gerüchte, Münster solle völlig zerstört werden, angeheizte Stimmung." [32]

In der folgenden Zeit gab es etwas größere Angriffe nur in der Nacht zum 23.01.1942 und zum 12.06.1943. Zwischen Mitte September 1942 und dem Angriff im Juni 1943 blieb die Stadt neun Monate lang von Angriffen verschont.

Doch dann am 10.10.1943, einem sonnigen Herbstsonntag, führte die U.S. Air Force den ersten Tagesangriff durch. [33] Bis dahin hielten sich die Zerstörungen in der Stadt Münster noch in Grenzen. Die Zahl der bis zu diesem Tag beurkundeten Bombenopfer betrug 123 Personen, nicht einmal 10 % aller beurkundeten Bombentoten. Nach dem überraschenden Angriff am 10. Oktober wurden 473 Ziviltote beurkundet. Dazu kamen etwa 200 gefallene Soldaten. Zwischen 15:00 und 16:20 Uhr fielen mindestens 5.000 Bomben, die sich über das ganze Stadtgebiet verteilten. [34] Die Zerstörungen waren so groß, dass 23.000 Personen evakuiert werden mussten. [35] Erinnerungen an diesen Bombenangriff tauchen in den Erzählungen der von mir befragten Zeitzeugen immer wieder auf. Ich kann ihn als Wendepunkt des Bombenkriegs gegen Münster bezeichnen; denn in der Folgezeit kam es auch in Münster zu einer besonders gegen Kriegsende hin festzustellenden Eskalation. In den letzten sieben Kriegsmonaten wurde knapp die Hälfte aller Angriffe gegen die Stadt geflogen, bei denen mehr als die Hälfte aller Bomben fielen. [36] Münster wurde zu über 60 % zerstört. Auch wenn sich "die genaue Zahl der Luftkriegsopfer ... nicht verläßlich feststellen" lässt, wird doch die exakte Zahl von 1594 Personen angegeben, darunter 80 Kinder unter 14 Jahren und 129 Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren. [37]

Der letzte Großangriff traf die Stadt am 25.03.1945 (Palmsonntag). Ein an diesem letzten Bombardement beteiligter Pilot erinnert sich:
"Wir rissen die Schächte los, wie auf dem Exerzierplatz, in 16 Minuten rasselten 441 Tonnen Bomben herunter - 'Münster' könnt ihr auf der Karte ausradieren...". [38]

Trotz aller Schäden, die auch dieser letzte Angriff noch angerichtet hat, war Münster zu diesem Zeitpunkt schon in großen Flächen "ausradiert". Die auf die Stadt herabrasselnden Bomben trafen eine zumindest im Innenstadtbereich schon weitgehend zerstörte und von der evakuierten Bevölkerung verlassene Stadt; deshalb brauchten auch "nur" zwei Tote beurkundet zu werden.

Detlef Dreßler stellt als Fazit des Bombenkrieges gegen Münster fest, dass diese Stadt kriegswichtige Ziele bot: Militäranlagen einschließlich zweier Flughäfen (Loddenheide und Handorf), sich kreuzende Verkehrswege, Kanal mit Überführung und Hafen. Trotzdem ist
"nicht bestreitbar, daß die Angriffe auf Münster - wie auch auf eine Vielzahl der anderen Städte -, sollten sie tatsächlich nur der Lahmlegung von Wirtschaft und Verkehr gegolten haben, deutlich überdimensioniert waren." [39]

Die Luftangriffe dienten aber keineswegs nur der Lahmlegung von Wirtschaft und Verkehr. Es ging - vor allem den Briten - um "moral bombing", d.h. um "die Unterhöhlung des Kriegswillens der deutschen Bevölkerung." [40] Dazu passt, dass in Münster "die ausgesprochen militärischen Anlagen - wie Generalkommando, Luftgaukommando und die verschiedenen Kasernenbauten - nur geringe Beschädigungen aufwiesen." [41]
 
 
 

2.2.2 Die Fliegeralarme

 
 
 
Die Fliegerangriffe mit Bombenabwürfen und entsprechenden Zerstörungen waren für die Bevölkerung schrecklich. Freilich wird oft übersehen, dass auch schon die Fliegeralarme eine große Belastung bedeuteten. Dabei nahmen die Flugzeuge zunächst ihren Kurs in Richtung Münster, flogen dann aber an der Stadt vorbei oder auch direkt über sie hinweg, ohne jedoch Bomben abzuwerfen. Die Zahl der Alarme betrug 1.128, ihre durchschnittliche Dauer 1 Stunde 21 Minuten. [42] Schon im Jahre 1940 gab es 157 Alarme. Paulheinz Wantzen notiert am 28.06.1940:
"Die Lokale sind ... abends ziemlich leer, weil die meisten Münsteraner jetzt früh zu Bett gehen und dann den Wecker auf 0.30 Uhr stellen, um anschließend in den Keller zu gehen. In den nächtlichen Straßen kann man kurz nach Mitternacht regelrechte Wecker - Konzerte hören." [43]

Der Höhepunkt der Alarme aber lag gegen Kriegsende, als die Menschen kaum noch aus dem Bunker herauskamen. [44] Bei Alarm war das Aufsuchen eines Bunkers oder Luftschutzraumes verpflichtend. Dort mussten sich die Menschen in Enge und Dunkelheit die angstbesetzte Frage stellen: Werden wir gleich angegriffen oder handelt es sich "nur" um ein Überfliegen zu einem anderen Ziel.
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Münster: Bei einem Bombenalarm strömen Menschen in den von-Kluck-Bunker
 
 
Dazu kamen noch 1259 Öffentliche Luftwarnungen. [45] Nach einer Luftwarnung konnte es zum Fliegeralarm kommen, "wenn schwachen feindlichen Luftstreitkräften stärkere Verbände folgen." [46]
"Die öffentliche Luftwarnung (...) bedeutet, daß feindliche Flieger einfliegen, daß aber mit größeren Luftangriffen nicht gerechnet wird. Verkehr und Wirtschaftsleben gehen weiter. Der Abwurf einzelner Bomben ist jedoch nicht ausgeschlossen."

Bei dieser Warnung gab es nur die Empfehlung, "sich ... luftschutzmäßig zu verhalten", d.h. einen Schutzraum aufzusuchen. [47] In einem Zeitungsbericht vom 24.10.1943 hieß es dagegen zwei Wochen nach dem Tagesangriff vom 10.10.1943:
"Aber auch bei der Öffentlichen Luftwarnung müssen die Menschen, die nicht unbedingt einer kriegswichtigen Arbeit nachgehen, von den Straßen und Plätzen verschwinden. Vor allem gehören spielende Kinder sofort ins Haus." [48]

"Größere Ansammlungen von Menschen (Kinos, Theater, Sportveranstaltungen und dergl.) sind wegen der immerhin vorhandenen Gefahr aufzulösen." [49]

Es gibt also keinen Zweifel: Unter dem Luftkrieg hat auch die Bevölkerung von Münster schwer gelitten. Selbst wenn keine Bomben fielen, gab es doch ständig Alarm. Blieb er aber für einige Zeit aus, dann "traut niemand der augenblicklichen Ruhe, man rechnet allgemein mit bald bevorstehenden Überraschungen durch den Tommy." [50] Die Bedrohung durch Luftangriffe mit dem Abwurf von Bomben war während der gesamten Kriegszeit ständig präsent.
 
 
 

2.3 Zeitzeugenerinnerungen

 
 
 

2.3.1 Vorbemerkungen

 
 
 
Erinnerungen [51] an den Bombenkrieg kommen bei allen Zeitzeugen, die ich befragt habe, vor. Da diese Zeitzeugen bei den Bombardierungen noch sehr jung waren, ist die Frage, die teilweise auch noch für die Zeit der Evakuierung gilt: An welche Ereignisse und auch Gefühle können sie sich selbst noch erinnern und was haben sie durch Erzählungen von Familienangehörigen, durch spätere Filmdarstellungen oder durch Berichte aus Büchern in ihre Erinnerungen aufgenommen? [52] So ergibt sich ein unentwirrbares Gemisch aus Darstellungen Dritter und aus dem ganz eigenen, persönlichen Erleben. Beispielsweise ist es für mich schwer vorstellbar, dass der dreijährige Hermann M., der mehrere hundert Meter Luftlinie von einem brennenden Holzlager entfernt wohnte, mit eigenen Augen gesehen hat, wie brennende Baumstämme durch die Luft flogen. Außerdem kann es bei den Erinnerungen zu eindeutigen Fehlern kommen. So erinnert sich Bernhardine C. klar an einen Angriff am 12. Juni und nennt dafür mehrmals das Jahr 1942. Doch dieser Angriff hat erst exakt ein Jahr später, 1943, stattgefunden. [53] In der Zeit nach diesem Angriff wurden die meisten meiner Zeitzeugen evakuiert. Die schlimmsten Angriffe auf Münster, also auch die Bombardierung am 10.10.1943, bekommen sie nicht mehr unmittelbar mit; aber das, was sie bis zu ihrer Evakuierung erlebt haben, war schon schlimm genug.
 
 
 

2.3.2 Undatierte Erlebnisse

 
 
 
Gilla P. kann nie vergessen, "dass nebenan ein Haus abgebrannt ist und zwei Kinder dabei verbrannt sind: Elsbeth und Katharina." Sie hat nicht nur die Namen der beiden Kinder auch noch nach bald 70 Jahren im Gedächtnis, sondern ihr steht auch noch das Bild nach dem Abbrennen eines Hauses vor Augen:
"Da standen ganz stumm die Leute drum rum, ganz still, wie so graue Schatten, so als wenn man so Nonnen oder so standen die alle."

Zu meiner Überraschung fügt sie im Interview gleich hinzu:
"Aber ich habe keine Angst gehabt. Nie."

Weil Gilla P. in der vorhergehenden Passage des Interviews von ihrer Mutter spricht, sage ich:
"Sie wussten die Mutter ist dabei. Die lässt Sie nicht allein... Das hat Sie getröstet."

Gilla P.:
"Ja, das hat mich getröstet." [54]

Obwohl auch bei Ernst-Theo G. die Mutter mit dabei ist, trifft es ihn besonders hart. Er schreibt über seine Erinnerungen an die Bombardierung in Essen:
"Die Bomber kommen fast nur am Abend oder in der Nacht. Deshalb wird bei uns früh zu Abend gegessen. Werden wir doch überrascht, so habe ich den Bissen vom Voralarm noch Stunden später im Mund. Der Höllenlärm und die schreckliche Not der Erwachsenen lähmen mich kleinen Kerl total. Nach den Angriffen liege ich bebend neben der Mutter im Bett, die mich nicht beruhigen kann."

Ein Grund für die Lähmung von Ernst-Theo G. könnte sein, dass seine Mutter selbst "immer wieder fürchterliche Todesängste ausgestanden" hat. Ein weiterer Grund ist, dass der Bombenkrieg in der Ruhrgebietsstadt Essen vor der Evakuierung von Ernst-Theo G. und seiner Mutter deutlich schlimmer als in Münster war.

Monika S. musste als Säugling zusammen mit ihrer Zwillingsschwester "in einen Extrabunker in der Piusallee". Sie hatte Keuchhusten. Obwohl dieser Bunker für Wehrmachtsangehörige vorgesehen war, wurden aber auch Mütter mit kranken Kindern aufgenommen. Weil schon bei Alarm ein Schutzraum aufzusuchen war, "haben wir dann mit Keuchhusten in dem Bunker viele Stunden zugebracht." Weil "der Körper nicht(s) vergisst", kann in diesen vielen Bunkerstunden die erste Ursache für die langanhaltende Schlaflosigkeit von Monika S. liegen. [55]

Bemerkenswert ist noch die Erinnerung von Klaus E. Die Familie nahm bei Alarm Zuflucht im Keller einer nahe gelegenen Weinhandlung.
"Die hatten unter dem Keller noch einen zweiten Keller. Das war der Weinkeller. [...] Und dadurch hatten wir ne gewisse Sicherheit in diesem Keller. Aber: an diesem Keller war ein Notausgang, Schacht. Und dieser Notausgangschacht war, eben weil ich ein etwas wendiger Mensch war damals, da musste ich dauernd gucken, ob schon irgendwas brannte."

Klaus E. hat als Kind wegen seiner Wendigkeit und seines geringen Körperumfangs die Möglichkeit, sich bei Bombenangriffen als Ausguck nützlich zu machen. Dabei sagt er nichts über mögliche Ängste bei seinen dauernden Klettertouren durch den sicherlich engen, dunklen und auch etliche Meter langen Schacht. Vielleicht aber sah er das Unternehmen mehr als Abenteuer an und war stolz auf seine Erkundungsaufgabe, die nur er als Kind bewältigen konnte.
 
 
 

2.3.3 Datierte Erlebnisse

 
 
 

2.3.3.1 Angriffe am 02.07.1940 und 12.06.1943

 
 
 
Hermann M. erzählt ziemlich aufgeregt vom Bombenangriff am 02.07.1940:
"Eines Nachmittags war ein direkter Angriff auf Münster und unter anderem wurde da die Firma Ostermann und Scheiwe voll getroffen. Es war also so, dass dicke, das ist das, woran ich mich noch erinnert habe, obwohl ich nun wirklich klein war [3 Jahre A.H.], aber es war so eine Panik auch in dem ganzen Wohnviertel bei uns [Herz Jesu Viertel A.H.], dass man das miterleben musste. Da sind also ganze Baumstämme, komplette Baumstämme glühend durch die Luft geflogen."
 
 
 
Bernhardine C. berichtet auf eine fast anrührende Weise vom Angriff am 12.06.1943:
"Und ich war sehr neugierig und ich ... kann mich noch an eine Szene erinnern, dass ich da so vorne am Eingang [des Luftschutzkellers A.H.] gestanden hab und fand das spannend, immer so diese Scheinwerfer von der Flak zu sehen. Und dieses Knattern da oben. ... Ich weiß wohl, dass einer sagte: [...] (Laut:) Das Kind muss weg hier, das Kind muss weg hier. Und ich war so enttäuscht ... Und als wir rauskamen, war nen Riesenschuttberg. Meine kleine Schwester sagte, alles kaputt. Obendrauf lag meine Puppe."
Zeitzeugin Bernhardine C., geboren 1936, über das Bombardement (Interview am 19.01.2010, Ausschnit 1:03 min, 1,0 MB, MPEG)




 
 

2.3.3.2 Angriff am 10.10.1943

 
 
 
Karl und Heinz L. berichten vom Tod der Großeltern im Clemenshospital an diesem Tag. Die Oma war als Patientin dort, der Opa hatte sie besucht. Beide haben den Bombenangriff nicht überlebt. Die Brüder selbst waren in Milte, etwa 22 km Luftlinie von Münster entfernt, bei Verwandten auf einem Bauernhof. "Da hieß es mit einem Mal: dahinten brennt Münster."

Anneliese J. befand sich am 10.10.1943 bei der Kinderlandverschickung (KLV) in Reit im Winkl. Ihre Mutter war auch dort hingekommen. Aber ausgerechnet bei dem ersten Tagesangriff auf Münster besuchte sie dort ihren Mann.
"Und die haben den 10. Oktober hier ganz grauenvoll mitgemacht. Mein Vater, der einen Wagen zur Verfügung hatte, hat nur Verletzte gefahren ins Franziskus ... Welche, die Beine verloren hatten ... ganz schrecklich. Und der Dr. Moll ... hat Notversorgung gemacht. Und mein Vater hat gefahren. [...] So hab ich's erzählt bekommen. Meine Mutter sofort am andern Tag oder zwei Tage später zurück nach Reit im Winkl."
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Beisetzung der Bombenopfer vom 10.10.1943 auf Lauheide, dem Kommunalfriedhof der Stadt Münster vom 10.10.1943 auf Lauheide
 
 
Auch wenn ihr Vater - "er hat viel davon erzählt" - ihr erst später manche Einzelheiten dieses Tages mitgeteilt hat, so wird sie nach der Rückkehr der Mutter mit Sicherheit mitbekommen haben, wie sehr die Mutter von den Erlebnissen dieses Tages schockiert war. Im Interview trägt sie diese Passage mit bedrückter Stimme vor.

Besonders bewegend ist der Bericht von Marianne H. Sie kam genau am 10.10. mit ihrer Schwester von einer sechswöchigen Kinderkur zurück.
"Und zwar sollte der Zug um drei Uhr einlaufen. Und da ... unser Pappi ..., der war ja Schaffner, kannte ich mich bei der Bahn aus. Ich bin gleich [irgendwo vor Münster A.H.] zum Schaffner gelaufen und hab gesagt: Wo fährt der nächste Zug nach Münster? ... Und dann ... haben wir uns vom Kindertransport gelöst. Und wir waren um Zwölf in Münster."

Die Mutter hatte die Kinder noch gar nicht erwartet. Sie schickte sie zur Oma. Dort erlebten sie in einem "Splittergraben am Mühlenweg" die Bombardierung.
"[Nach dem Angriff vom Bahndamm aus A.H.] sahen wir auch das Feuer. Der Bahnhof stand in Flammen. Also wenn wir mit dem Zug gekommen wären um drei, dann wären wir in die Flammen reingefahren. Es war ja kein Alarm vorher, nichts." [56]

Schon der Weg vom Bahnhof nach Hause war schwierig.
"Hab erst nicht vom Bahnhof nach Hause gefunden. Die Eisenbahnstraße hier war total voll Schutt. Die war weg, die gab's nicht mehr. Da war ein hoher Schutthaufen. Ja, wo ging's jetzt nach Hause: Promenade. Promenade war auch nicht mehr da. Wie kommen wir nach Hause ohne Promenade? Da hab ich ne Frau gefragt: Wissen Sie, wo die Promenade ist? Ja, du stehst doch davor. Ich sag: Das ist die Promenade? Da steht ja gar kein Baum mehr. Da waren die ganzen Baumkronen weg. Und dann wusst ich ja: Bis zum Zwinger musste ich gehen, am Zwinger links ab, da wohnen wir."

Bei welchem Luftangriff diese starken Zerstörungen angerichtet wurden, konnte ich nicht feststellen. Wie das Interview ergibt, müssen sie schon vor dem 10. Oktober geschehen sein; denn als an diesem Tag um 15.03 Uhr die Bomben fielen, war Marianne H. schon bei der Oma.
 
 
 

2.3.3.3 Weihnachten 1943

 
 
 
Erst ganz zum Schluss des Interviews spricht die eben genannte Marianne H. über ihre Erlebnisse zu Weihnachten 1943. Von der Evakuierung in Altenbeken aus war sie mit Mutter und Schwester zur Oma nach Münster zu Besuch gekommen. Als es Alarm gab, gingen sie in den Lothringer Bunker. [57]
"Der Alarm war zu Ende. Wir mussten den Bunker verlassen. Und da ist der Bunkerwart gekommen und hat uns vor die Tür gesetzt. Da haben wir gesagt, unsre Mami ist nicht da. Er hat uns trotzdem rausgesetzt. Ihr dürft aber nicht im Bunker bleiben. Da haben wir uns auf die Decke gesetzt, eine. Die andere Decke haben wir um uns rumgeschlungen. Und da haben wir da gesessen und geweint. Und dann kam der Blockwart .... Was macht ihr denn hier? Warum seid ihr nicht in der Wohnung ...? Ja, unsre Mami, die ist weggeholt worden vom Roten Kreuz. Und wir wissen ja nicht wohin. Oma ist ausgebombt. Und wir wohnen in Altenbeken, ... nicht in Münster. Hat der uns durch ne Hintertür wieder in den Bunker reingeführt, hat in der Rotkreuzzelle Bescheid gesagt, hier sind noch zwei Kinder. Ich leg se nebenan auf ne Bank. Und da hat der uns noch zugedeckt und hat noch ne Decke ausem Rotkreuzhaus dazugeholt. Und hat uns da dann schlafen gelegt, ist bei uns geblieben, bis wir eingeschlafen sind. ... Unsre Mutter ... hatte nen Nervenzusammenbruch im Bunker. Die hatten die in die Rotkreuzzelle getan. Hat sich aber keiner um uns gekümmert. [...] Da war Hochbetrieb im Bunker. Da waren keine Betten, nix mehr. Da waren nur noch ein paar Bänke. Und die Meisten standen. Das war Weihnachten. Der Tannenbaum war an. Der ... Rundfunk war an, wie die Berichte kamen, bis der Abzug war. ... Unsre Mutter hat sich dann wieder erholt. Die konnte mit uns aus dem Bunker wieder raus. Am andern Morgen haben die uns sogar noch Frühstück gemacht."
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Münster: Bei einem Bombenalarm strömen Menschen in den Lotharinger-Bunker, März 1944


Zeitzeugin Marianne H., geb. 1936, über Weihnachten 1943 (Interview am 12.03.2010, Ausschnit 2:44 min, 2,5 MB, MPEG)




 
 
 

3. Evakuierte im II. Weltkrieg und in
der Nachkriegszeit

 
 
 

3.1 Evakuierte allgemein

 
 
 

3.1.1 Der Begriff

 
 
 
In dem Begriff Evakuierte [58] oder Evakuierung steckt das aus dem Lateinischen stammende Wort "Vakuum", Leere. Es geht also bei einer Evakuierung um eine Entleerung. Evakuierte sind Menschen, die durch die Entleerung eines Gebäudes oder eines größeren Bereiches an einen anderen Ort kommen. [59] Bei der Räumung eines abgebrannten Hauses werden die Bewohner bei Bekannten oder Verwandten untergebracht. Bei der Räumung ganzer Landstriche, etwa bei einer Überschwemmung, finden Menschen in höher gelegenen Gebieten in Notunterkünften ihre vorübergehende Zuflucht. Nach Beseitigung der Schäden können sie wieder zurückkehren.

Im zweiten Weltkrieg ging es um die Räumung von luftkriegsgefährdeten oder bereits bombardierten Städten. Die Ausgebombten oder von Bombardierung Bedrohten wurden in ländliche, weniger gefährdete und zerstörte Gebiete verlegt. Spätestens nach Kriegsende sollten sie wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. Kritisch merkt Katja Klee dazu an:
"Es ging nicht um den Schutz der Bevölkerung, sondern darum, die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten." [60]

Dabei wurde offiziell nicht von Evakuierung gesprochen. Es hieß "Umquartierung" oder auch "Verschickung" ("Kinderlandverschickung"). [61] Der Begriff "Evakuieren" wurde von den Nationalsozialisten in sein Gegenteil verkehrt. Aus dem Weg der Rettung aus einer Gefahrensituation mit dem Ziel der Rückkehr wurde der unumkehrbare Weg in den Tod. Seit der Wannseekonferenz vom 20.01.1942 wurde die "Formel 'Evakuierung in den Osten'" verwendet, "wenn von Vernichtung [der Juden A.H.] die Rede sein sollte." [62] In seiner berühmten Posener Rede vom Oktober 1943 setzte Heinrich Himmler die "'Judenevakuierung'" mit der "'Ausrottung des jüdischen Volkes'" gleich. [63] Ebenso wurden seelisch oder geistig Kranke aus den von ihnen bewohnten Anstalten "evakuiert" und anschließend getötet. [64]
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Münster: Verpflegungsstelle auf der Neubrückenstraße
 
 
Erst nach dem Krieg wurde offiziell von Evakuierten gesprochen. Nach langer, mühsamer Arbeit verabschiedete der Bundestag am 14.07.1953 das Bundesevakuiertengesetz. Dort wird in § 1 definiert, wer Evakuierter ist. [65] Dabei kommt der Begriff von Binnen- und Außenevakuierten auf. [66] Binnenevakuierte sind Menschen, die innerhalb eines Bundeslandes geblieben sind. Außenevakuierte kamen in ein anderes Bundesland. Bisweilen ist auch von Nah- oder Fernevakuierten die Rede. Die von mir genannten Zeitzeugen gehören überwiegend zu den Binnen- oder Nahevakuierten. Sie hielten sich im Umland von Münster auf.
 
 
 

3.1.2 Zahlen, Evakuierungsgründe, Erlasse

 
 
 
In der Literatur werden unterschiedliche Zahlen über Evakuierte genannt. Das hat seinen Grund darin, dass infolge des Kriegschaos keine genauen Zahlen erhoben werden konnten. Ich stimme Michael Krause zu:
"Die genaue Zahl der im Zweiten Weltkrieg aus den bombenbedrohten Städten evakuierten Menschen kann nicht bestimmt werden." [67]

Er schätzt die Zahl auf "etwa zehn Millionen". Wie begrenzt solche Schätzungen sind, zeigt sich bei Hans-Ulrich Wehler. Er nennt Zahlen von fünf Millionen oder auch 8,944 Millionen. [68]

Evakuierte mussten infolge des Bombenkrieges ihre Wohnungen und meistens auch ihre Heimatstadt verlassen. Häufig war der Grund dafür, dass die Wohnung durch einen Bombentreffer oder einen Brand zerstört war. Nicht selten kam es aber auch vor, dass Menschen in Erwartung der Eskalation des Bombenkriegs vorsorglich evakuiert wurden. Evakuiert wurden aber nur Menschen, die nicht aus kriegswichtigen Gründen in ihrer jeweiligen Stadt oder deren nächster Umgebung bleiben mussten. Deshalb wurden Mütter mit Kindern, noch nicht einsatztaugliche Jugendliche und alte und kranke Menschen evakuiert. Sie fanden Unterkunft bei Verwandten, Freunden oder in behördlich zugewiesenen Quartieren. Dabei benannten staatliche Erlasse Gaue für die Entsendung und meistens andere Gaue für die Aufnahme von Evakuierten. [69] Diese Umquartierung vom "Entsendegau" zum "Aufnahmegau" konnte nicht konsequent verwirklicht werden, weil im Verlaufe des Krieges zunehmend Transportprobleme entstanden, manche Menschen auf eigene Faust sich Quartiere suchten ("wilde Evakuierung") oder Verwandte und Freunde nicht im vorgesehenen Aufnahmegau wohnten. Dazu kam gegen Kriegsende ein immer mehr um sich greifendes Chaos, so dass "von einer reichseinheitlichen Evakuierungspolitik ... keine Rede mehr sein" konnte, wenn es eine solche jemals gegeben hat. [70]
 
 
 

3.1.3 Zur Situation von Evakuierten

 
 
 
Der Bauer August N... "erscheint" am 27.07.1946 in der Amtsverwaltung Telgte und "erklärt:
Seit einigen Wochen habe ich auf Anordnung des Wohnungsamtes die Evakuierte Margarete F... in mein Wohnhaus aufgenommen. Dieselbe bewohnt mit 2 Kindern bei mir 1 Zimmer. Es ist richtigt [sic!], dass Frau F... von der Haustür keinen Schlüssel besitzt. Es ist mehrere Male vorgekommen, dass wir nachmittags zum Feld gingen und sie dann nicht ins Haus konnte. Dieser Zustand soll dadurch beseitigt werden, dass ich sofort veranlassen werden [sic!], dass Frau F... einen Schlüssel von der Haustür erhält. Frau F... ist dann in der Lage, ein- u. auszugehen aus dem Hause, wann es ihr gefällt. Ich muss es ihr jedoch zur Pflicht machen, dass sie keine fremden Leute ins Haus lässt. Bei der allgemeinen Unsicherheit kann ich dieses keinesfalls gestatten." [71]

Unter dieser Notiz ist mit Datum vom 22.08.1946 zu lesen:
"Frau F... ist jetzt im Besitz eines Hausschlüssels und kann im Hause N... ein- und ausgehen."

Dazu vermerkt der Amtsdirektor: "Z.d.Akten ".

In dieser Notiz aus dem Amt Telgte wird die Situation von Evakuierten schlaglichtartig deutlich. Der Schlüssel ist weit mehr als ein alltäglicher Gegenstand. Er hat auch eine hohe symbolische Bedeutung. [72] Es geht letztlich um die Freiheit von Frau F. Kann sie gehen und kommen, wann sie will oder ist sie abhängig von der Anwesenheit des Bauern im Haus? Kann sie selbst die Tür aufschließen oder muss sie warten, bis der Bauer vom Feld zurückkommt? Diese Notiz wirft darüber hinaus die Frage auf: Wie kam man überhaupt miteinander aus? Es war nicht nur für die Evakuierten eine schwierige Situation. Es gab zwischen Einheimischen und Evakuierten vielfältige Spannungen. [73]
 
 
 

3.1.4 Evakuierte in der Nachkriegszeit

 
 
 
Die Evakuierung ist mit dem Kriegsende nicht beendet. Viele Evakuierte mussten noch jahrelang an ihrem Evakuierungsort bleiben oder sich sogar noch einen neuen Ort suchen. Manchmal kam es sogar zu neuen Evakuierungen. [74] Trotzdem standen die Evakuierten eher am Rande des öffentlichen Interesses. Sie hatten im Nachkriegsdeutschland eine starke Konkurrenz. Außer ihnen suchten noch Millionen von Vertriebenen ebenso wie Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone Unterkunft und Arbeit. Im Gegensatz zu den Vertriebenen gelang es den Evakuierten nicht, eine durchsetzungsfähige Vertretung gegenüber dem Staat und der Öffentlichkeit aufzubauen. So ist es kein Wunder, dass das Bundesevakuiertengesetz als letztes der Kriegsfolgegesetze verabschiedet wurde. [75] Insgesamt waren die Evakuierten "vom Schicksal womöglich gleich mehrfach geschlagen; denn auch nach der NS-Zeit kam wieder eine Bürokratie an die Macht, die besonders mit Evakuierten nachgerade widersinnig umsprang." [76]

Erst allmählich kehrten die Evakuierten als "Vertriebene innerhalb des Bundesgebiets" in ihre Heimatstädte zurück. [77] Doch nicht alle Evakuierten fanden den Weg zurück. Katja Klee stellt am Schluss ihrer Arbeit fest:
"Diese letzten Evakuierten, von denen nicht wenige ein kümmerliches Dasein im ungeliebten Exil fristen mußten, bildeten eine Schicksalsgemeinschaft mit den Flüchtlingen und Vertriebenen, deren Integration bis Anfang der sechziger Jahre ebenfalls noch nicht gelungen war. Sie waren gleichsam das Strandgut der größten Bevölkerungsverschiebungen, die das Deutschland der Neuzeit gesehen hatte. Sie waren Heimatlose in der Heimat und blieben es nur allzu oft bis an ihr Lebensende." [78]

Offen bleiben muss dabei die Frage, wie viele Kinder und Jugendliche zu dieser "Schicksalsgemeinschaft" gehörten.
 
 
 

3.2 Evakuierte aus Münster

 
 
 
Bei den Bombenangriffen vom 06. bis 10.07.1941 kam es zu ersten, wenn auch nur sehr kurzen Evakuierungen. Karl Friedrich Kolbow schreibt in seinem Tagebuch:
"Nicht zu Tausenden, zu Zehntausenden ergoß sich an diesem und den beiden folgenden strahlenden Sommerabenden der Flüchtlingsstrom der Münsteraner aus der Stadt heraus.“ Diese Menschen fuhren "10-20km weit hinaus ins Münsterland und legten sich dort im Felde oder im Walde bei Mutter Grün schlafen, um nach Beendigung des Alarms - also gegen 3 Uhr morgens - ... zurückzukehren.“ [79]
"Ein besonders beschämendes Kapitel im Zusammenhang mit der Stellung von Ersatzwohnraum war die Beschlagnahme und Nutzung des Eigentums der jüdischen Mitbürger. Es war üblich, den Bombengeschädigten die Wohnungen der vertriebenen bzw. deportierten Juden zuzuweisen." [80]

Wer bei diesen Bombenangriffen Haus oder Wohnung verloren hatte, wurde möglichst in Münster selbst oder in der unmittelbaren Umgebung untergebracht. [81] Das geschah in unterbelegten Häusern oder durch den Aufbau von Behelfsheimen, Marke "Reichseinheitstyp".

Mit der Eskalation des Bombenkriegs reichte diese Art der Unterbringung nicht mehr aus, zumal auch immer mehr der Ersatzwohnraum selbst zerstört wurde. Deshalb wurde es nötig, Menschen zu evakuieren. Das geschah auf der Grundlage der reichsweiten Planung von Entsende- und Aufnahmegauen. Für Evakuierte aus dem Gau Westfalen-Nord mit seiner Gauhauptstadt Münster waren Aufnahmegaue München-Oberbayern, der "Reichsgau" Salzburg und Westfalen-Nord selbst, also vor allem das weitere Umland von Münster. [82] Kinder und Jugendliche wurden aber auch in andere nicht luftkriegsgefährdete Teile des Deutschen Reiches und darüber hinaus, z. B. nach Ungarn, verschickt. [83] Im Stadtmuseum Münster ist der Totenzettel von Hans Werner Pesenacker vom Paulinum zu sehen, auf dem es heißt:
"Infolge der Schulschließungen in Münster wurde er mit seiner jüngeren Schwester nach Ullersdorf a. Bieler, Kreis Glatz, evakuiert. Er fand hier bei den Schwestern des hl. Franziskus liebevolle Aufnahme".

Nachdem er am 16.02.1946 "durch zwei Kugeln schwer verletzt" wurde, starb er einen Tag später. Dazu heißt es noch:
"Mit jedem Tag auf seine Rückkehr wartend, erhielten wir die Todesnachricht." [84]

"Ab zweiter Hälfte 1940 begann die Verschickung von münsterischen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren in weniger bombengefährdete Regionen in Oberbayern." [85]

Dazu kam die Evakuierung von Müttern mit ihren jüngeren Kindern, durchgeführt von der NSV (NS-Volkswohlfahrt). Im Rahmen der KLV verließ der erste Transport Münster am 15.06.1941. Zwei Monate später wurden "mit einem großen Sonderzug rund 1000 Kinder nach Bayern befördert." [86] Diese Verschickungen dauerten nur einige Monate. So fuhren 135 Jungen von drei münsterischen Oberschulen am 04.07.1941 in das KLV-Lager in der Jugendherberge Rüdesheim. Nach einem lustigen Abschiedsabend mit ihren Pflegemüttern, die sie am Wochenende mit Kaffee und Kuchen versorgten hatten, und nachdem sich der Lagerleiter, Studienrat Eickhoff, in das Goldene Buch der Stadt Rüdesheim eingetragen hatte, kehrten sie "wohlbehalten" am 28.11.1941 nach Münster zurück. [87]

Unter dem Eindruck der "Battle of the Ruhr", bei der zwischen März und Juli 1943 "fast sämtliche Städte des Ruhrgebiets schwer zerstört [wurden A.H.] und über 25.000 Menschen ... ihr Leben" verloren, kam es Mitte des Jahres 1943 auch in Münster verstärkt zu Evakuierungen. [88] Münster zählte zu den "Luftschutzorten I. Ordnung" und galt deshalb als besonders luftkriegsgefährdet. [89] Dazu heißt es 1944 in der Kriegschronik des Stadtarchivs:
"Ein großer Teil der Bevölkerung Münsters verließ aus Furcht vor den Bomben oder weil sie bereits ausgebombt waren, im Laufe des Krieges die Stadt, soweit sie nicht aus beruflichen Gründen bleiben mussten." [90]

Eine besondere Rolle bei der Evakuierung im Sommer 1943 und danach spielte die Verschickung der münsterschen Schulen vor allem nach Oberbayern. Dort blieben die Kinder aber meistens bis Kriegsende. Gegen die KLV gab es auch in Münster erheblichen Widerstand. [91] Im Hinblick auf die religiöse Erziehung in den KLV-Lagern äußerte der Bischof von Münster, Graf Galen, öffentlich schwere Bedenken. Eine Reihe von Eltern ließ auch deshalb ihre Kinder bei der KLV nicht mitfahren oder holte sie sogar wieder zurück. [92] Viele Eltern befürchteten ein Auseinanderleben der Familie oder die Indoktrination durch HJ oder BdM in den KLV-Lagern. [93] Auch die chaotischen Verhältnisse in manchen Lagern, die natürlich nicht geheim gehalten werden konnten, spielten eine Rolle. Die für die Organisation der Lager zuständige HJ war ihren Aufgaben längst nicht immer gewachsen. [94]

Wegen der zurückhaltenden Beteiligung an der KLV stellte der NSDAP-Kreisleiter des Kreises Münster - Warendorf, Ernst Mierig, Anfang Januar 1944 in einem Aufruf an die Mütter, die ihre Kinder bei sich behalten wollten, die geradezu infame Frage:
"Könnt Ihr verantworten, wenn Ihr eines Tages an den Gräbern Eurer Kinder stehen müßt?"

Er fügte hinzu:
"Es muß damit gerechnet werden, daß in nächster Zeit für alle Mütter mit Kindern ... der Aufenthalt im Bunker verboten wird."

Die knappen Bunkerplätze stünden nur noch der arbeitenden Bevölkerung zur Verfügung. [95] Obwohl in den Aufnahmegauen im Süden angeblich noch genügend Plätze zur Verfügung standen, zog es weite Teile der Bevölkerung nicht dorthin. Viele der Evakuierten blieben - auch von den von mir angeführten Zeitzeugen - lieber in der Nähe von Münster. Förderlich dafür war "die traditionell enge Verbindung der Stadt mit der umliegenden Region." [96] Von dort aus versuchten Eltern, die ihre Kinder nicht mit zur KLV geschickt hatten, den Schulbesuch ihrer Kinder zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist das Augustinum in Greven. Doch dort mussten aus Platzmangel etliche Kinder abgewiesen werden; denn "der Drang zur Grevener Oberschule als einer der wenigen noch erreichbaren Schulen nahm ... 1943 enorm zu." [97]
 
 
 

3.3 Zeitzeugenerinnerungen

 
 
 

3.3.1 Vorbemerkungen

 
 
 
Die Erinnerungen der von mir befragten Zeitzeugen an die Zeit ihrer Evakuierung unterscheiden sich sehr voneinander. Während sich die Erzählungen über den Bombenkrieg auf einen Ort, eine recht kurze Zeitspanne und auf ein Thema, die Bombardierung, beschränken, ist das bei der Evakuierung anders. Es gibt unterschiedliche Orte, meistens im Umfeld von Münster, aber auch in Bayern. [98] Die Zeitspanne, über die die Zeitzeugen berichten, ist mit 14 Jahren mehr als dreimal so lang wie die des Bombenkrieges. Sie beginnt mit der Evakuierung von Hermann M. im Juli 1940 und endet mit der Rückkehr von Gilla P. nach Münster 1954. [99] Dazu kommen viele Unterschiede beim Weg in die Evakuierung und wieder zurück, bei den Unterkünften und bei der Aufnahme am fremden Ort. Die Themen, die die Zeitzeugen behandeln, haben eine große Breite. Das geht vom Organisieren von Lebensmitteln in Rüthen bis hin zur Suche nach einer Unterkunft für eine Jugendgruppe im zerstörten Clemenshospital in Münster. Außerdem gibt es eine unterschiedliche Gewichtung der Themen: Der einen ist dies wichtig, einem anderen etwas ganz anderes. Diese Fülle von Erinnerungen in eine stringente Ordnung zu bringen, erscheint mir unmöglich. Dabei kann auch das Kriegsende kein Ordnungsmerkmal sein, da es im Hinblick auf die Evakuierung eine untergeordnete Rolle spielt. Ich kann also nur eine lockere Gliederung vornehmen. Dabei ist mir wichtig, die Erinnerungen der einzelnen Zeitzeugen mehr in ihrem inneren Zusammenhang zu sehen als sie völlig auseinander zu reißen und streng thematisch zu ordnen.
 
 
 

3.3.2 Wege in die Evakuierung

 
 
 

3.3.2.1 Grund und Zeitpunkt der Evakuierung

 
 
 
Der Grund für die Evakuierung liegt auf der Hand: Die Gefahr für Leib und Leben nimmt durch die Eskalation des Bombenkriegs immer mehr zu. Das wird besonders deutlich in den Erinnerungen von Martin H. Weil sein Vater bei der Eisenbahnflak war, fuhr er viel umher; deshalb wusste er gut Bescheid über den Kriegsverlauf. So schlug er seiner Frau am 12.06.1943 im Brief vor, Münster zu verlassen und "in den Kreis Warendorf oder nach Schlesien" umzuziehen.
"Und die Begründung war eben, dass ab Juni 43 verstärkt Fliegerangriffe auf den innerstädtischen Bereich waren, also Bahnhof, Wasserturm, Südstraße. Sie kamen unserer Wohnung immer näher."

Martin H. legt Wert auf die Feststellung:
"Es war keine behördliche Evakuierung, sondern ein freiwilliger Umzug."

Dieser führte im Juli 1943 aber nicht in den Kreis Warendorf oder gar nach Schlesien, sondern " zu den Großeltern mütterlicherseits in Mecklenbeck am Bahnhof." Doch leider "ging es allmählich dort auch los." So zog die Familie nach Greffen. [100] Dafür gab es einen interessanten Grund: Der Großvater väterlicherseits war als Lehrer im November 1943 nach Greffen evakuiert worden, "weil die Münsteraner zogen ja viel weg, da mussten die Lehrer hinterher ziehen." Bei der Wohnungssuche kam ihm sein Beruf zu Hilfe; denn
"der Lehrer hatte eine gewisse Anerkennung, der konnte dann vielleicht auch einmal gut reden und so, da zogen wir tatsächlich Mitte August 44 nach Greffen. Das war das Haus, ich kenn's noch, ... so vielleicht 1 1/2 km aus dem Dorf raus, ne Oberwohnung, und da war eine Frau auch allein mit ihren beiden Kindern, der Mann war auch im Feld, die war ganz froh, dass jemand kam".

Beim Zeitpunkt der Evakuierung gab es zwei Möglichkeiten: Anordnung oder freie Wahl. Anneliese J. musste zur KLV. Eine Anordnung steckte auch hinter dem Bericht von Gilla P.:
"Und dann hieß es, dass alle Kinder aus Münster raus müssten. Also wir mussten abreisen ... Ich weiß wohl, dass wir immer durchs Fenster geguckt haben: Da gehen schon ganz viele zum Bahnhof."

Wann das genau war, hat sie vergessen.

Wählen dagegen konnte die Mutter von Hermann M. Sie sagte nämlich schon nach dem Brand am 02.07.1940 bei Ostermann und Scheiwe (siehe 2.3.3.1):
"Also das machen wir nicht mehr weiter mit; denn wir haben nur paar hundert Meter von der Schadenstelle gewohnt und das war also mehr als lebensgefährlich. Ja, und meine Mutter stammt aus dem Sauerland, da ist sie geboren und hat auch noch gute Kontakte dorthin. Dann haben wir am nächsten Tag unsere Utensilien gepackt ... haben uns dann dort untergebracht bei Verwandten."

Bei der Wahl des Zeitpunktes spielte also nicht nur die Gefahreneinschätzung eine Rolle, sondern auch, ob es möglich war, eine Unterkunft für die Evakuierung zu finden.

Einen ungewöhnlichen Grund für die Evakuierung gab es bei Marianne H. Sie war zusammen mit ihrer zehn Monate älteren, nicht leiblichen Schwester ein Pflegekind. Damit galt die Pflegemutter aber in der NS-Zeit als kinderlos. [101] Das hatte zur Folge, dass die Mutter arbeiten musste. Sie putzte im Generalkommando und arbeitete später, als die Kinder weg waren, als NSV-Schwester. Marianne H. kam also nicht wegen des Bombenkriegs bereits 1941 zur KLV (weiteres dazu siehe 3.3.6.1).
 
 
 

3.3.2.2 Kurze Wege

 
 
 
Einen guten Weg in die Evakuierung konnte Bernhardine C. zurücklegen, die nach dem Angriff Pfingsten 1943 zusammen mit ihrer Oma und zwei Geschwistern nach Marienfeld kam: [102]
"Und dann Pfingstmontag - wie das organisiert wurde, weiß ich nicht - wurden wir mit sonem schwarzen Mercedes nach Warendorf gebracht. Und von da aus nach Marienfeld."

Dort kam sie zum Ortsgruppenleiter
"und der sagte: Ich gehe mal mit gutem Beispiel voran. Wir waren nämlich die ersten Evakuierten ... Ich nehme die. [...] Aber eine Oma mit drei Kindern ist mir zu viel. Und da hat er seinen Vetter angerufen."

Der Vetter kam. Noch immer mit Stolz in der Stimme berichtet sie, was weiter geschah:
"Überlegen Se mal, mit sechs Jahren, Junge, Junge und nahm mich an die Hand. Und ich ging mit. Meinen Sie, ich hätte mich an den Rockzipfel meiner Mutter gehängt und gesagt: (mit verstellter weinerlicher Stimme:) Ich will nicht. Nein. Ich geh mit, das muss man sich mal vorstellen. Geht son kleines Mädchen von sechs Jahren einfach mit nem fremden Mann mit. [...] Und dann haben se mich angestaunt. Dann an der Mühle entlang und da war ein Ameisenpättken. [103] So etwas hatte ich noch nie gesehen und war darüber erstaunt. Dann haben die alle gelacht, darüber dass man kein Ameisenpättken kennt. Ja, und nächsten Morgen ... ging ich dann da in die Schule."

Dass Bernhardine C. ausgelacht wurde, weil sie sich als Stadtkind nicht im Landleben auskannte, hatte keine weiteren Folgen. Bernhardine C. integrierte sich sehr gut in Marienfeld.

Martin H. konnte bei seiner Evakuierung nicht in einem schwarzen Mercedes fahren. Das ging schon deshalb nicht, weil die ganze Familie mit viel Gepäck umzog. Ein größeres Fahrzeug musste also her. Martin H. entnimmt den Briefen seiner Eltern, wie das möglich war.
"Da gab's so Fahrbereitschaften .... vom Militär ... Das waren Feinheiten, die der Normalbürger nicht so mitkriegte, dass er einen Wagen kriegte, da wurde hier gefragt und da gefragt, die Kaserne ... auf der Weißenburgstraße, das waren so Einheiten, die gegen eine geringe Bezahlung das machten, die machten da ne Fahrschule ... Und damals war das gegen eine geringe Gebühr, konnten diese Evakuierungsfahrten gemacht werden. Und die Bahn machte so was auch, weil die ... Lieferfahrzeuge hatten."

Es zeigt sich nicht nur an dieser Stelle, wie wichtig es war, die entsprechenden Informationen zu besitzen. Vermutlich war auch dabei der Vater behilflich, der sich ja gut auskannte.
 
 
 

3.3.2.3 Weite Wege

 
 
 
Zwei meiner Zeitzeugen sind nicht auf direktem Weg an den Evakuierungsort gekommen, von dem aus sie nach Münster zurückkehren konnten. Sie nahmen eine weiten Umweg über Bayern. Die Brüder Karl und Heinz L. waren zunächst bei Verwandten in Milte bei Warendorf untergebracht. Von dort fuhren sie im Frühjahr 1944 mit Mutter und Geschwistern ins Allgäu. Dieser Umzug hatte vermutlich damit zu tun, dass der Vater dort eine schlecht heilende Wunde auskurieren musste.
"Ich kann mich erinnern, wir sind auf diesen Hof gekommen und die ganze Familie saß an einem langen Tisch. In der Mitte standen Bratkartoffeln. Und jeder kriegte ne Gabel und da rein. Und ich weiß noch, unsere Mutter hat gesagt: mach mal, das machen die alle hier. Das war für ein Kind ganz was Neues."

Obwohl sie es bei dem netten Bauern, an dessen Namen sie sich noch erinnern können, gut hatten, fuhr die Familie im Oktober 1945 zusammen mit dem wieder genesenen Vater zurück. Doch weil es für Münster eine Zuzugssperre gab, landeten sie in Telgte. Die Brüder erinnern sich lebhaft an die Reise:
"Da sind wir in einen Viehwaggon gekommen. (Der andere Bruder: Ich möchte manchmal nicht wissen, was da vorher drin war.) Ein Viehwaggon, auf der einen Hälfte waren wir mit unsrer Familie ... Und auf der anderen Seite war ne andere Familie. So ging der Zug Richtung Norden. Und ich kann mich erinnern. Erstens war auf diesen Bahnhöfen, immer diese Lichter, so ganz schwach immer. Und man hörte ja immer nur dieses Klackern der Schienen und immer diese Leitungen, diese Telefondrähte, immer rauf, runter. (Bruder: wie in Amerika.) [...] Ich kann mich nur erinnern, dass dann immer unsere Eltern zwischendurch, wenn Pause war, mit den andern Familien, da wurde ein Topf hingestellt, dann hamse draußen ein Feuerchen gemacht. Da wurde gekocht für alle. Und wehe der Zug fuhr an, da ging das Rennen immer los. Da sind wir los, Kinder reingeholt." [104]

Am Ende der Fahrt, bei der sie in Köln zum ersten Mal eine Ruine sahen, kamen sie nach Telgte.
"Da hält dieser Zug nach acht Tagen Fahrt, zehn Tagen auf dem Bahnhof. Ich weiß noch, unsere Mutter sagte: guck mal drüben, da sitzen zwei Kinder. Da saß son Junge mit som Jägerhütchen und ein Mädchen. Guck mal, das sind M... und H... vom Bullenkopp [Lokal in Münster A.H.]. Da war das meine [spätere A.H.] Frau, mein Schwager. Die waren in Telgte beim Bauern evakuiert ... Die saßen per Zufall am Bahnhof. Ob die nun zurückfahren wollten oder nicht. Da hab ich meine Frau das erste Mal gesehen."

Für ein paar Tage kamen sie im Hotel K... unter.
"Jahre später hat die Frau K... gesagt: Ich muss Ihnen doch mal sagen, ich hab früher und später, nie wieder Kinder gesehen, die so schmutzig waren wie Sie."

Da es für Münster auch weiterhin keine Zuzugsgenehmigung gab, suchte der Vater in Telgte nach einer Unterkunft.
"Und zwar war das folgendermaßen: unser Vater hatte einen Schulkameraden, Heinz W...[...]. Und der Heinz W... hat gesagt zu meinem Vater: Du dahinten ist ne Wohnung frei. Da ist ein Behelfsheim, das gehört dem Architekten F... aus Münster ... Da geh du mal hin. Die Wohnung steht leer. Der ist wieder nach Münster gegangen. Unser Vater ist da einfach eingerückt (lacht) mit den paar Möbeln, die er dann hatte. Und ist da rein in dieses Behelfsheim. [...] Der ist also mit uns da reinmarschiert. Und dann sollt er wieder raus. Und da hat er gesagt (betont): Ihr kriegt mich hier nicht mehr raus. Familie saß fest."

Auch Gilla P. fuhr ebenfalls zunächst nach Bayern zusammen mit ihrer Mutter und deren Freundin mit ihren Kindern.
"Also wir waren da schon n bisschen Familie." Das empfindet sie noch heute als "Privileg. Viele sind ja mit ... ganzen Klassen da hingekommen. Ich erinnere mich noch, wie die über die Straßen zogen und gesungen haben: (singt) Wir sind immer noch westfälische Jungen; Junge, da kannste dich drupp verloaten, loaten, loaten. Und wie die Bayern gerufen haben: Saupreißn." [105]

Anfang 1946 fährt die Mutter mit Gilla P. zurück nach Münster, "um zu gucken, wie es in Münster aussieht." Bevor Gilla P. im Interview auf das Ergebnis der Besichtigung in Münster eingeht, schildert sie ausführlich die Erlebnisse auf der Fahrt.
"Ich erinnere mich, dass wir oben auf Kohlenwagen in Decken eingewickelt gelegen haben. Wenn wir mussten, haben uns unsre Mütter über die Wagen gehalten, zum Pipimachen."

Auf der Fahrt kamen sie auch durch Frankfurt.
"Da fingen die Leute [auf dem Güterzug A.H.] an zu schimpfen ...: (laut) Pfui, Nutte und Hure und so. Ich weiß das noch. Ich wusste nicht, was das war. Ich hab gesehen, dass da Schwarze mit weißen Frauen und Kinderwagen hergingen. Und später hab ich gedacht, wie können diese elenden Gestalten auf den Güterzügen noch sone Kraft haben, um da so zu schimpfen. [...] Das war richtig hasserfüllt."

Nach einer Reise von "mindestens sechs Wochen" müssen sie in Münster feststellen, dass sie ausgebombt sind. Doch die Großeltern haben ein Bootshaus in Stapelskotten an der Werse. [106]
"Sind wir dann am Bootshaus angekommen. Und das war voll, voll von sämtlichen Verwandten, von Muttis Geschwistern und so. [...] Das waren alles Dreifachbetten. Ich musste ganz oben schlafen. Da konnte ich nur mich reinrollen. Also da konnt ich nicht mal drin sitzen .... Da lag noch irgendjemand neben mir."

Wegen der schrecklichen Enge in dem Bootshaus und wohl auch wegen eines "fiesen Opas" dort suchte die Familie nach einer neuen Unterkunft.
"Dann ging ein Aufruf, dass man sich sammeln konnte in Angelmodde. Da wurden Wohnungen verteilt. [...] Da kamen auch viele mit Lastwagen da an, die alle ausgeladen wurden. Und dann hieß es - und das sag ich ganz offen - ja, alle warten. Die Flüchtlinge kommen zuerst. Dann durften die erst die Wohnungen kriegen. Dann mussten wir warten." [107]

Im Interview wird deutlich, dass Gilla P. noch heute verärgert ist, dass bei dieser Wohnungsverteilung die Flüchtlinge den Evakuierten vorgezogen wurden, obwohl sie als Ausgebombte auch mit leeren Händen dastanden. Sie fährt fort:
"Wir sind dann nach H ... Die hatten einen ehemaligen Kuhstall ... umgebaut mit Pappwänden ... Da haben die dann Räume geschaffen. Da wurden wir dann untergebracht."

Gilla P. erinnert sich, dass die "Hausherrin" alle sechs oder sieben Familien in diesem Kuhstall sehr anständig behandelt hat. Jede Familie bekam eine Ziege, die sie melken durfte. Auch sonst hat sie versucht zu helfen, wo sie nur konnte.
"Also ich kann nur sagen, und es waren mehrere Bauern im Dorf, die wirklich versucht haben zu helfen."
 
 
 

3.3.3 Die Evakuierten an ihrem neuen Ort

 
 
 

3.3.3.1 Die Unterkunft

 
 
 
Nach einem "Umweg" über Bayern sind Heinz und Karl L. im August 1945 mit der ganzen Familie in der Bauernschaft Schwienhorst im Kirchspiel Telgte gelandet. [108] Sie gehörten damit zu den 584 Evakuierten, die 1945 im Kirchspiel Telgte registriert wurden. [109] In einem, wie sie sagen, "Behelfsheim" fanden sie Unterkunft. [110]
"Das hatte einen Steinkeller, oben drauf waren zwei Etagen. ... (Bruder: Schönes Häuschen). Holzhaus ... Es war drin Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, ein Klöchen und eine winzige Küche. [...] Wir hatten kein fließend Wasser und keinen Strom. Es gab nur eine Pumpe von einem Brunnen. [...] Vater hat dann immer Karbidlampen aufbereitet. Die wurden immer draußen hingestellt, weil man ja nicht wusste, ob die explodieren. Die brachten ja ein schönes ... Licht. [ ...] Wir wohnten in diesem Haus unten. Und oben wohnte noch eine Frau mit ihrer Tochter. Der Mann war in der Kriegsgefangenschaft, der ... kam dann 46 wieder. [111] Und dann haben die beiden Männer immer organisiert." [112]

Mit verschmitztem Lächeln berichten die Brüder, wie der Vater und sein Kompagnon ein 400m langes Stromkabel organisiert haben, das als provisorische Leitung neben der Bahnstrecke Münster - Warendorf lag. Dieses Kabel legten sie, nachdem etwas Gras über die Sache gewachsen war, zum nächsten Bauern.
"Der hat gesagt: Mach man. Und dann hatten die irgendwann elektrisches Licht."

Leider wurde das geklaute Kabel auch wieder geklaut.
"Also Vater musste wieder organisieren." Als das erfolgreich erledigt war, "kam die VEW. Und die haben ... gesagt: das ist aber verboten mit dem Kabel hier. [...] Und dann ... sind die [VEW-Leute A.H.] zu dem Bauern hingegangen ... und haben gesagt, das ist aber hier nicht zulässig, das ist ja nicht richtig verlegt. ... Das ist ja viel zu gefährlich. Und haben das dann immer ... abgeklemmt. Und sobald die weg waren, hat er [der Bauer A.H.] wieder angemacht und hat gesagt: Diese Familie, die braucht doch Strom dahinten."

Diese Episode zeigt, dass das Organisieren allein nicht immer ausreichte. Es bedurfte auch der Unterstützung der einheimischen Bevölkerung. "Beziehungen" spielten für Evakuierte eine große Rolle.
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Das Telgter "Behelfsheim" früher ...


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und nach dem Umbau heute
 
 
Weniger lustig ging es für Rudolf M. zu. Er wohnte mit seiner Familie bei Verwandten in Südkirchen.
"Im Vergleich mit unserem Haus in Münster waren die Zimmer recht klein und bescheiden ... Die Unterbringung war mehr schlecht als recht, also gelinde gesagt miserabel. Meine Mutter und meine Schwester schliefen in einer Kammer in einem Bett ... Das Bett war ziemlich kurz und das Bettzeug immer klamm. In einer anderen Upkammer schlief ich bei meinem Vetter H...". [113]

Da Vetter H. noch nicht "trocken" war, stanken am Morgen und manches Mal trotz allen Lüftens auch am Abend "das Bettzeug und die Matratze erbärmlich."

Im Ganzen berichten die Zeitzeugen wenig über die Art der Unterkunft. Hermann M. weiß noch, dass sie als Familie in Rüthen "gut untergebracht" waren. Ich nehme an, dass es den Zeitzeugen weniger wichtig ist, ihre Unterkunft zu beschreiben. Vielleicht haben sie das Bild auch nicht mehr vor Augen oder sie wollen nicht mehr daran denken. Wichtiger als die Beschreibung der Unterkunft ist ihnen das, was sie in der neuen Umgebung des Evakuierungsortes erlebt haben.
 
 
 

3.3.3.2 Die Aufnahme der Evakuierten
und ihre Behandlung

 
 
 

3.3.3.2.1 Gute Erfahrungen

 
 
 
Die insgesamt schönste Erfahrung machte Bernhardine C. in Marienfeld.
"Die Tante D... hatte zwei Jungens, der älteste war schon im Krieg und der andere war auf der Handelsschule. Und die hat sich immer Mädchen gewünscht. Und plötzlich schneit ihr da so - ich muss eine ganz Süße gewesen sein - so ne kleine, unkomplizierte Bernhardine ins Haus. Ja, die hat mich wirklich sehr geliebt und mich verwöhnt ... Ich pflege ja noch heute ihr Grab. Darum bin ich ja noch öfter in Marienfeld. Ich habe ... Tante D... mehr geliebt als meine eigene Mutter." [114]

Doch diese Freude ist nicht ungetrübt; denn das Verhältnis zu dem Mann von Tante D. ist ganz anders. Sie nennt ihn auch nie "Onkel": Er ist ein "Despot", noch dazu "geizig". Er hält sie sogar zur Arbeit an:
"Jeden Samstag wurde der Hof im Fischgrätenmuster gefegt. Und dann wurde das zusammengefegt und da musste Bendine da stehen mit der Dreckschüppe und das auffegen und zum Mist bringen. Und wenn ich nicht schnell genug war, da rief er immer hinter mir her (laut): to, to, to, ei, löid, ei löid. Also das macht mich heut noch wütend. Ja. Oder ich musste nen ganz breiten Weg auf den Knien liegen und Unkraut zupfen."

Doch davon abgesehen:
"Also erstmal war ich da sehr angesehen: ... Bendine aus Münster, Bombenangriffe hinter sich, ihre Schwester war lungenkrank, also was ich alles aufzuweisen hatte für die damaligen Marienfelder. Die waren ganz weit hinterm Mond."

Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen stellt Bernhardine C. fest:
"War wunderschön, lieb ich ja heute noch mein Marienfeld. Und ja, ich war da sehr angesehen und heute noch, wenn ich komme: Mensch, Bendine."

So fährt sie, als sie längst wieder in Münster ist, sogar per Anhalter zu Schützenfesten und Tanzveranstaltungen nach Marienfeld.
"Ich war selbstbewusst, ich stellte was dar und wurde auch verehrt."

Es ist interessant, dass Bendine auch deshalb "verehrt" wurde, weil sie in dem sehr ländlichen Marienfeld ein Stück der großen Welt darstellte. Ich halte es für möglich, dass nicht erst die Vertriebenen den verschlafenen Orten im Münsterland Neues brachten, sondern auch schon Evakuierte.

Freundliche Aufnahme und eine schöne Beschäftigung fand Ernst-Theo G. auf einem Bauernhof nahe bei Bad Laer am Teutoburger Wald. Seine Mutter schrieb im Sommer 1943 an ihren Mann:
"Mit seiner Tante P. [die Bäuerin A.H.] schafft er unermüdlich, gestern stelzte er in Holzschuhen und wünscht sich auch welche, den bescheidenen Wunsch werde ich ihm bald erfüllen ... Kannst du dir den Ernst-Theo vorstellen mit einer Kuh am Strick? Wenn K... die Kühe hütet, geht er prompt mit und jeder hält eine Kuh. Dieser Tage hörte ich von vorübergehenden Kurgästen: 'Sieh mal den kleinen Jungen, der muss schon Kühe hüten'. Der Bursche hat sich erstaunlich schnell akklimatisiert ... Ich bin ja so froh darüber und wie würde der Papi sich erst freuen, wenn er seinen großen Jungen beobachten könnte."

Doch das ist nicht möglich; denn gleich im nächsten Satz fragt die Mutter sorgenvoll: "Wirst du wohl am Kuban eingesetzt?" [115] In diesen Zeilen ist deutlich zu spüren, wie Ernst-Theo G. nach der fürchterlichen Zeit im Bombenkrieg in der Evakuierung geradezu aufblüht. Interessant finde ich auch, dass es im Sommer 1943 in Bad Laer anscheinend noch Kurgäste gegeben hat.

Ebenfalls gute Erfahrungen machte Gilla P., die mit der Mutter in Grainau/Oberbayern war:
"Wir wurden zwar von einigen Kindern angefeindet als Saupreißn. Ich hab aber sehr bald jodeln und bayrisch gelernt. Meine Mutter ... hat auch Gesang studiert. Die hat viel gesungen. Die hat auch sehr schnell mit den Einheimischen abends Singeabende gemacht. Ich glaube nicht, dass wir es in Bayern schlecht gehabt haben."

Dass die Familie es nicht schlecht hatte, war ein Stück weit auch ihr eigener Verdienst. Sie versuchte sich anzupassen. Die Mutter veranstaltete sogar Singeabende mit den Einheimischen. So konnte die Integration gelingen.
 
 
 

3.3.3.2.2 Schlechte Erfahrungen

 
 
 
Klaus E. [116], dessen Vater zwei Wochen vor dem Ende aus Stalingrad ausgeflogen wurde und dann als Soldat in Münster eingesetzt war, wurde zusammen mit seiner Familie Ende 1943 mit einem Pferdewagen nach Alverskirchen gebracht.
"Der Bauer, wo wir waren, der war gar nicht begeistert, dass er nun Einquartierung bekam. Der tobte da rum. [...] Ja, und dann musste er uns ... zwei Zimmer abgeben da, hatte nen Riesenhof ... Und er war aber eben auch nicht bereit ... mal nen Liter Milch ohne Geld abzugeben. Das musste alles bezahlt werden. Und er bewachte seinen Schinkenkeller, wo die ganzen schwarz geschlachteten Schweine waren ..., dass da gar keiner erst reinkam." [117]

Klaus E. berichtet weiter:
"Der Bauer war im übrigen streng katholisch. Der fuhr jeden Sonntagmorgen mit der Kutsche und der gesamten Familie in die Kirche nach Alverskirchen."

Aber er nahm die Familie von Klaus E. nicht mit, so dass sie laufen musste. Angesichts der Hartherzigkeit dieses Bauern wurde Klaus E. schon damals sehr nachdenklich. Er konnte nicht verstehen, dass diese Menschen "sich so unmenschlich anderen Leuten gegenüber benehmen. Denn wir waren ja in einer Notsituation." - A.H.: "Und Sie waren ja nicht mal Fremde, die von irgendwoher kamen. Sie waren ja nur von Münster. Das ist ja fast um die Ecke." - Klaus E.: "Ja, das sind zwölf Kilometer." Auch in der Schule machte Klaus E. wieder schlechte Erfahrungen mit seiner Kirche (siehe 3.3.5). Welche Folgen das für sein Leben hatte, habe ich nicht erfragt.

Schlechte Erfahrungen machte auch Marianne H., als sie am 1. August 1945 nach Everswinkel kam.
"Wir waren die ... Aussätzigen, die gar nicht ins Dorf gehörten, nicht in die Klasse gehörten ..., bis 1946 die Flüchtlinge kamen. [118] Da gehörten wir dann dazu. Da waren das dann die Aussätzigen. ... Ein Bauer zum Beispiel hatte nen Planwagen für die Kinder. [Mit diesem Wagen A.H.] ... fuhren sie jeden Tag ... zur Schule. Drei Kilometer hätten wir mitfahren können. Erst durften wir nicht. Dann kamen die Flüchtlinge, dann durften wir. [... ] Einer war ja bei mir in der Klasse aus dem Kindertropp, wenn ich dann sagte: Ludger dürfen wir heute Mittag wieder mitfahren, Ihr ja, aber die Flüchtlinge nicht. [...] Und als die Flüchtlinge kamen, da waren wir, wir waren ja aus Münster, wir waren ja von hier, da waren wir aufem Mal geduldet, weil wir ja nicht aus dem Osten kamen." [119]

Doch dieser Unterschied ist längst Vergangenheit. Bei den Klassentreffen spielt es heute, sagt Marianne H., keine Rolle mehr, ob jemand aus Everswinkel, aus Münster oder dem Osten kam.

Bemerkenswert ist, dass Marianne H. in Everswinkel nicht nur als Aussätzige galt.
"Ich gehörte auch in etwas schnell dazu, weil ich meine Hausaufgaben für Butterbrote eingetauscht hab bei den Bauernkindern. Wenn die abschreiben wollten, hab ich gesagt: wenn du mir morgen wieder ein Schinkenbutterbrot mitbringst, dann darfste abschreiben. [...] Da hab ich schon meine Hausaufgaben gegen ... Schinkenbutterbrot eingetauscht. Weil ich immer durch den weiten Weg, ich weiß nicht, ich hatte immer Hunger. Dann habe ich ... schnell das Rechnen gemacht, die leichtesten Aufgaben rausgesucht: so ich sag, die darfste abschreiben. Die andern noch nicht. Die mache ich zu Hause erst."

Das Beispiel von Marianne H. zeigt, dass mit einigem Geschick wenigstens in einem Punkt Zugehörigkeit und das Bekommen von zusätzlichem Essen möglich war. Das Beispiel zeigt aber auch, dass eine Schwarz-Weiß-Malerei unangebracht ist. Die Ereignisse sind sehr differenziert zu betrachten.

Ebenfalls Ablehnung von anderen Kindern erfuhren nach dem Krieg die Brüder Heinz und Karl L. in Telgte. Offenbar wurden sie als Evakuierte mit den Flüchtlingskindern in einen Topf geworfen.
"Der Hass dieser Leute auf diese Flüchtlinge. [...] Wir haben eigentlich als Kinder immer darunter gelitten. Erstens haben die Leute immer gesagt, euer Vater ist ein Nazischwein. Der trug noch Breeches. [120] ... Die Kinder riefen immer hinter uns her: euer Vater ist ein Nazischwein. Und wir wussten nicht, was das heißt. Und dann seid ihr rot. Holt die Hühner von der Straße, der Rotfuchs kommt; denn Vater, Mutter und alle vier Kinder hatten rote Haare. Wie Feuermelder." - A.H.: "Der Hass war auf die Flüchtlinge; aber nicht auf solche Leute wie Sie?" - Brüder L.: "Auf uns auch auf dem Lande. Vorurteile, dumme Vorurteile. Fremde." (Durcheinander) - A.H.: "Also ob man von Schlesien kam oder von Münster, das spielte keine Rolle?" - Brüder L.: "Das spielte keine Rolle. Nachher ging das, als wir so 10/11 waren, aber vorher."

Nach den Erfahrungen der Brüder L. wurden bei Fremden keine Unterschiede gemacht. Andere Zeitzeugen berichten, dass mit dem Kommen der Vertriebenen differenziert wurde: Marianne H. gehörte als Evakuierte plötzlich zur Dorfgemeinschaft dazu, während die Vertriebenen als die neuen Fremden abgelehnt wurden. Ähnlich erging es Rudolf M. (siehe 3.3.3.2.3). Die Menschen, die ihn und seine Familie aufnahmen, waren froh, dass keine Flüchtlinge zu ihnen kamen, sondern Evakuierte.
 
 
 

3.3.3.2.3 Verwandte

 
 
 
Während Monika S. die Schwierigkeiten mit den Verwandten, die die Schränke mit den dort gelagerten Wurstvorräten verschlossen hielten, nur am Rande erwähnt (siehe 5.2.2), beschreibt Rudolf M. das Thema in großer Ausführlichkeit. Die Schwierigkeiten begannen, als sich Rudolf M.
"bedingt durch die fette Ernährung übergeben musste. Meine Mutter war nur kurz weg, so dass Tante H. das Erbrochene wegmachen mußte. Anschließend hat sie dann ihre ganze Wut an meiner Mutter ausgelassen."

Weiter schreibt Rudolf M.:
"Das Zusammenleben spitzte sich immer mehr zu; zumal die Schwiegereltern von Tante H. im Hintergrund dominierten und ein gehöriges Wörtchen bei allem mitzureden hatten. Die alte Frau Z. tat immer so religiös, hatte bei jeder Gelegenheit den Herrgott auf den Lippen, aber im wirklichen Leben praktizierte sie nicht das Gebot der Nächstenliebe." [121]

Als dann noch die Tante H. die Lebensmittelmarken der Familie M. haben wollte,
"gab es getrennte Küche. Jede Familie kochte für sich. In der Waschküche wurde Platz für uns geschaffen und wir aßen ab sofort dort. Die Waschküche ... war ordentlich und sauber, aber gleich nebenan war der Schweinestall, aus dem Gerüche zu uns herüberkamen und ebenso das Grunzen der Schweine zu hören war."

In der Waschküche wurde auch schwarz geschlachtet, allerdings nur wenn Familie M. bei Verwandten zu Besuch war.
"Nach den schönen Wochenenden bei Oma in Lünen ging es immer wieder zurück nach Südkirchen, wo wir schon Angst vor den dauernden Nörgeleien und Demütigungen ... hatten. Ich würde diesen ständigen Ärger ... heute als Mobbing bezeichnen."

Des Ärgers überdrüssig geworden zog Familie M. schließlich zu fremden Leuten.
"Wir waren dort mehr oder weniger gern gesehen; wir waren eben 'Die Evakuierten' und sie waren froh, dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen mussten, die langsam in Scharen aus den Frontgebieten kamen."

Nicht ganz so schlechte Erfahrungen machten Karl und Heinz L. mit ihrem Onkel, der in der Nähe des "Behelfsheims" einen Bauernhof besaß. Als die Mutter ihn wegen der Tuberkulose eines der beiden Söhne um Sahne bat, "hat der sich so unglaublich angestellt: Und häs mir nix mitgebracht." [122] Ein anderes Mal bat ihn die Mutter, ein Schwein für die Familie zu mästen:
"Aber kannst mir was dafür geben, hat er unsre Mutter gleich gefragt. Sie hatte noch einen Elektroherd aus der Vorkriegszeit, den wir nicht gebrauchen konnten, weil kein [passender A.H.] Anschluss war. ... Den hat er dann mitgenommen."

Insgesamt ist das Bild der Verwandtschaft bei den von mir befragten Zeitzeugen negativ. Bezeichnend dafür ist, dass einer der Zeitzeugen einen Verwandten "Schubiack" nennt, was laut Duden ein "Lump, niederträchtiger Mensch" ist. Allerdings weise ich darauf hin, dass dieses Ergebnis keineswegs verallgemeinert werden darf, da sich nur vier Personen dazu geäußert haben. Sicherlich hatten auch andere meiner Zeitzeugen Erfahrungen mit der Verwandtschaft gemacht. Aber für sie gab es wie bei Hermann M. oder Martin H. (beide siehe 3.3.2.1) nichts Besonderes darüber zu berichten. Vermutlich bestand ein "normales" Verhältnis zur Verwandtschaft.
 
 
 

3.3.4 Kriegserfahrungen

 
 
 

3.3.4.1 Bombardierungen

 
 
 
Einige Zeitzeugen erzählen kaum etwas von den Auswirkungen des Krieges an ihrem Evakuierungsort. Sie hatten es dort gut. Der Krieg schien weit weg zu sein. Doch das konnte täuschen. Der kleine Ernst-Theo G. stellte in Vorwohle im Weserbergland zunächst sachkundig fest:
"Hier noch kein Flieger bum - bum gemacht." [123]

Bald änderte sich das:
"Als ich jedoch die ersten Bomber hörte, die Vorwohle in Richtung Hannover oder Berlin überflogen, kam ich schnell ins Haus gerannt und verkroch mich unter Vaters Schreibtisch im Wohnzimmer."

Während Ernst-Theo G. die Bomber nur hörte, bekam Monika S. in Emsdetten viel mehr von ihnen mit. Sie berichtet:
"Im Nachbarhaus gegenüber war ... ein Bunker für die ganze Nachbarschaft, also für diese ganze Bauernschaft. Oder für nen Teil wurde dann der große Keller als Bunker präpariert."

Bei Alarm mussten alle in den Keller.
"An dieses Brummen der Flugzeuge kann ich mich noch erinnern. Und das war ne ganze lange Zeit, dass mich das ängstigte."

Später hat sie mit ihrer Schwester über diese Erinnerungen gesprochen.
"Also da haben wir beide noch Vorstellungen von dieser Enge, von diesen engen Gängen im Keller und wo dann eben die alten Leute, die beteten Rosenkränze. [...] Also irgendwie waren viele Säuglinge auch da, kleine Kinder. Und wir saßen dann da so eng auf so irgendwelchen Bänken. Ich weiß dann noch, diese flackernde Birne, wenn irgendwo in der Nähe die [Flugzeuge A.H.] kamen, dann fing das son bisschen an zu flackern ... Ich hab nur noch diese betenden Leute in Erinnerung. Und uns ist da nichts passiert, aber in der Nähe ist dann mal auch ne Bombe gefallen. Das war aber dann direkt am Ende des Krieges. Also ich hab aus dieser Zeit behalten, dass es immer nachts Störungen gab. Also wir wurden ja manchmal gar nicht angezogen."

Das war auch nicht nötig, weil der Keller oder Bunker gleich im Nachbarhaus war. Auch wenn in Emsdetten kaum etwas passierte, verließ sie auch dort die Angst im Bunker nicht. Nach meiner Meinung machte es für sie keinen Unterschied, ob sie in Münster oder in Emsdetten im Bunker war. Die Angst, dass etwas passieren könnte, begleitete jeden Alarm. Nicht ohne Grund haben die alten Leute Rosenkränze gebetet.
Zeitzeugin Monika S., geb. 1942, über Emsdetten (Interview am 26.01.2010, Ausschnit 2:40 min, 2,4 MB, MPEG)




 
 
Auch für Marianne H. gab es in Altenbeken Bombenalarm.
"Wir haben die Bomber gezählt ... Fünf Verbände mit jeweils dreißig Bombern ... Die fliegen immer so versetzt (zeigt es mit den Händen). Ein Verband hier, der nächste wieder da, der nächste wieder da, so im Zickzack ... Und wir denken, die fliegen nach Paderborn. Da ließen sie die Bomben bei uns fallen. Aber nicht eine Bombe hat beim ersten Angriff getroffen. Die fielen alle auf freies Feld, auf Wiesen. Und der Bahnhof ist nicht getroffen und der Viadukt auch nicht. ... Sie wollten ja den Verkehrsknotenpunkt da haben."

Doch beim dritten Angriff wurde der Viadukt getroffen.
"Da konnten die Züge schon nicht mehr fahren ... ein paar Säulen waren baufällig. Also mussten die [Leute A.H.] vorm Viadukt aussteigen, durchs Dorf gehen und am Bahnhof konnten sie wieder einsteigen."

Weil die Zugverbindung unterbrochen war, bekam der Tunnel eine neue Bedeutung.
"Sobald ... Voralarm war, hupte der Zug dreimal. [...] Dann hieß das: alles rein in den Zug. In zehn Minuten fahr ich los. Wer nicht drin ist, kommt nicht mit. Und dann fuhr der in den Tunnel. Das war dann unser Bunker. [124] Wir kamen oben [von unserem Haus A.H.] runter. Dann sind die aus dem Holländerlager, die Gefangenen sind gekommen, die durften frei laufen. [...] Die sind dann bei uns vorbeigekommen, haben meine Schwester untern Arm genommen und einer hat sich den Koffer von Mami geschnappt. Und ich bin so gerannt. [...] 65 Stufen hatten wir erst zu gehen, bis wir auf dem Weg waren, und dann übern Zaun klettern auf die Gleise und dann ab in den Zug."

Trotz allen angstvollen Laufens gibt es für Marianne H. auch etwas Lustiges aus Altenbeken zu berichten:
"Die Flak hatte ... unsere Telefonleitung schon angezapft. Und immer wenn unser Telefon klingelte, bin ich dran. 'Mami, da ist schon wieder ein Verband auf Paderborn'. (Sehr lebhaft) 'Alte Göre, du hängst schon wieder in der Leitung. Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst den Hörer nicht abnehmen'. Ich hab den Wehrmachtsbericht mitgehört."

Auch wenn die Evakuierten Münster verlassen hatten, konnten die Bombenangriffe auf ihre Heimatstadt auch in der Evakuierung noch Schrecken verbreiten. Rudolf M., der in Südkirchen war, erinnert sich an die Erzählungen seines Vaters über den Angriff am 18.11.1944.
"Der Himmel war voller feindlicher Flugzeuge. Die Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt und viele Menschen starben dabei. [125] Unsere Flak war gegenüber dieser geballten feindlichen Übermacht ohnmächtig."

Das Haus der Familie selbst bekam keinen Treffer ab; aber "durch die Druckwelle der Luftmine wurde unsere Doppelhaushälfte total zerstört." Zu seinen Aufzeichnungen fügt Rudolf M. noch eine Bescheinigung vom "Polizeipräsidenten als örtl. Luftschutzleiter 5. Polizei-Revier" bei, in der die totale Zerstörung der Wohnung "durch Feindeinwirkung" bestätigt wurde. Selbst wem eine derartige Bescheinigung erspart blieb, hatte doch ständig Angst davor, in Münster ausgebombt zu werden. Über diese Angst berichten die Zeitzeugen nichts. Ich nehme an, dass sie ihnen als Kinder noch nicht bewusst war.
 
 
Kurios wirkt eine Erinnerung von Gilla P. aus Grainau/Oberbayern.
"Einmal ... war ... Alarm, alle Sirenen an. Da hieß es, Hitler wär auf der Zugspitze. Da haben die die Zugspitze bombardiert, die Amerikaner. Das hat man uns erzählt. [...] Woher kam das Gerücht überhaupt? Aber die Zugspitze, das sah man, da kamen Tiefflieger an. Und dann wurde natürlich, was ist los? Ja Hitler ... hat sich da versteckt. Ob das jetzt stimmt, weiß ich nicht. Aber nen Grund mussten die ja gehabt haben."
 
 
 

3.3.4.2 Tiefflieger

 
 
 
Als die Engländer und Amerikaner immer mehr die Herrschaft über den deutschen Luftraum gewannen, kam es nicht nur zur Eskalation des Bombenkriegs, sondern auch zu zahlreichen Tieffliegerangriffen. [126] Klaus E. erinnert sich an seinen Schulweg nach Alverskirchen, den er zusammen mit einem Kameraden zurücklegte:
"Und das war lebensgefährlich; denn die Tiefflieger [...] haben uns beschossen. [...] Wir haben also erlebt, dass da ne Kuh erschossen wurde auf der Straße. ... Die haben ja sogar die Bauern aufem Acker beschossen. ... Die sind so geflogen, dass sie unter dem Telefondraht hergeflogen sind. [... ] Wir haben dann nen Luftkampf beobachtet. [...] Natürlich für uns Jungs war das ne spannende Sache, aber lebensgefährlich. Und dann sind die beide runtergegangen. [... ] Und jedes Mal, wenn ich da vorbei ... zum Grab [des Vaters, siehe 3.3.4.3 A.H.] fahre, dann sag ich: hier hat der eine in seinem kaputten Flugzeug gesessen und da der andere. Sagt sie [die Ehefrau A.H.] schon immer: Sag es nicht. Weil ich immer wieder, wenn ich da vorbeikomme, auf diese Sache zurückkomme. Also die haben sich beide gegenseitig abgeschossen und sind da in den Acker gegangen. ...Wir haben das zwar gesehen ...; aber wir sind ja dann morgens zur Schule gegangen. [Als sie auf dem Heimweg waren, A.H.] ... hatten die Leute dann die, soweit es schon möglich war, rausgeholt."

Von einem anderen Luftkriegserlebnis in Alverskirchen, nämlich dem Abschuss eines amerikanischen Bombers, erzählt in einem Zeitungsbericht vom 10.04.2010 der damals elfjährige Ewald Stumpe. Der Artikel endet mit den Worten:
"'Das Ereignis am 23.03.1944 wird für alle Zeiten unvergesslich bleiben' ist sich der Zeuge des Abschusses sicher." [127]

So ergeht es auch Klaus E. Obwohl er seiner Frau auf die Nerven geht ("sag es nicht"), kann er nicht anders, als immer wieder darüber zu reden, was er an der besagten Stelle als Schulkind gesehen hat.

Selbst in dem ansonsten ruhigen Rüthen gab es einen Tieffliegerangriff. Hermann M. erinnert sich an einen bestimmten Tag in der Schule:
"Wir wussten genau, in Rüthen fällt keine Bombe. Da passiert nichts. [...] In der Pause haben wir dann auf den Bänken gesessen, auf den Tischen gesessen, haben rausgeschaut. Und wir konnten über das gesamte Möhnetal weggucken von der Schule aus und sahen dann die Flugzeugverbände kommen. Na ja, unser Lehrer war mit in der Klasse. Und wir gucken uns das an. Nee, was kommen denn da. Ja, das sind Bomber, das sind Jagdflieger. Die Unterschiede kannten wir schon. Da waren wir sehr gut informiert ... Unser Spielzeug bestand aus ja Flugzeugen, Panzern und so weiter [...]. [128] Ich weiß noch, dass der Lehrer, auf einmal brüllt der los, was wir sonst von ihm gar nicht kannten. Alles runter von den Tischen, unter die Tische. [...] Und da passiertes, dass irgend ein Flugzeug, hat wahrscheinlich unsere Schule für eine Fabrik oder was angesehen. Und ... kam runter mit dem Maschinengewehr durch die Fenster, alles zerschossen. Die gesamte Klasse, das heißt, also der Dreck hat uns auf den Köpfen ... gelegen; aber es ist niemand verletzt worden. Nicht eine Person. Das war für uns also etwas, nein, das darf nicht wahr sein, so etwas. Das war die einzige Kriegsberührung, die wir hatten." - A.H.: "Die hätte ja schon Vielen das Leben kosten können." - Klaus E.: "Vielen? Wahrscheinlich allen. Die haben alle auf den Tischen gesessen."

In Greffen - so erinnert sich Martin H. - gab es nicht nur Tieffliegerangriffe. Wenn ein Flieger kam,
"dann sind wir sofort in den Graben da runter ... und haben dann rübergeguckt und dann muss es wohl so, ja dass sie auch Angst gehabt haben, so hysterisch gelacht, so ungefähr wie, ich seh nichts, und dann sieht mich auch keiner, so ungefähr. ... Der hat dann auch nichts gemacht und hat dann abgedreht. ... In der Nähe war ja ne V1-Station, Richtung Teutoburger Wald, ... da schossen die die ja auch ab, und das klappte dann am Anfang auch nicht so, dann ist die in der Nähe eingeschlagen, Bauernhof, ne Riesenexplosion und ein ordentliches Feuer."
 
 
 

3.3.4.3 Im Krieg gefallene Väter

 
 
 
Auch wer am Evakuierungsort von Bombardierungen oder Tieffliegerangriffen verschont blieb, konnte doch die ganze Härte des Krieges erfahren, wenn die Nachricht kam, dass der Vater gefallen war. Ernst-Theo G. schreibt:
"Mein Vater wurde am 20.02.1945 bei Ratibor in Oberschlesien schwer verwundet und starb am 04.03.1945 ... Ich erfuhr die Todesnachricht beim Spielen auf dem Schusterweg ... Ein Mann beugte sich zu mir und sagte ganz direkt: 'Geh zu Deiner Mutter, Dein Vater ist tot'. Meine erste Reaktion war eigenartigerweise der Gedanke, dass etwas passiert sei, was mich 'auszeichne'. Ich laufe nach Haus, öffne vorsichtig die Wohnzimmertür und höre und sehe, wie Mamá und Omi eng beieinander sitzen und schluchzen. Schnell renne ich wieder weg. Beim späteren Läuten der Totenglocke von der Vorwohler Kirche denke ich an meinen Vater. Läuten sie für ihn? [...] Das Haar meiner Mutter wurde nach dem Erhalt der Todesnachricht innerhalb kurzer Zeit schneeweiß."

Noch am letzten Kriegstag fiel der Vater von Klaus E. Nachdem der Vater mit knapper Not aus Stalingrad entkommen war, war er in Münster stationiert. So konnte er von dort aus die Familie in Alverskirchen besuchen. Am 30.03.1945 verabschiedete er sich gegen 21 Uhr von der Familie und fuhr mit dem Rad zurück nach Münster. Aber er kam nicht weit. Die Straße war
"etwas gesperrt oder blockiert durch deutsche Militärlkws und dann kam ein Panzer. Und das war dann so etwa 60 Meter von uns, passierte das dann." - A.H.: "Und der Panzer" - Klaus E.: "der fuhr durch nen Graben. [...] Das waren deutsche. Und zwar ... um 12 Uhr wurden die Brücken gesprengt über den Kanal. [129] Das ... war also bekannt. Und in der Zeit mussten die alle da rüber [...] Und für Münster war um 12 Uhr der Krieg beendet. Das war also offiziell. Und wenn das [am nächsten Tag A.H.] morgens um fünf passiert wäre, hätte meine Mutter keine Rente gekriegt. [130] So ist sie Kriegshinterbliebene. [...] Und dann haben wir ihn in Alverskirchen beerdigt. [131] (Schweigen). Meine Mutter stand da mit drei kleinen Kindern. [...] Meine Mutter ist ja dann sofort ... fürchterlich zusammengebrochen. Da waren ein paar Nonnen ... auf dem Bauernhof und die haben sich dann um uns gekümmert. [132] ... Und dann ist mein Opa, in der Annahme, dass er noch lebt, am nächsten Morgen nach Freckenhorst ins Krankenhaus gefahren mit dem Fahrrad. Ja, und dann ist er da angekommen und dann haben die Nonnen (heftig bewegt): Ach, da war ja überhaupt nix mehr von über. ... Der Mann war völlig fertig. Mir wird's heute noch ganz. Wenn ich das überlege, (mit schwacher Stimme) ganz schlimm." Die Familie ist am Ende "und dann kam die besondere Nächstenliebe des Bauern wieder zum Zuge. Der wollte uns nämlich keine Kartoffeln mehr verkaufen. Der wollte uns loswerden, weil der Krieg zu Ende war. ... Und dann bin ich mit meiner Mutter zum Nachbarbauernhof, der war so 150 m, nein weiter, 300 m (unverständlich) weiter. Dann haben wir da Kartoffeln gekauft." - A.H.: "Beim eigenen Bauern", - Klaus E.: "der die ganze Scheune voller Kartoffeln liegen hatte, der hat uns keine Kartoffeln mehr verkauft."
 
 
 

3.3.5 Schule

 
 
 
Über die Schule während der Kriegszeit konnten die von mir befragten Zeitzeugen nur wenig berichten; denn die Mehrheit meiner Zeitzeugen wurde erst nach dem Krieg eingeschult oder war bis auf eine Ausnahme in der Kriegszeit erst in den ersten Schuljahren. [133] In jedem Fall aber verbrachten sie den größeren Teil ihrer Schulzeit nach dem Krieg. Deshalb gehe ich in diesem Kapitel nur auf drei Zeitzeugen ein, die von schulischen Ereignissen berichten, die ausdrücklich etwas mit dem Krieg zu tun hatten. [134] Alles weitere zum Thema Schule führe ich unter 4.3.2 auf. Das kann ich auch deshalb tun, weil ich bei meinen Zeitzeugen häufig keinen Unterschied zwischen ihren Schulerfahrungen in der Kriegs- oder Nachkriegszeit erkennen kann. So blieb etwa die häufig erinnerte Strenge der Lehrer auch nach Kriegsende bestehen.

Klaus E. bestätigt auf meine ausdrückliche Nachfrage hin, dass er in der Schule in Alverskirchen keine Benachteiligungen als Evakuierter "empfunden" hat. Ebenso ist es Hermann M. in der Schule in Rüthen ergangen. Freilich war er auch in einer besonderen Situation; denn seine Mutter stammte aus Rüthen. Er hatte dort auch noch Verwandte:
"Wir waren also schon nach ganz kurzer Zeit da integriert und damit war es das." [135]

Charakteristisch für Schule in der Kriegszeit ist, dass Kinder nicht nur den Schulstoff zu lernen hatten, sondern auch zu besonderen Einsätzen herangezogen wurden. Hermann M. hat das bei der Kartoffelkäferplage erlebt. [136]
"Da kam dann die dienstliche Anordnung von der Schule her, die gesamte Klasse ... antreten. Ihr bringt jeder ein Fläschchen mit, da war dann schon Spiritus drin und ihr geht dann auf Kartoffelkäfersuche."

Weil auch die anderen Klassen mitgingen, konnte mir Hermann M. als Ergebnis der gemeinsamen Anstrengung vermelden:
"Ja, und da war mit einem Mal ein riesengroßes Feld ohne Kartoffelkäfer. Das war natürlich etwas."

Noch heute ist Hermann M. stolz auf dieses Werk.
 
 
 

3.3.6 Kinderlandverschickung (KLV)

 
 
 
Ein besonderes Kapitel bei der Evakuierung ist die (erweiterte) Kinderlandverschickung. Für Gerhard Sollbach wurde sie "im Verlaufe des Krieges zur größten Binnenwanderung in der Geschichte der Menschheit." [137] In meiner Arbeit beschränke ich mich auf die Aussagen von zwei Zeitzeuginnen, die mir über ihre Erlebnisse bei der KLV berichtet haben. Ein dritter Zeitzeuge berichtet über eine Alternative zur KLV. Rudolf M. schreibt:
"Anstatt der Evakuierung nach Bayern kam für uns Kinder auch die Unterbringung mit unserer Mutter auf dem Lande infrage .... Da mein Vater meinte, dass wir ... in der Nähe von Münster [bleiben sollten A.H.], schlug er die Unterbringung bei seiner Schwester ... in Südkirchen auf dem flachen Lande vor."
 
 
 

3.3.6.1 Im Kindergartenalter in der KLV

 
 
 
Ungewöhnlich ist das Schicksal von Marianne H. Sie wurde schon 1941 mit gut 4 ½ Jahren zusammen mit ihrer zehn Monate älteren "Schwester" zur KLV geschickt. [138] Sie erinnert sich an den Transport:
Das war "ein ganzer Zug voller Kleinkinder, alles keine schulpflichtigen Kinder, alles noch so (zögernd) Kindergartenkinder, wie man heute sagt. So vier bis sechs Jahre waren wir alle so, in dem Alter, ein ganzer langer Zug."
Weil Marianne H.s Mutter nicht mitfahren konnte, habe ich sie gefragt, ob denn andere Mütter mit im Zug waren. Sie antwortet:
"Ich hab keine gesehen. Ich weiß nur, dass die gelben Schwestern da waren, diese NSV-Schwestern ... Die waren aber nicht gelb. Die waren alle mit dem Häubchen mit dem NSV davor." [139]

Pro Waggon war eine Schwester zuständig für die Versorgung der Kinder mit Essen und Trinken. Da sich Marianne H. daran erinnert, dass der Zug "um Ostern" 1941 fuhr, ist es möglich, dass es sich dabei um den Sonderzug handelte, der am 16.03.1941 "rund 1000 Kinder" von Münster nach Bayern beförderte. [140] In München wurden die Kinder auf LKW verteilt, und zwar "immer zu elf, zwölf auf die Ladefläche, so dass wir noch auf dem Koffer sitzen konnten". Die LKW brachten die Kinder ins Münchner Umland. Dort wurden sie an bestimmten Haltepunkten von "Pflegeeltern" ausgesucht. Marianne H. und ihre Schwester blieben übrig, da niemand die beiden zusammen haben wollte. Schließlich kamen sie nach Kleinberghofen im Landkreis Dachau. Der "Ortsgruppenleiter von der NSV, der mit dem gelben Anzug (schmunzelnd), der hat uns dann mitgenommen. Beide."
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Kinderlandverschickung (KLV): Marianne H. in Kleinberghofen mit Korb, Schwester mit Puppe, zwei Töchter des NSV-Ortsgruppenleiters, direkt neben ihm die 18jährige Zwangsarbeiterin Anna aus der Ukraine
 
 
Dieser, wie sie auch sagt, "NSV-Führer" besaß ein kleines Lebensmittelgeschäft. Marianne H. musste mithelfen, Kümmel aufzusuchen, der dann später im Geschäft verkauft wurde.
"Da hat er mitem Ochsen Gras geschnitten .... Dann musste ich die [Halme vom Kümmel A.H.] immer suchen aus der Reihe und am Ende der Reihe als Bündel hinlegen. Dann fuhr er wieder zurück. Dann musste ich dasselbe wieder für die Rückfahrt machen, immer ... den ganzen Kümmel da suchen."

Doch das war nicht alles:
"Schuhe putzen musste ich für elf Personen mit Spucke. Wenn ich keine Spucke mehr hatte: (Mit verächtlichem Unterton:) Geh zur Pumpe, dann kriegste wieder Spucke."

Nach dieser Aussage habe ich Marianne H. gefragt, ob sie das als Ausbeutung empfand. Sie gab ihre Antwort zögerlich.
"Ja. Ich musste dafür, dass wir da Essen kriegten, quasi mithelfen und arbeiten. Und Mami musste auch noch bezahlen für uns."

Der NSV-Ortsgruppenleiter nutzte es also offensichtlich aus, dass zwei KLV-Kinder bei ihm waren. Mir fällt freilich auf, dass Marianne H. nichts über weitere Belastungen wie Schimpfen oder Schlagen erzählt. Dass es ihr aber in der KLV nicht gut ging, sehe ich darin, dass sie dort Bettnässerin war. Denn später hat die Mutter
"immer gesagt: Und ich musste noch bezahlen dafür, weil du ja Bettnässer warst. (Mit bitterem Unterton:) Ich sagt, ja warum war ich denn Bettnässer? Warum denn? Schick mal zwei Kleinkinder weg und die Kleine muss auf die Große aufpassen."

Marianne H. bestätigt damit eindrucksvoll, was Anna Freud und Dorothy Burlingham im Kriegskinderheim in Hampstead, London, beobachtet haben:
"Der Zusammenbruch des Mutter-Kind-Verhältnisses" führt zu einer Regression in frühkindliche Entwicklungsstufen, also etwa zum Bettnässen. [141]

Das "Aufpassen" auf ihre Schwester ging übrigens so weit, dass Marianne H. ihr später in der Schule helfen musste, obwohl sie selbst "noch gar nicht schulpflichtig" war.
"Und so ist das mein Leben geblieben. Ich musste die ganzen Jahre ihr bei den Hausaufgaben helfen, immer wieder Nachhilfe geben, besonders in Mathematik."

Ostern 1943, also nach der für die Frühzeit der KLV ungewöhnlich langen Zeit von zwei Jahren holte die "Mami" sie wieder zurück.
"Sie hat gesagt: es wird jetzt brenzlig in Münster. Wenn wir sterben wollen [sic!], wollen wir alle sterben. Dann soll keiner von uns über bleiben." [142]
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Kleinberghofen: Besuch der (Pflege)mutter in Tracht einer NSV-Schwesternhelferin, 1942 vor der Ladentür
 

 

3.3.6.2. Als Oberschülerin in der KLV

 
 
 

3.3.6.2.1 Im KLV-Lager in Reit im Winkl

 
 
 
Anneliese J. fuhr mit dem Freiherr-vom-Stein-Gymnasium am 06.08.1943 in einem Sonderzug voller Kinder nach Reit im Winkl. [143]
"Ich hab mich gefreut, ich war glücklich, lachend von meinen Eltern weg und bin da angekommen und acht Tage lang nur geweint. Ich wollt nach Hause. Das weiß ich noch, dass meine Mutter sagte, du konntest nicht schnell genug wegkommen. Aber ich bin angekommen: todunglücklich."

Bei der Lagermädelführerin hat sie sich ausgeweint, mit Erfolg.
"Nach gut einer Woche kam meine Mutter. Mein Vater hat gesagt, was sollst du hier in der Gefahrenecke, setz dich in den Zug, fahr hin. Die hat sich beim Bauern ein Zimmer genommen und ist die ganzen zwei Jahre da unten geblieben. Da war ich ein Glückskind."

Doch nicht nur Anneliese J. war ein Glückskind. Sie erinnert sich:
"Es waren mehrere Mütter da ... fünf, sechs waren da." [144]

Diese Mütter haben sich um die Kinder gekümmert:
"Wenn die Kinder Strümpfe kaputt hatten, nahm meine Mutter sie auch wohl mit und stopfte die Strümpfe." [145] Ansonsten hat ihre Mutter "beim Bauern geholfen, bei dem sie wohnte, Heuernte oder so was. Hat auch später noch Verbindung zu gehabt."

Anneliese J. kann sich an zwei Mitschülerinnen erinnern, deren Mütter bei einem Bombenangriff "zu Tode gekommen sind und dann die Nachricht bekamen. Das war (Schweigen)." Die Nachricht vom Tod zweier Mütter verschlägt noch heute nach über 65 Jahren Anneliese J. die Sprache. Sie kann nur darüber schweigen, vielleicht auch deshalb, weil ihr klar wird, wie gut sie selbst es damals hatte, als ihre Mutter nicht mehr in Münster, sondern ganz in ihrer Nähe war. Gleich nach ihrem Schweigen lenkt sie im Interview das Gespräch auf einen scheinbar objektiven, neutralen Sachverhalt:
"Ansonsten waren wir da ja sehr abgeschirmt. Wir kriegten ja nicht so viel mit."

Dabei bleibt die Frage, ob die Mädchen im KLV-Lager nicht doch mehr mitbekamen, als Anneliese J. heute meint; denn Lieselotte Haas, eine 14jährige Mitschülerin, schrieb am 12.10.1943 in ihr "Kriegstagebuch":
"Gestern erhielten wir durch das Radio die erschütternde Nachricht, daß Donnerstag [sic!] Nachmittag ein schwerer Angriff auf Münster gewesen ist." [146]
Anneliese J., geb. 1932, kommt zur KLV (Interview am 23.02.2010, Ausschnit 3:43 min, 3,2 MB, MPEG)







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Reit im Winkl: Sonnenwendfeier im KLV-Lager, 1944
 
 
Weil Reichsjugendführer Baldur von Schirach zuständig für die KLV-Lager war, lag die Frage nach politischer Indoktrination im KLV-Lager Reit im Winkl nahe. [147] Diese Frage verneinte Anneliese J. klar und eindeutig und fügte hinzu:
"Das einzige, was ich in Erinnerung hab, es gab Morgenappell mit Morgenspruch. [148] Es gab einen Tagesplan. Es gab ... ein Mädel vom Dienst"

, das sie mit einem entsprechenden Posten bei der Wehrmacht vergleicht. Sie sucht im Gespräch spürbar immer wieder nach einer möglichen Indoktrination:
"Wir hatten einen Tagesplan mit Silentium, da wurden Schularbeiten gemacht und. Aber dass wir irgendwie besonders, ja gut, es gab ne Sonnenwendfeier, was damals national war. Es gab Besuch vom Gauleiter Meyer. [149] [...] Ja und wir sangen unsre Nationalhymne bei jeder Gelegenheit; aber dass wir so geschult, nein, ehrlich nicht."

Nicht einmal die BdM-Uniform wurde regelmäßig getragen. [150] Anneliese J. erinnert sich:
"Keine dreimal, dass ich die angehabt habe, dass wir das mussten."

Die Ausnahme war natürlich beim Besuch von Gauleiter Meyer:
"Da stehen wir alle in weißen Blusen. Ist klar. Aber sonst: nein."

Anneliese J. meint abschließend:
"Ich hab mich da, wie ich später wohl dachte, wie im Internat gefühlt. Also, ich hab nicht in Erinnerung, dass man mir da irgendwas [Politisches A.H.] beibringen wollte... Zucht und Ordnung, das ist aber, glaub ich, im Internat auch. Tagesplan wurde eingehalten, Sauberkeit eingehalten, Zähne wurden kontrolliert, ob wir die auch geputzt hatten. Das war in Ordnung. Das hab ich nicht nachteilig empfunden."

Diese offensichtlich geringe Indoktrination im KLV-Lager der Freiherr-vom-Stein-Schule ist besonders bemerkenswert, weil unter den Schülerinnen dort auch Dorothee, die Tochter von Gauleiter Meyer, war. [151]
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KLV-Lager Reit im Winkl: Mädchen, darunter Anneliese J., mit Lagermannschaftsführerin beim Milchholen
 
 

3.3.6.2.2 Kriegsende und Rückkehr
aus der KLV

 
 
 
Anneliese J. berichtet über das Kriegsende in der KLV in Reit im Winkl.
"Wir wurden schon wochenlang drauf vorbereitet, wussten wir schon, dass es dem Ende entgegen ging. Mussten wir jeden Morgen beim Frühstück ein Stück Brot ... zurückgeben oder zurücklassen. Das wurde geröstet ... für den Notfall, falls wir flüchten mussten. [...] Aber meine Mutter, die ja da war, hat dann gesagt, als es kritisch wurde, komm zu mir. Und ich bin dann mit zu dem Bauern gezogen. [...] Ich bin dann noch mal zurück in das Haus, wo wir gewohnt hatten, das KLV-Lager und hab meine Sachen und Kleidung geholt. Und die [Mitschülerinnen A.H.] hatten das fluchtartig verlassen. Das lag da noch alles. Die hatten das Nötigste mitgenommen und waren mit dem Bus auf die Fraueninsel gefahren. Von da sind die später auch nach Münster. Das hab ich nicht mehr mitgekriegt. Mein Bruder ist getrampt vom Tegernsee, auch nach Reit im Winkl. [152] Und wir haben ... bis August bei dem Bauern gewohnt. Solange hatten wir da gar keine Möglichkeit wegzukommen. [...] Die ganze Wehrmacht, die saß da in Reit im Winkl. Die Leibstandarte Adolf Hitler, alles war da. Und wir Kinder ... kriegten ... von denen zu essen, aus der Gulaschkanone und so. Und wenn wir aus unserm Zimmer [bei dem Bauern A.H.] kamen, ... mussten wir über die Landser steigen, die im Flur lagen."

Schließlich kamen auch nach Reit im Winkl die Amerikaner.
"Das erste, was ich von denen gesehen habe, waren also Panzer. Am Kirchturm war ne weiße Fahne, das hatten die Einheimischen gemacht. Und paar Tage vorher ... waren noch Kämpfe, ... Richtung Ruhpolding. Da haben wir noch Schüsse gehört. Und da sind wir mit Mutti und ein paar Bewohner aus der Nachbarschaft noch den Berg hoch in son Heustadel gegangen, weil wir dachten, jetzt kommen auch noch Kämpfe hierhin, war aber nicht. [...] Die ganze Wehrmacht ... kam mit Fahrzeugen ... reingezogen. Da gibt es eine ganz große Wiese in Reit im Winkl - ist heute Skilauffläche, Loipe und so - da standen dann die Fahrzeuge der Wehrmacht, wurden auch ganz ordnungsgemäß aufgebaut. Und es war wie ne Übergabe an die Amerikaner. Aber da ist alles ganz friedlich verlaufen."

Es ist erstaunlich, wie gut sich Anneliese J. an die Zeit des Kriegsendes erinnert. Die vielen Soldaten in Reit in Winkl und die friedliche Übergabe müssen einen starken Eindruck auf sie hinterlassen haben. Ebenso gut erinnert sie sich an die Rückfahrt im August 1945. [153] Ein Spediteur brachte Anneliese J. mit Mutter und Bruder mit seinem LKW nach München. Dort hieß es: "Es fahren keine Züge, gibt's gar nicht." Schließlich gelang es ihnen, in einem Güterzug mitzufahren. Es ging über Ulm und vor allem immer Richtung Norden: "Norden war immer schon gut." Wichtiger als die genaue Fahrtroute ist ihr folgendes Erlebnis:
"Und dann sind wir in einen offnen Güterzug ... gestiegen kurz hinter der Lokomotive. Ganz schwarz wie die Mohren. Und wir hatten ein Oberbett mit, das hatte meine Mutter ... in einen Sack gesteckt. Da haben mein Bruder und ich in dem offenen Wagen drunter gelegen."

So kamen sie nach zwei oder drei Tagen über Hamm nach Münster. Als sie dort glücklich die Großeltern wiederfanden, kam es zu einer erinnerungswürdigen Begrüßung:
"Da hab ich zu meiner Oma gesagt: Grüß Gott. Wir waren ja mittlerweile halbe Bayern."
 
 
 

3.3.7 Vom (Über)leben

 
 
 

3.3.7.1 Spielzeug

 
 
 
Für Kinder ist Spielzeug wichtig. Leider habe ich dazu nur eine Aussage bekommen. Hermann M. erinnert sich an seine Zeit in Rüthen:
"Was unser Spielzeug war: das waren gesammelte Waffen, wir hatten Pistolen, wir hatten Messer ... Seitengewehre und so was ... Die Flugzeuge brachten Zusatztanks mit und die wurden erst leer gemacht und dann wurden die abgeworfen. Wir haben diese großen Tanks ..., die vielleicht so zwei Meter lang sind, die haben ... wir Kinder ... uns ... geholt und haben die gesammelt, haben dann da oben Latten draufgemacht. Wir hatten ein Floß ... Das war unser Spielzeug ... Und wir hatten jetzt keine Waffen, weil wir damit schießen wollten ... Das konnten wir gar nicht, weil wir auch keine Munition dazu hatten ... Jede Gruppe hatte dann ihren Stolz: der eine hatte ein Seitengewehr gefunden, der andere hatte ne Pistole gefunden und sowas. Aber es ist nie, in der Zeit jedenfalls wo ich da war, nie etwas damit passiert, dass der eine den andern aufgespießt hat."

Diese Kinder in Rüthen nutzten kreativ die Möglichkeiten, die sich ihnen durch den Krieg boten. Sie nahmen vorweg, was sich Jahrzehnte später als Abenteuerpädagogik entwickelte und was es im Grunde schon immer gegeben hat: Kinder nehmen das, was sie finden und integrieren es in ihr Spiel. Unklar ist für mich, wie weit auch Mädchen in diese Spiele einbezogen waren. Immerhin spricht Hermann M. von "Kindern" und nicht nur von "Jungen."
 
 
 

3.3.7.2 Ernährung

 
 
 
Weiter erzählt Hermann M., wie seine Mutter Nahrung besorgen konnte. Der Vater war im Krieg und konnte kein Geld schicken. So musste seine Mutter, wie auch andere evakuierte Frauen mit Unterstützung von Kindern, den Bauern bei der Ernte helfen.
"Diese Dinge brachten dann, ich sag mal so, nicht Geld, sondern die brachten Nahrung. Der Bauer hat dann den Leuten, die dann geholfen haben ... nen Sack Kartoffeln gegeben oder zehn Runkeln oder ... nen Sack Hafer. Und mit dem Sack Hafer konnste dann wieder zur Mühle gehen und dir Mehl mahlen lassen ... Also, dass ich zum Beispiel Brot essen konnte, war höchst selten. Wir haben stattdessen, wie heißt es, geschnittene Zuckerrüben. [... ] Man kann daraus Rübenkraut gewinnen und so was. Und wenn du die ... schälst vorher, rundum die harte Schale ab und schneidest die in Scheiben, hast du ... etwas, was nicht nur gut schmeckt, sondern es ist auch nahrhaft ... Ja, und wir haben in der Zeit sehr viel so etwas, sagen wir mal, Naturbezogenes dann gegessen."

Hermann M. erinnert sich nicht an Lebensmittelmarken, sondern an Erntearbeit und den Geschmack von Zuckerrüben. Wieder wird mir deutlich: die Erinnerung ist konkret.

Beim Gespräch mit Anneliese J. ist auch ihr Ehemann anwesend. Er äußert sich zu diesem Thema:
"Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern immer sagten: Du hast gar nicht so viel Hunger gehabt. Wenn Du Hunger hattest, bist du runter gegangen und hast gesagt: Tante Betti [die Haustochter beim Bauern A.H.], habt ihr noch Brot? ... Und dass meine Eltern da auf dem Hof dann auch einiges an Arbeit geleistet haben. Dafür durften wir dann irgendwann uns ein Schwein füttern. [...] Das wurde dann irgendwann auch geschlachtet ... Und wir hatten ... angrenzend an den Hof auch ein kleines Stück Garten, das mein Vater bewirtschaftete. Ich kann mich erinnern, dass er da Tabak angebaut hat. [154] Und natürlich auch Gemüse und Kartoffeln."

Auf eine ganz besondere Art ist die Mutter von Gilla P. in Grainau an Lebensmittel gekommen:
"Ja, ich weiß wohl, dass auch manchmal Hunger da war ... Mutti mit ihrer Freundin ... sind mit nem Zug gefahren zum Hamstern. Später hat sie uns erzählt, sie hätten den jungen Rekruten, die in den Krieg mussten, ... die kamen alle von den Berghöfen und die haben ganz viel Proviant von ihren Müttern mitgekriegt. Und da haben die sich nebengesetzt und geflirtet. Und dann haben die ganz viel (lachend) mit nach Hause gebracht." [155]
 
 
 

3.3.7.3 Lebensmittel-, Kohlen- und Möbelklau

 
 
 
Natürlich ging es bei der Beschaffung des Lebensnotwenigen nicht immer streng nach den Paragraphen des Gesetzes zu. Hermann M. erinnert sich, dass es neben der Arbeit seiner Mutter beim Bauern noch eine zweite Einnahmequelle gab: "Die war uns Kindern vorbehalten." Und so schlichen die Kinder, sicher nicht nur in Rüthen, in ganzen Gruppen in die Schrebergärten.
"Äpfel, Birnen, was du klauen konntest, wurde geklaut. Ich weiß, das kannst du heute vielleicht keinem Moralisten erzählen. Der wird dann sagen: Ii, was waren denn das für Leute. Aber wenn du Hunger hast, und Hunger war etwas, was du im Grunde genommen als Kind fast immer hattest."

Vor allem wurden Kürbisse geklaut.
"Ein Kürbis, der war so etwas von Leckerbissen, das kannst du dir nicht vorstellen."

Zusammenfassend stellt Hermann M. fest:
"Was du an Nahrungsmitteln bekommen konntest, das war weg. Das gehörte dazu. Ein einfaches Beispiel: Wir hatten mal nen ganz schweren Unfall auf der Möhnestraße. War nen LKW mit Anhänger, der war voll beladen mit ... kistenweise Sprudel, Limonade und so was. Der ist ... umgekippt. Und jetzt lag die gesamte Möhnestraße, lag voller Flaschen, aber nicht lange ... Wir hatten gerade Schulschluss und irgendwer hat das mitbekommen, dass da unten, hallo, da ist was los ... Wenn dann plötzlich 150 Kinder da auftauchen, ja was meinst denn du wohl, wie schnell da die ... nicht kaputten Flaschen, die waren alle weg. [...] Du hattest eine andere Einstellung als heute zum Überleben."

An das Klauen von Kartoffeln denken noch heute Heinz und Karl L.
"Und dann irgendwann hat Vater uns aus dem Bett geschmissen, nachts, oder spät abends ... Es hatte einen Gewitterregen gegeben. [...] Und dann hat er gesagt: wir müssen los, Kartoffeln suchen. Der hatte alles ausbaldowert ... Dann sind die ganze Familie, unser jüngstes Schwesterchen im Bollerwagen und auf den Acker. Ich seh heute noch, es war Vollmond ... Und auf diesem Acker die Kartoffeln waren durch diesen Regenguss, es war ein Gewitter, alle blank. Die sahen aus wie so Kiesel. Da haben wir in der Nacht sechs Zentner Kartoffeln gesammelt. Da war wieder Nahrung da."

Bei der Versorgung ging es nicht nur um Lebensmittel, sondern auch um Kohle oder Möbel. Gilla P. erzählt, wie sie von ihrem Cousin nach Münster, Klein Muffi, mitgenommen wurde. [156]
"Da war ja auch alles kaputt; aber die Kellerräume [waren intakt A.H.]. Da ... hat der mich immer reingeschoben und ich musste Kohlen da rausholen. Ich war ja so dünn ..."

Zurück ging es mit den Kohlen auf dem Bollerwagen den ziemlich weiten Weg zum Bootshaus an der Werse. Außerdem haben die beiden und noch andere Kinder Möbel geklaut.
"Wo heute das Bad Stapelskotten ist, waren ganz viele Möbellager. Also da haben die Leute auch ihre Möbel abgestellt. Und wir hatten ne Pünte, Boot. Und dann sind wir nachts ... mit dem Boot dahin mit nem dicken Seil. Und dann haben die Jungs das Seil genommen, Lasso, und dann das geschmissen. Und dann haben die gezogen und irgendwas kam. Der zum Beispiel, der da steht (zeigt), der Wäschehocker ... Den hab ich jetzt angemalt."

Gilla P. fügt fast ein bisschen entschuldigend hinzu:
"Wir hatten ja alle nix. Und das stand da rum. Ist ja hinterher richtig vermodert. Also das ... haben viele gemacht: mit Boot, Lasso und dann gezogen, wos hängen blieb. Nachts. Und dann ins Boot geladen. (Lacht). [...] Darum haben die mich mitgenommen. Da haben die mich oben am Ufer abgesetzt und ich musste den Strick wieder losmachen, wenn er irgendwo fest war."

Wie bei Klaus E., der aus dem Luftschutzkeller durch einen Schacht kletterte, um nach draußen zu schauen, waren auch bei Gilla P. Wendigkeit und eine kleine Körpergröße von Vorteil. [157]
 
 
 

3.3.7.4 Besuche

 
 
 
Wichtig war für die Evakuierten, dass die Verbindung zu ihren Angehörigen nicht abriss. Gut hatten es in diesem Punkt die Brüder L. in Telgte.
"Wir hatten eigentlich ne ganz unbeschwerte Kindheit ... Es kamen immer Leute dahin. Unsre Eltern waren dann, als es ging, waren sie immer sehr gastfreundlich und großzügig. Unser Vater oder unsre Mutter bestellten jeden Sonntag oder Samstag bei Bäckerei B. in Telgte zum Samstag 40 oder 60 Brötchen. Und es wurde ein großer Topf Erbsensuppe gekocht. Und aus der Stadt Münster, Münster in Trümmern, alles strömte nach draußen hin. Das war ja wie ein kleines Paradies ... auch für uns Kinder ... Die Wohnzimmermöbel kamen nach draußen, die Stühle. Gartenmöbel gab es ja nicht."

Ganz zum Schluss des Interviews kommt einer der beiden Brüder noch einmal auf die vielen Besucher zurück. Nachdem er schon längst wieder in Münster lebte, war er allein in der Nähe des "Behelfsheim" gewesen. Er sagt:
"Da hab ich mich auf die Kreuzung gestellt und ... Richtung Bahnhof geguckt ... Da habe ich se wirklich alle ankommen sehen. Alles, was da runterkam von der Familie und Verwandte. Ich hab neulich mal überlegt, wie viel Menschen man gekannt hat, die es nicht mehr gibt, einmal durch diese Kindheitserinnerungen, diese ausgeprägten. [...] Wie viel Menschen man gekannt hat und was alles weg ist. Das sind ja Unmengen. Das ist ja Wahnsinn, also volles Leben."

Zu diesem vollen Leben gehörte, dass die vielen Besucher auch ganz handfeste Gründe hatten, zu Besuch zu kommen. Hilde Merkens schreibt dazu in ihren Erinnerungen aus Everswinkel:
"In den Hungerjahren bekamen wir laufend Besuch. Verwandte und alle möglichen Bekannte [sic!] aus Duisburg hatten auf einmal unsere Adresse und besuchten uns. Ein Arbeitskollege meines Vaters schrieb eine Karte, ob wir grüne Bohnen besorgen könnten." [158]
 
 
 

3.3.8 Kriegsende

 
 
 
Das Kriegsende haben die von mir befragten Zeitzeugen an ihrem jeweiligen Evakuierungsort erlebt. Niemand von ihnen war zu diesem Zeitpunkt bereits in Münster. Die Brüder Heinz und Karl L. und Gilla P. hatten ihren letzten Evakuierungsort noch nicht erreicht. Sie kamen erst nach Kriegsende nach Telgte, bzw. Angelmodde.

Besonders treffend beschreibt Rudolf M. das Kriegsende.
"Der Krieg ist aus, aus, aus. [...] Belgische Panzer zogen durch das Dorf Südkirchen. [159] Überall haben sich die Menschen gefreut. Als Zeichen der Ergebung hingen sie für die Besatzungsmächte weiße Betttücher aus den Fenstern. Aber es gab auch das Gegenteil, der Ortsbürgermeister (Bauer H.) wollte sich nicht freiwillig ergeben. Es kam zwischen ihm und den Alliierten zum Schußwechsel, bei dem es Tote gegeben haben soll."

Rudolf M. spricht als einziger der von mir befragten Zeitzeugen von der Freude über das Kriegsende. Alle anderen Zeitzeugen berichten nichts davon oder deuten das nur an (s.u.). Vielleicht liegt das daran, dass die Gefühle der Deutschen zum Kriegsende ambivalent und damit gerade für Kinder ziemlich verwirrend waren. Neben Freude und Erleichterung gab es die Erschütterung über die Niederlage und vor allem Sorgen und Ängste, wie es denn nun weitergehen sollte. [160] Vielleicht aber verdrängte auch die Erinnerung an die dramatischen Erlebnisse zum Kriegsende das Nachempfinden der damaligen Gefühle.

So erinnert sich etwa Marianne H. an das Kriegsende in Schwarzenmoor, das heute ein Stadtteil von Herford ist: [161]
"Ostersonntag war da der Einmarsch. [162] Und dann sind wir bis Montag noch im Keller geblieben. Die Erwachsenen ... sind rauf und haben was zu essen besorgt für uns. Die sind dann in die Küche gegangen und haben son bisschen was gemacht und dann sind sie wieder zu uns runtergekommen."

Am Ostermontag sahen sie die ersten weißen Betttücher an den Häusern. Damit sie nicht länger im Keller bleiben mussten, wurde "das Betttuch um die Bohnenstange genäht, schnell, und dann oben aus dem Fenster raus." Wie viele andere auch erinnert sich Marianne H. an die schwarzen Soldaten:
"Es waren auch Schwarze da. Und die haben dann die Gefangenen da über die Autobahn transportiert. Die deutschen Soldaten. Und wenn uns deutsche Soldaten unterwegs entgegenkamen: wo liegen die Engländer? Wie kommen wir an den Amerikanern, den Franzosen vorbei? Wir wollen zu den Engländern. Und dann haben wir gewusst die Schleichwege. Dann haben ... die das, was sie hatten an Zigaretten und an Seife oder was sie noch hatten: Da nehmt das mit für eure Mutter, uns wird sowieso alles weggenommen."

Ein Grund dafür, dass die deutschen Soldaten zu den Engländern in die Gefangenschaft wollten, könnte sein, dass sie schon etwas von den Hungerlagern der Amerikaner in den Rheinwiesen oder bei Bad Kreuznach oder auch von der schlechten Behandlung durch die Franzosen gehört hatten. [163] Im Übrigen wird auch an dieser Stelle wieder deutlich, wie nützlich sich Kinder machen konnten: sie kannten die Schleichwege und bekamen für diese wichtige Information Zigaretten, Seife und andere wichtige Dinge geschenkt.

Auch wenn deutsche Soldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft die Amerikaner mieden, bei den Kindern waren die Amerikaner beliebt. Hermann M. erzählt aus Rüthen:
"Wir als Kinder hatten bei den amerikanischen Soldaten ne absolute Schnitte ...Wir hatten ... Kochgeschirre gefunden und Feldflaschen ... Da sind wir halt zu denen hingegangen: wir brauchen was zu trinken, wir brauchen, was zu essen ... Wie gerne die uns den Topf da voll gemacht haben. Das war hervorragend. [...] Sie haben draußen gekocht, große Feldküche gehabt. Ja und wir hatten natürlich Kohldampf. Und unsre ... Mutter war immer heilfroh, nicht nur wenn wir heile wiederkamen, wenn wir noch was mitbringen konnten ... Schokolade und richtiges Essen. Das war immer drin."

Besonders beeindruckten auch Hermann M. die schwarzen Soldaten. Er sah viele von ihnen auf den einrückenden Panzern. Er behauptet, dass die Amerikaner bewusst "die schwarzen Kämpfer" vorgeschickt haben. Ob diese Behauptung wirklich haltbar ist, weiß ich nicht. Mir ist aber klar, dass die schwarzen Soldaten auf die Kinder einen besonderen Eindruck gemacht haben, weil die Kinder bis dahin nie oder nur ganz selten Schwarze gesehen hatten.

Hermann M. erinnert sich jedenfalls noch genau daran, wie die Amerikaner Rüthen eingenommen haben. Als die amerikanischen Panzer heranrückten,
"kam dann Anweisung von der Kommandantur, ihr müsst euch, wie heißt das so schön, bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. [...] Dann hat der Kommandant da, ist er hingegangen und sagt so: Die Tore müssen verrammelt werden, hat dicke Baumstämme davor gelegt, damit die Panzer ja nicht durchkommen konnten. [164] Dann sind die Panzer gekommen ... Und jetzt waren die Tore verrammelt. Und dann hat der Anführer der Panzergruppe ... eine Botschaft in den Ort hineingeschickt, also an den Kommandanten, er möchte bitte die Tore frei machen. Sie möchten durchfahren. Und falls das innerhalb von ... zwei Stunden oder irgendwas nicht passiert, dann würden sie halt den ganzen Ort in Schutt und Asche schießen. Das war für die kein Problem; denn die hatten ja Panzer genug. Die hatten auch Munition genug. [...] Und jetzt ist der Kommandant da hin gegangen, hoher SS-Mann, so verblendet wie die waren und hat gesagt: Nix, hier kommt keiner rein ... Es war jedenfalls so, dass, wie auch immer und wer auch immer, niemand weiß es oder will es gesehen oder gewusst haben, plötzlich ist er umgefallen und war tot. ... Irgendjemand hat ihn abgeschossen. So, damit war's das. Und dann sind die Bürger hingegangen ... und haben gesagt: so, das hat sowieso keinen Zweck, bevor die uns hier in Schutt und Asche schießen, ... machen wir die Tore wieder auf."

Anneliese J. war erstaunt, als sie Amerikaner in Reit im Winkl sah:
"Ich hab nur immer gedacht, Amerikaner wären alles Neger. Als die kamen und das waren Weiße, war ich ganz erstaunt. [...] Dann saßen die oben auf den Panzern und sahen aus wie wir. (Pause) Und die waren auch unheimlich kinderfreundlich. Die haben uns wirklich Kaugummi gegeben und so. Die waren natürlich in den besten Häusern untergebracht ... Und da standen wir Kinder dann schon mal. Da hab ich nichts Negatives mehr. Und, Gott, die deutschen Soldaten, die waren auch froh, dass es vorbei war."

In dem leicht dahin gesagten Wort "auch" steckt, dass auch Anneliese J. und viele andere ebenfalls froh waren; aber das deutet sie nur an.
 
 
 

3.3.9 Das Ende der Evakuierung

 
 
 

3.3.9.1 Vorbemerkungen

 
 
 
Bernd Haunfelder stellt für das Jahr 1950 fest
"Ende Dezember warten noch immer 24.000 evakuierte Münsteraner auf eine Rückführung in ihre Heimatstadt." [165]

Das sind etwa 17 % der Einwohnerschaft aus der Zeit vor den Evakuierungen. [166] Auch etliche der von mir genannten Zeitzeugen waren Ende 1950 noch nicht nach Münster zurückgekommen. Hauptgrund für die langsame Rückkehr war der wegen der starken Zerstörung Münsters nur sehr begrenzt zur Verfügung stehende Wohnraum. Dazu kam, dass ein Teil der unzerstörten Wohnungen von der Besatzungsmacht beschlagnahmt wurde; deshalb waren Hausbesitzer "darauf bedacht, zur Straße hin einen möglichst beschädigten Eindruck zu erhalten (Fenster mit Brettern verschlagen usw.)". [167] Wegen des großen Wohnungsmangels kam es am 09.06.1945 zu einer strengen Zuzugsregelung. Danach war für den Zuzug eine polizeiliche Genehmigung erforderlich. Sie wurde nur erteilt, wenn die bisherige Wohnung noch vorhanden und diese nicht vom Wohnungsamt anderweitig vergeben worden war. [168]
Bei den Zeitzeugenerinnerungen fällt mir auf, dass sie nichts darüber berichten, dass sie sich damals über das Warten auf die Rückkehr beklagt haben. Von einer Ungeduld, wann es denn endlich wieder nach Münster zurückgeht, habe ich nichts gehört. Das kann wie bei Monika S. daran liegen, dass das stark zerstörte Münster auf Kinder abschreckend wirkte. Vor allem aber haben sich manche Kinder so gut in der fremden Umgebung eingefunden, dass sie am liebsten dort geblieben wären.
 
 
 

3.3.9.2 Der Abschied

 
 
 
Monika S. fiel der Abschied vom Evakuierungsort schwer.
"Ich kann mich noch erinnern, als wir dann zurückzogen, das war 51 ... im Oktober ..., dass wir nur geheult haben. Wir haben also tagelang, wir drei Kinder haben nur geheult. Wir wollten nicht weg von Emsdetten."

Dafür gab es einen gut nachvollziehbaren Grund: Verwandte waren schon etwa 1947 nach Münster zurückgekehrt. Von Emsdetten aus fuhr Monika S. mit ihrer Familie nach Münster, die Verwandten dort zu besuchen.
"Da haben wir dann auf diesen Zugfahrten ... nur gedacht, das ist ein anderes Land, wo sind wir hier, die Trümmer ... an der Bahnlinie. Das ist mir noch so im Gedächtnis. Wir kamen dann wirklich zu der Zeit, das war 47/48/49, dass ich immer nur dachte, da will ich nie hin, das war ... beängstigend. Das war dunkel. Es waren große, riesengroße Trümmergrundstücke." [169]

Auch Ernst-Theo G. nahm mit schwerem Herzen Abschied. Er erinnert sich:
"Der Dorfschule mit drei Klassen für acht Jahrgänge trauten meine Mutter und Vaters Eltern nicht zu, mich ... für den Besuch eines Gymnasiums zu qualifizieren."

Er stellt in seinen Aufzeichnungen rückblickend fest:
"Es wäre für mich besser gewesen, wenn ich noch eine Weile dort hätte leben dürfen. Als wir Ende 1949 fortzogen, verlor ich wirklich meine Heimat."

Von ihr verabschiedete er sich wie von einer Geliebten:
"Ich ritzte ... meine Initialen in die Rinden mehrerer Bäume. Leider standen die Buchen bei meiner ersten Rückkehr im September 1974 nicht mehr."

Auch Bernhardine C. nahm traurig Abschied. Darüber erzählt sie sehr bewegt. Als sie Weihnachten 1950 bei ihrer Mutter in Münster zu Besuch war, bekam sie eine
"lange Hose mit ner Bommeljacke. Ach, das war schick 1950, ganz schick, getragen, aber ich war stolz. Ich kam also nach Marienfeld zurück, ging in die Klasse rein, bin zu spät gekommen. Ich weiß das heute noch, wie son Mannequin ziehe ich im Gehen meine Bommeljacke aus: sehen die mich auch alle? Ich bin stolz. Ich war 14 Jahre. Da sagte die Lehrerin zu mir: Bernhardine, du gehst jetzt sofort nach Haus, ziehst deine Hose aus und einen Rock drüber. Und da habe ich gesagt: wenn ich jetzt gehe, komme ich nie wieder. Und da bin ich hingegangen und da sagt [ihre Pflegemutter A.H.] Tante D. - das war der größte Fehler ihres Lebens -: Ja, Bendine, ich sag ja immer: Mutter, zieht dich immer an wie ne Russin. Man durfte nie aussehen wie ne Russin. [...] Und da sagt se: Hier, du ziehst nen Rock an. Und das war für mich der Todesstoß. Ich hab sofort ne Karte geschrieben unter Tränen an meine Mutter: [...] Ich bin aus der Schule geflogen: komm, und hol mich ab. ... Unsre Oma sagte: das ist ein Hilferuf, fahr da sofort hin. Freitags war die Karte da, samstags war meine Mutter da [...] Ja und Onkel D. hat geweint, Tante D. hat geweint, und jetzt wein ich auch, (weint), weil ... das ... muss für die Leute schlimm gewesen sein. Nach so vielen Jahren, son nettes kleines Mädchen. Wie lange war ich da? Acht Jahre. Sieben Jahre ... Und dann hat meine Mutter mich mitgenommen, am Samstag. Und montags war ich in der Geistschule [in Münster A.H.]. Das war Januar 1951."

Später im Gespräch fasst Bernhardine C. das mit den Worten zusammen: "Ich war so glücklich in Marienfeld." Trotz dieses abrupten Endes hat sie sich deshalb nie ganz von Marienfeld getrennt. Noch heute kommen ihr Tränen, wenn sie an den Abschied denkt. Aber diese Tränen kommen ihr nicht, weil es für sie selbst, sondern weil es "für die Leute" schlimm war. Vielleicht versteckt sie hinter dem Hinweis auf die "Leute" ihre tiefe Kränkung damals. Wie stolz war sie auf ihren Mannequin-Auftritt und wie bitter war es für sie, dass sie dafür keinerlei Beifall, sondern harte Ablehnung bekam.
 
 
 

3.3.9.3 Baldige Rückkehr

 
 
 
Ein knappes Jahr nach Kriegsende kam Martin H. nach Münster zurück. Die Wohnung dort war nicht zerstört, aber sie hatte doch einigen Schaden genommen; denn "im Garten war ne Bombe runtergekommen." Der Vater konnte die Schäden nur mühsam reparieren; denn
"es gab kein Material und deswegen sind wir ... frühestens April 46 wieder da eingezogen ... Vater war vorher in die Wohnung gekommen und hat also regelmäßig nach Dienstschluss oder ... am Wochenende die Reparaturarbeiten gemacht in dieser Wohnung."

Ein mindestens genau so großes Problem wie die Beschädigung der Wohnung war, dass dort schon andere Menschen wohnten.
"Zimmer um Zimmer wurde freigegeben und dann hat er selber mit einem Handwerker oder Kriegskameraden ... alles selbst gemacht."

Bemerkenswert ist, dass es dem Vater gelungen war, an eine Zuzugsgenehmigung zu kommen, obwohl die Wohnung noch belegt war und erst Zimmer für Zimmer freigegeben wurde.
Zeitzeuge Martin H., geb. 1942, über die Rückkehr nach Münster (Interview am 23.02.2010, Ausschnit 1:13 min, 1,1 MB, MPEG)




 
 
Klaus E. kehrte ebenfalls 1946 nach Münster zurück. Die Wohnung an der Steinfurter Straße war nicht zerstört; aber
"in einem desolaten Zustand, so dass man also nicht sofort einziehen konnte. Da musste dann jemand hin; aber es war ja keiner da. [170] Ich war noch zu jung, ... ich war 10 oder 11. [...] Der H. H., das war ein Freund meines Vaters, der hatte hier ein Fuhrunternehmen in Münster mit zwei Pferden. Der hat uns dann die Möbel da rausgebracht. Und der holte uns dann auch wieder ab. Und die Möbel, die Schränke, hab ich auseinander geschraubt. ... Da sind wir zurück zur Steinfurter Straße. Da haben wir erstmal ein Zimmer so ein bisschen abgedichtet und die Küche, wir hatten ne ziemlich große Wohnung."

Im Herbst 1947 kam Rudolf M. nach Münster zurück. Das Haus der Familie dort war stark zerstört. In dem noch erhalten gebliebenen Luftschutzkeller wohnte der Vater die Woche über. Am Wochenende fuhr er nach Südkirchen, die Familie zu besuchen. Vom Luftschutzkeller aus
"hat er abends [nach Feierabend A.H.] auf dem Gelände aufgeräumt, Steine abgepickt, die beim Wiederaufbau wieder verwendet wurden. Er hat aufgepasst, dass nichts vom Grundstück geklaut wurde. Um in der Nachkriegszeit zu überleben, gehörte 'Klauen', besonders von Metallen, zum guten Ton."

Zusammenfassend schreibt Rudolf M.:
"Ich habe meinen Vater immer für diese Aufbauleistung nach dem Krieg bewundert."
 
 
 

3.3.9.4 Späte Rückkehr

 
 
 
Marianne H. blieb bis 1951 in Everswinkel,
"weil Mami nicht zurück nach Münster wollte. 48 ist ihr ne Wohnung angeboten worden auf der Mondstraße, die Schwedenhäuser."

Diese stellte die Bahn den Witwen ihrer im Krieg gefallenen Mitarbeiter zur Verfügung.
"Und dann wollte sie da nicht hin. [...] Die Wohnungen, das wären ja alles nur Holzhäuser, die wären ihr zu hellhörig. [...] Dann sind wir ... geblieben in Everswinkel ... 51 bin ich dann zu einem anderen Bauern nach Freckenhorst gekommen in die Landwirtschaft, weil ja die Fürsorge nicht mehr für mich gezahlt hat, (Pause) musste ich da arbeiten, als Magd quasi. 25 Mark im Monat bei voller Verpflegung. Und ich musste von morgens sechs bis abends halb acht arbeiten. Mittags eine Stunde Mittagsunterstunde ... Und das mit vierzehn Jahren. Und dann keinen Sonntag frei."

Bis zum Alter von 18 Jahren arbeitete sie bei verschiedenen Bauern. 1955, mit 19 Jahren, kam sie wieder zurück nach Münster und arbeitete dort als Stationshilfe in einem Krankenhaus (siehe 4.3.2.2).

Gilla P. kehrte erst 1954 aus der Evakuierung nach Münster zurück. Ihr Vater kam bald nach Kriegsende aus der Gefangenschaft:
"Und da kam da son (zögert) hagerer Mann und ich hab ihn sofort erkannt. Das war mein Papa. [...] Und dann hat mein Papa mit dem [Sohn des Bauern, Josef H., A. H.] irgendwie einen Deal gemacht da. [171] Früher war Flakabwehr auf diesem Hof. Darum waren da auch ordentlich Bombeneinschläge. [...] Der Josef H. hat zu meinem Papa gesagt: wenn du das wieder glatt machst diesen Bombentrichter, ... dann könnt ihr euch hier in der Umgebung ein gleichwertiges Grundstück raussuchen zum Hüttebauen. [...] Und ich ... muss noch an den Tag denken, wie Papa uns an die Hand genommen hat, meine Schwester und meine Mama. Und dann sind wir [...] rumgegangen und haben uns ein Grundstück ausgesucht. [...] Gegenüber ein Stück Feld für unseren Garten. Und dann hat mein Papa aus Heraklitplatten son Haus da hingesetzt: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Flur und ein Schuppen mit Plumpsklo. (Lacht.) Da sind wir eingezogen. Es war sehr, sehr kalt da. Betonfußboden, ... ne Pumpe draußen, kein fließend Wasser. Im Sommer war das immer ausgetrocknet oder im Winter zugefroren. Also das war ein hartes Leben da."
Zeitzeugin Gilla P., geb. 1938, über die Rückkehr ihres Vaters und den Bau eines Häuschens (Interview am 30.03.2010, Ausschnit 3:16 min, 3,0 MB, MPEG)




 
 
 

4. Münster in der Nachkriegszeit

 
 
 

4.1 Die Situation am Kriegsende

 
 
 
"Am Abend des 2. April 1945, Ostermontag, endete mit dem Einzug amerikanischer und britischer Panzertruppen und Fallschirmjäger der Zweite Weltkrieg für Münster." [172]

Innerhalb des Promenadenrings wohnten angeblich noch 19 Menschen, in der ganzen Stadt schätzungsweise 23.000. [173] Der Grund dafür liegt auf der Hand:
"Der Zerstörungsgrad Münsters, gemessen an dem Ausfall von Wohnraum durch Unbewohnbarkeit, kann mit rd. 63 % angenommen werden... Von rd. 33.737 Wohnungen waren 1.050, d.s. etwa 3 %, unversehrt."
[174]

Dabei waren die einzelnen Stadtviertel unterschiedlich stark getroffen: das Gebiet innerhalb der Stadtmitte war zu 90 % zerstört.
"Hafen- und Geistviertel lagen zu zwei Dritteln in Trümmern ... Das Kreuzviertel oder Außenbezirke wie Gievenbeck und Kinderhaus bleiben im Vergleich dazu relativ unbeschädigt." [175]

Nicht nur Wohnraum wurde durch die Bombardierungen zerstört, sondern auch zahlreiche öffentliche Gebäude fielen dem Bombenkrieg zum Opfer. Eine große Bedeutung hatte die Zerstörung des Versorgungsnetzes von Gas-, Strom- und Wasserleitungen. Alle diese Zerstörungen waren so stark,
"daß die britischen Alliierten zunächst überlegt hatten, die Stadt an einer anderen Stelle, im Westen, Richtung Roxel und Gievenbeck, wieder zu errichten." [176]

Aber wegen der emotionalen Bindung an die Stadtmitte und auch weil die Versorgungsleitungen trotz aller Beschädigungen noch ihren Wert hatten, wurden diese Pläne nicht in die Tat umgesetzt. [177] Manche Zeitgenossen mögen angesichts dieser starken Zerstörung der Stadt an eine alte Prophezeiung gedacht haben, von der in den folgenden oder ähnlichen Worten immer mal wieder die Rede ist:
"Wehe dir Münster ! ... Ein schwerer Brand wird Überwasser heimsuchen, daß man vom Domplatze bis zum Schlosse sehen kann." [178]
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Münster: Der Rathausgiebel kurz vor dem Einsturz nach dem Bombenangriff am 28.10.1944
 
 
Dazu herrschte überall in Deutschland Chaos. Millionen Menschen, Flüchtlinge und Vertriebene, Soldaten, Evakuierte, Fremdarbeiter und Menschen aus einem der vielen Lager irrten umher. Schätzungsweise "zwei Drittel der Deutschen [waren A.H.] nicht zu Hause oder unterwegs." [179] Dieses "Nicht zu Hause -" und "Unterwegssein" hat für mich nicht nur eine räumliche Bedeutung. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus hatten viele Menschen in Deutschland auch ihre politische Heimat verloren. [180] Sie standen vor der Frage: Was wird aus Deutschland werden? Was wird an die Stelle des Nationalsozialismus treten? Freilich standen diese Fragen im Hintergrund; denn "die meisten Deutschen hatten weder die Kraft noch den Mut, über private Nöte hinaus zu denken." [181] Im Vordergrund stand die Frage: Wie werden wir überleben in einem weitgehend zerstörten Land? Woher nehmen wir das Lebensnotwendige wie Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf? Und auch: Wo leben unsere Angehörigen? Leben sie überhaupt noch? Es gab eine Fülle von Fragen. Die Antworten zeichneten sich erst allmählich ab.
 
 
 

4.2 Wiederaufbau

 
 
 
Beim Wiederaufbau spielten Frauen und Kinder eine entscheidende Rolle. Elisabeth Domansky und Jutta de Jong schreiben: Frauen und Kinder
"leisteten gemeinsam den entscheidenden Beitrag zum 'Wiederaufbau' Deutschlands, indem sie die Basisversorgung der deutschen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Heizmaterial, Wohnraum und Kleidung sicher stellten. Hätten nicht Frauen und Kinder, unterstützt von Männern, auf diese Weise das Überleben der deutschen Gesellschaft ermöglicht, dann wäre der Wiederaufbau ... nicht möglich gewesen." [182]

Auf den Beitrag der Kinder verweist Heinz-Jürgen Priamus. Ihnen fiel
"häufig die Aufgabe zu, die Familie mit den lebensnotwendigsten Dingen zu versorgen oder aber wenigstens zur Erhaltung der bloßen Existenz beizutragen." [183]

In eine ähnliche Richtung gehen Annemarie und Norbert Ohler:
"Mädchen und Jungen trugen nun [nach Kriegsende A.H.] maßgeblich dazu bei, daß ihr Land nicht im Chaos versank. Um ihrer Kinder willen haben Eltern durchgehalten; dabei konnten sie sich darauf verlassen, daß ihre Sprößlinge phantasievoll und auf nicht immer rechtmäßige Weise Wege fanden, übelsten Nöten abzuhelfen. Zudem kam um der Kinder willen mannigfache Hilfe aus dem Ausland." [184]
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Wiederaufbau des münsterschen Rathauses
 
 
Auch bei der Beseitigung der Schuttmassen gingen vor allem die Frauen und, soweit möglich, Kinder ans Werk.
"Acht Zehntel der deutschen Enttrümmerung wurde - so weiß die Statistik - von Frauen geleistet." [185]

Auch in Münster sind "von Beginn an ... eine Vielzahl von Frauen im Einsatz." [186] Die Aufgabe, Münster von den Trümmern zu beseitigen und die Stadt schließlich wieder aufzubauen, war unvorstellbar groß. Auf jeden Einwohner kam statistisch gesehen mehr als ein halber Eisenbahnwaggon voll Schutt. Als der Schutt abgefahren wurde, musste man feststellen:
"Die Schutthalden wuchsen ins Unermeßliche." [187]
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Münster: Trümmerräumung mit Bagger und Dampflok vor der zerstörten St. Lamberti-Kirche, 1945
 
 
Vordringlich bei der Trümmerbeseitigung war die Räumung der Verkehrswege, auch damit die darunter liegenden Versorgungsleitungen repariert werden konnten. [188] Während die Besatzungstruppen die "als Heerstraßen benötigten Straßenzüge" räumten, war es Aufgabe der Bürgerschaft, "die übrigen Straßen freizuschaufeln, um das Leben in der Stadt wieder in Gang zu bringen." [189] Außerdem ging es zunächst um die Instandsetzung der mehr oder weniger stark beschädigten Wohnungen. Doch ausgerechnet dazu erklärte der Minister für Wiederaufbau des Landes NRW am 13.01.1947:
"Die übergroße Wohnungsnot verbietet kategorisch jegliche Instandsetzung bereits bewohnten Wohnraums, soweit dies nicht zur Abwendung gesundheitlicher Schädigung der Bewohner zwingend erforderlich ist."

Es ging dem Minister vorrangig um die "'Winterfestmachung von kriegsgeschädigten Wohnungen'." Deshalb war auch der Wohnungsneubau "grundsätzlich untersagt." [190] Dass sich die Bevölkerung an das kategorische Verbot der Instandsetzung wirklich gehalten hat, bezweifle ich. Drei Zeitzeugen, Rudolf M., Martin H. und Klaus E. berichten (siehe 3.3.9.3), dass ihre jeweiligen Wohnungen Zimmer für Zimmer hergerichtet, also instandgesetzt wurden.

Damit die Schutträumung im öffentlichen Raum bewältigt werden konnte, mussten alle arbeitsfähigen Menschen ihren Beitrag leisten. Zunächst geschah das auf freiwilliger Basis. Doch offensichtlich reichte das nicht aus; denn im Jahre 1946 gab es entsprechende Erlasse. Gisela Schwarze schreibt:
"In Münster waren alle Männer 1946 für 6 [sic!] Arbeitstage zu Räumdiensten verpflichtet worden."

Das galt auch für
"arbeitslose Frauen ohne eigenen Haushalt ... an sechs Tagen in der Woche ... Bis November 1946 waren 13 000 Bürger im Einsatz." [191]

Aber auch das genügte nicht; denn nach einer Amtlichen Mitteilung vom 13.11.1946 wurden zusätzlich die "Kräfte der Stadtverwaltung", wozu auch "Angehörige des Städt. Orchesters und der Städt. Bühnen" sowie "Lehrpersonen sämtlicher Schulen" zählten, zu Straßen- und Grundstücksräumungen herangezogen. [192] Nach Paulheinz Wantzen ging der Wiederaufbau insgesamt nur langsam vonstatten. Er nennt dafür zwei Gründe: die unausrottbare "münstersche Bummelei" und das Verhalten der Engländer als Besatzungsmacht, die "alles sabotieren und glatt erklären: 'Wenn wir die Schweine frei arbeiten lassen, dann sind sie in 5 Jahren wieder oben auf.'" [193] Aber immerhin kann 1948 wieder der 100.000. Einwohner Münsters - mit Namen Ernst Musche - begrüßt werden. [194] Im Jahre 1955 sind "die Kriegsfolgen ... in der Stadt ... immer noch unübersehbar." [195] Erst 1956 wird "erstmals der Wohnungsbestand von 1939 überboten." [196] Doch wegen starken Zuzugs nach Münster bleibt der Wohnraum weiterhin knapp, möglicherweise sogar bis heute.
 
 
 

4.3 Zeitzeugenerinnerungen

 
 
 

4.3.1 Mithilfe von Kindern

 
 
 
Von mir befragte Zeitzeugen bestätigen, dass sie als Kinder in der Nachkriegszeit mitgeholfen haben, das Leben, oder genauer, das Überleben, zu sichern. [197] Anneliese J. erinnert sich daran, dass sie Schutt auf Loren verladen hat. Dabei gab es sogar eine Belohnung:
"Immer wenn wir da was gearbeitet hatten, kam so ein älterer Mann und brachte uns so eine Nummer. Und wenn wir zehn Nummern zusammen hatten, kriegten wir nen Kochtopf. [...] Es wird auch noch was anderes gewesen sein." [198]

Außerdem half Anneliese J. mit, Sachen zu bergen, die sich im noch zugänglichen Keller ihres früheren Hauses, das zerstört war, befanden.
"Ich weiß, Bücher haben wir rausgeholt, bisschen Spielsachen, die unten im Keller waren; aber damit war dann auch irgendwann Schluss. Klavier hatten wir im Keller, hatte mein Vater runtergebracht. Und da haben wir noch ein paar Tasten gefunden. Das war natürlich nicht mehr."

Erstaunlich ist, dass Anneliese J. nicht über die Zerstörung des alten Hauses klagte. Sie hatte die Trümmer täglich vor Augen; denn ihre neue Wohnung lag direkt im Nebenhaus. Sie tröstete sich damit, dass sie immerhin den Garten hinter dem zerstörten Haus erreichen konnte.
"Das war wunderbar. Da hatten wir uns schon einen Weg gebahnt, da rüber."

Der Weg durch die Trümmer war zwar "ein bisschen winkelig; aber dann waren wir in unserem Garten." Dort hat der Vater reichlich Gemüse angebaut und Obst geerntet, so dass die Familie weniger Not leiden musste.

Hermann M. bekam für seine Mithilfe beim Wiederaufbau Geld, indem er beim "Steinepicken" half. Dabei bewegte sich die Geldsumme "im Pfennigbereich."
"Wir wussten ja in der Umgebung hier, welche Leute aufbauen wollten. Und die brauchten ja Steine. Und Steine konntest du nicht kaufen; aber die Steine waren dann, ja genau, voll Speis."

Doch um den Speis abzubekommen, brauchte man Werkzeug: Hammer oder Fäustel und einen Meißel. Die fanden sich noch in Luftschutzkellern unter zerstörten Häusern. Vor den Kellern standen zwar Schilder: Betreten verboten, Vorsicht Lebensgefahr,
"aber das hat uns überhaupt nicht gestört, sondern man hat eben halt gesucht und hat da etwas mitgenommen, wo du was kriegtest."

Hermann M. hat unter dieser Arbeit nicht gelitten.
"In der Gruppe machte das sogar Spaß. Du warst ja nicht alleine an einem Bau, sondern du bist ja mit drei, vier, fünf Leuten da gewesen. Und hattest dann irgendeinen Auftraggeber, dem du dann die Steine hinterher gebracht hast. Und der hat sich natürlich gefreut, wenn er schöne saubere Steine bekam. Und hat dafür auch etwas abgedrückt. Das war unsere Einnahmequelle."

Hermann M. nutzte diese Einnahmequelle nach seiner Rückkehr nach Münster 1949. Da war er 13 Jahre alt. Obwohl er also noch ziemlich jung war, ist in seinen Erinnerungen nichts zu spüren von einer Klage über Kinderarbeit oder gar Ausbeutung. Im Gegenteil: Hermann M. ist stolz auf diese Einnahmequelle und auch auf die Anerkennung für seine Mithilfe beim Steinepicken. Das gemeinsame Tun machte ihm Spaß und hatte - auch wenn er das nicht ausdrücklich erwähnt - sicher etwas von einem Abenteuer.
Zeitzeuge Hermann M., geb. 1937, über das Steinepicken (Interview am 27.07.2010, Ausschnit 3:40 min, 3,3 MB, MPEG)




 
 

4.3.2 Schule

 
 
 

4.3.2.1 Die ersten Schuljahre

 
 
 
Naturgemäß nehmen die Erinnerungen an die Schule [199] einigen Raum bei den Erzählungen der Zeitzeugen ein. Dabei ist freilich über den Schulunterricht selbst nichts zu erfahren. So kommt der Lernstoff der unterschiedlichen Fächer nicht zur Sprache. Auch ob der Unterricht langweilig oder spannend war, wird nicht erwähnt. Das könnte daran liegen, dass Unterricht eher etwas Abstraktes ist. Konkret aber ist die Person des Lehrers. [200] Meistens wird nur ein bestimmter Lehrer genannt, während viele andere in Vergessenheit geraten sind. Auf diesem einen Lehrer liegt bei den Zeitzeugenerinnerungen das Hauptgewicht; denn von ihm ist oft die Rede. Dabei ist auch nach sechs Jahrzehnten noch manches Mal sein Name in Erinnerung geblieben. Das hängt damit zusammen, dass der Lehrer besonders "be-ein-druckend" war; denn er übte Druck aus. So heißt es immer wieder: Der Lehrer X. war streng, wobei hinzugefügt wird, "aber gerecht." Klaus E. sagt: "Der [Lehrer L. A.H.] war sehr hart, aber korrekt. Also er war gerecht, wenn man Mist gebaut hatte. Er hat aber nicht geschlagen. Aber ich hab geschrieben; deswegen hab ich heute sone gute Handschrift. (Lachen). Ich hab den Pythagoreischen Lehrsatz, glaub ich, tausendmal geschrieben (Lachen)."

Im Gegensatz dazu erinnert sich Hermann M. an einen Lehrer, bei dem es "richtig was drauf" gab, "wenn sich jemand daneben benommen hat." Doch Hermann M. führt das nicht auf den Charakter des Lehrers zurück, sondern erklärt das mit den Zeitumständen:
"Die allgemeine Strenge, wie sie von der Politik angefangen über die Verwaltung und so weiter praktiziert wurde, gab's auch in der Schule."

Strenge und Schlagen erlebte Klaus E. ausgerechnet im Religionsunterricht. In Alverskirchen verteilte der Priester im Religionsunterricht gerne Kopfnüsse. Doch Klaus E. konnte dem mindestens einmal entfliehen. Er erzählt mit einer gewissen Genugtuung:
"Die andern sind in die Kirche gegangen und ich bin dann auf das Klo, hab mich da eingeschlossen. Der [Pastor A.H.] hat also ein paar Mal davor gestanden und geklopft. Ich hatte dann irgendwelche schlimmen Magenschmerzen oder was weiß ich alle, bin dann nach Hause."

Doch so eine Fluchtmöglichkeit gab es in Münster nicht mehr.
"Der Kaplan hier in der ... schule ... hat mich so geohrfeigt, dass ich ne Gehirnerschütterung hatte. Ich meine, gut, ich war nicht son lieber Junge. Ich hab den Mädchen die Mütze vom Kopf gerissen. [...] Der hatte so Hände wie Klodeckel und haute mir dann ne Ohrfeige. [...] Das ist traurig, dass die nicht, sagen wir mal, danach leben, nach den Zehn Geboten."

Klaus E. äußert im Interview deutlich, dass die Erfahrungen mit den beiden Priestern und auch der so fromm tuende Bauer (3.3.3.2.2), bei dem Familie E. untergebracht war, in ihm Zweifel am Glauben und an der Kirche ausgelöst haben.

An einen brutalen Lehrer erinnert sich auch Gilla P. Sie ging in Angelmodde zur Schule. Dort fand der Unterricht von acht Volksschulklassen in zwei Räumen statt. [201]
"Wir [hatten A.H.] einen Lehrer, der hieß E. Die haben alle Pauker Eierkopp zu dem gesagt. Der hat immer gespuckt. Der hat immer gesagt, Du (spuckendes Geräusch) Lümmel und hat immer in die zweite Reihe gespuckt. Ich saß in der ersten, weil ich immer so klein war ... Über meinen Kopf weg. Der hat ... die Kinder derart geprügelt, (flüsternd) das kann man sich nicht vorstellen. Ich denke, das war ein übrig gebliebener Nazi oder irgendwas. [202] Der hat wirklich die Kinder mit dicken Stöcken durchgehauen."

Im Gegensatz dazu stand Lehrerin B.
"Die Frau B. war ganz wunderschön, ganz nett, ganz lieb, aber auch streng. Die hat nicht geprügelt. Das war dieser Pauker Eierkopp."

Außerdem erinnert sich Gilla P. noch an "eine junge Lehrerin, Fräulein K." Dabei geht es nicht mehr um streng oder lieb, sondern um ein fast schon erotisch gefärbtes Ereignis.
"Ich weiß noch, wir hatten hier einen, den nannten wir Wurm, einen Mitschüler. Der war auch so dünn wie ich. Und wir mussten uns immer zwei und zwei vor der Schule aufstellen. Und der war weg. Die wurden ja immer abgezählt, die Kinder. Klassenweise. Genau. Und Wurm war weg. Und Fräulein K. hatte so einen roten Kopf. Da ist der Kerl ihr doch untern Rock gekrabbelt und hat sich da versteckt. Das werd ich nie vergessen."

Es ist auch hier wieder bemerkenswert, dass die Zeitzeugin ein scheinbar nebensächliches Ereignis "nie vergessen" kann, während sie an die Hauptsache der Schule, den Unterricht, keine Erinnerungen mehr hat oder zumindest nichts davon erzählt.

Bei den Lehrern spielte auch ihr Alter eine Rolle. Hermann M. stellt fest:
"Da waren teilweise Lehrer, die waren Asbach uralt. Junge Lehrer gab's ja gar nicht in der Zeit, jedenfalls so gut wie nicht ... Und die hatten teilweise auch noch alte Ansichten im Gegensatz zu heute." [203]

Wenn Hermann M. darauf hinweist, dass "das gesamte Schulwesen ... erst wieder aufgebaut" werden musste, dann stellt sich die Frage, wie weit solche uralten Lehrer mit ihren alten Ansichten ein modernes, demokratisches Schulwesen mit aufbauen konnten.

Bei aller durchaus berechtigten Kritik an der Strenge der Lehrer in der Nachkriegszeit ist zu bedenken, dass sie es oft schwer hatten. Die Gebrüder Heinz und Karl L. erinnern sich:
"Wir waren in der ersten Klasse in Telgte über 90 Schüler, ... mit einem Lehrer, W." [204]

Er musste in der Aula der später abgebrochenen Realschule unterrichten,
"bis nach nem halben Jahr die Klasse geteilt wurde und wir bekamen einen neuen Lehrer. Das war Herr M. Der kam aus Neiße. Das war ein Vertriebener und der spielte Jeige (schlesisch ausgesprochen), glaube ich."

Es ist bemerkenswert, dass die Brüder sich an das Musikinstrument des Lehrers erinnern und wie er das ausgesprochen hat. Ansonsten aber geben sie keinen Kommentar darüber ab, ob der Lehrer streng war oder nicht oder was sie bei ihm gelernt haben. Die "Jeige" übertönte alle anderen Erinnerungen.

Die Erinnerungen von Monika S. sind zweigeteilt: zuerst war sie von 1948 an in ihrem Evakuierungsort Emsdetten in der Schule. Dort wirkte sich noch der Krieg unmittelbar aus. Wenn sich in der Pause ein Flugzeug näherte,
"dann lagen wir vor Angst platt aufem Boden. Wir haben uns auf dem Schulplatz, die Kinder, flach hingelegt. Und dann nicht bewegen und dann erst hinterher, Gott sei Dank, ist nichts passiert."

Als sie 1951 zusammen mit ihrer Schwester noch für ein halbes Jahr vor ihrem Wechsel zur Realschule auf eine münstersche Volksschule kam, wurde es schwer für sie. Von einer reinen Mädchenschule wechselte sie nun zu einer gemischten Schule. Dort ist von Flugzeugen nicht mehr die Rede; aber sie denkt an ein Ereignis auf dem Schulweg im dunklen Winter:
"Da sind wir dann irgendwann jemandem fast in die Hände gefallen. Der hat uns dann angesprochen und wir sollten mit ihm mitgehen ... Und irgendwie war ich nicht nur ängstlich, auch skeptisch und vorsichtig und hab dann irgendwie in letzter Sekunde meiner Schwester gesagt, da gehen wir nicht mit."

Zusammen mit ihrem Vater, der bei der Justiz arbeitete, gingen sie stattdessen zur Polizei. Weil die Geschwister den Mann gut beschreiben konnten, wurde er wahrscheinlich gefasst. Monika S. stellt zusammenfassend fest:
"Das ist ja für sich genommen nicht schlimm; aber dieses zusammen, in einer fremden Stadt mit einem Lehrer, der ziemlich gewalttätig ist, (der schrecklich gerne sein Lineal zog und den Jungen vornehmlich was durch die Hände zog). Wir ... waren in Emsdetten gute Schülerinnen gewesen ... wirklich gerne gelernt und dann hier in Münster irgendwie nen anderes System ..., vor allem mit Mathematik. Wir mussten also nachholen. Wir wurden unter Druck gesetzt. Und waren da nur ein halbes Jahr."

Diese Äußerungen von Monika S. sind schon deshalb ungewöhnlich, weil mit Ausnahme von Ernst-Theo G. (siehe 4.3.2.2) niemand von den Zeitzeugen über Probleme beim Schulwechsel vom Evakuierungsort zurück in die Heimatstadt spricht. Möglicherweise hat es sie nicht gegeben, vielleicht sind sie aber auch in Vergessenheit geraten. Einige Zeitzeugen wurden auch erst nach der Evakuierung in Münster eingeschult.
 
 
 

4.3.2.2 Die späteren Schuljahre

 
 
 
Neben den Erinnerungen an die oft beherrschende Gestalt des Lehrers kommt bei manchen Zeitzeugen das Bedauern darüber zum Ausdruck, dass sie als Folge von Krieg und Evakuierung nicht ein Gymnasium besuchen konnten. Klar zu erkennen ist das bei Klaus E.
"Ich hätte das gerne gemacht. Und das ging nicht. Meine Mutter hat gesagt ... das tut mir furchtbar leid; aber das kannste nicht machen."

Grund dafür ist, dass die Mutter als Kriegerwitwe mit drei Kindern das Schulgeld nicht bezahlen konnte. So ist Klaus E. acht Jahre zur Volksschule gegangen. Als er 1951 entlassen wurde, begann er eine Lehre. Dabei wäre er "zum Beispiel gerne Arzt geworden."
Zeitzeuge Klaus E., geb. 1936, über die Schule (Interview am 23.03.2010, Ausschnit 3:11 min, 2,9 MB, MPEG)




 
 
Komplizierter ist die Geschichte von Ernst-Theo G. Bei ihm spielte das Schulgeld keine Rolle, da er - anders als Klaus E. - aufgrund des Gefallenentodes seines Vaters davon befreit war. [205] Aus seinem Evakuierungsort Vorwohle musste er Abschied nehmen, weil er auf der dortigen Dorfschule nach Meinung seiner Mutter nicht genug für die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium lernen konnte (siehe 3.3.9.2). [206] So kam er zunächst nach Langenfeld auf die dortige große Volksschule. Trotzdem schaffte er den Sprung zum Gymnasium nicht, weil er
"ein schwieriges Kind [war A.H.], das unbewusst gegen den erneuten Verlust seiner vertrauten Umgebung protestierte. Der Verlust der Geborgenheit in Vorwohle und der Wechsel von der kleinen Dorfschule in die große Stadtschule werden mich stark verunsichert haben. Dazu der Sprach- und Mentalitätswechsel."

Seine Schwierigkeiten in der neuen Schule in Langenfeld hängen nicht nur mit dem Verlust der Geborgenheit in Vorwohle zusammen, sondern viel weiterreichender mit dem Tod des im Kriege gefallenen Vaters. Hierin ist der eigentliche Grund dafür zu sehen, dass er "ein schwieriges Kind" war. So kam Ernst-Theo G. auf die Realschule in Langenfeld. Das ersparte ihm einerseits ein Fahrschülerdasein - in Langenfeld gab damals noch kein Gymnasium - und bescherte ihm andererseits, wie er in seinen Erinnerungen als Überschrift vermeldet "Glückliche Jahre auf der Realschule."

Marianne H. konnte ebenfalls kein Gymnasium besuchen. Sie stellt fest: Wenn der Krieg nicht gewesen wäre,
"dann hätt' ich studiert. Ich konnte gut und leicht lernen. ... Ich brauchte nur was abzuschreiben, dann konnte ich's auswendig."

Dass sie trotzdem nur die Volksschule in Everswinkel besuchte, hat nach meiner Meinung vor allem mit ihrer Sorge für ihre Schwester zu tun. Marianne H. erzählt nämlich:
"Mich wollte eine Familie in Münster haben und die haben mir gesagt, das war 48, wenn du zu uns kommst, kannst du zum Gymnasium. Wir wissen, dass du das schaffst."

Doch weil Marianne H. nur zusammen mit ihrer Schwester nach Münster wechseln wollte, konnte sie diese Chance nicht nutzen. Auf meine Frage im Interview, warum Marianne H. so sehr für ihre Schwester sorgte, antwortet sie:
"Ja, durch Bayern ist das passiert. Da war sie immer meine kleine Schwester. Da hatten wir ja keine Mami, die uns verteidigen konnte. Da musste ich sie verteidigen." (siehe 3.3.6.1).

Doch nicht nur die Sorge für die Schwester hinderte Marianne H. am Fortkommen. Nachdem sie mit 14 Jahren die Volksschule verlassen hatte, arbeitete sie "als Magd quasi" bei einem Bauern. Mit 18 Jahren wollte sie gerne Krankenschwester werden. Weil aber damals die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren eintrat, benötigte sie die Unterschrift ihrer Mutter unter dem Ausbildungsvertrag. Doch die Mutter unterschrieb nicht.
"Nein, du bist ein Mädchen und dann bist du fertig und dann hast du keine Aussteuer und hast noch nichts verdient."

So begann Marianne H. im Krankenhaus als Stationshilfe auf der Kinderstation.

Das Beispiel von Marianne H. zeigt, dass es nicht allein an Krieg und Evakuierung lag, wenn ein davon betroffenes Kind in Schule und Ausbildung nicht so vorankam, wie es gerne möchte. Von Bedeutung war in der Nachkriegszeit sicher auch gerade bei Mädchen ein festgefügtes Rollenbild. Deshalb gilt es, genau hinzuschauen, wenn es um die Gründe für ein Nicht-Fortkommen geht. Manchmal kann der Grund dafür auch unabhängig von Krieg und Evakuierung sein. Anneliese J. verließ die Annetteschule (Gymnasium) mit dem "Einjährigen"
"einfach, weil ich im Französischen schlecht war. Ich hatte dazu eine zweite fünf zu erwarten. Und ich hatte Freundinnen, die Geld verdienten schon. Und ich wollte eigentlich auch. Ich fand das ganz toll. Ich hatte keine Lust mehr. [...] Dann hab ich meine Eltern bekniet. Die hätten mich länger gehen lassen. Aber ich wollte nicht."

1949 begann sie mit einer Lehre bei einer Versicherung.

Eine differenzierte Sicht erfordert auch das Ergehen von Karl und Heinz L. Noch am Evakuierungsort Telgte starb ihr Vater im Oktober 1951 an einem Blinddarmdurchbruch. So stand die noch im Behelfsheim lebende Mutter
"mit vier Kindern und 153 Mark Rente da. Das Verrückte war ... im April 51 sind wir zur Realschule gekommen. Unsre Eltern haben sich zusammengesetzt und haben gesagt: was machen wir mit den Jungs? Sollen wir die aufs Gymnasium schicken oder zur Realschule? ... Wir wissen nicht, wie die Zeiten sind, wenn die mal studieren. Dann lass die doch erstmal die mittlere Reife machen und dann kann man später aufsetzen."

Doch dazu kam es nach dem Tod des Vaters und der großen Armut der Familie nicht mehr. Dabei hatten die Brüder noch Glück. Die Firma, bei der ihr Vater als Vertreter gearbeitet hatte, zahlte ihnen monatlich eine gewisse Summe Geldes, damit sie die Realschule besuchen konnten. Trotzdem stellen die Brüder fest
"Also es blieb in den Jahren auch nix über. [...] Als unser Vater gestorben ist, ist für uns das Licht ausgegangen. Ich hab das so empfunden. Das war natürlich keine ursächliche Folge des Krieges. Trotzdem, wenn's wirtschaftlich anders gewesen wäre, dann ... wären wir nen anderen Weg gegangen. Da hätten die beiden [Eltern A.H.] sich nicht überlegt, sollen die beiden [Söhne A.H.] aufs Gymnasium gehen."

Beim Besuch des Gymnasiums spielte also neben der Unsicherheit der Zeit die Armut der evakuierten Familien eine große Rolle. Das bestätigt auch Gilla P.:
"Bei uns war immer Armut, sehr bittere Armut."
Das lag auch daran, dass sich der Vater als studierter Pianist nach dem Krieg beruflich völlig neu orientieren musste. Trotz der Armut kommt Gilla P. zum Gymnasium. In der Erinnerung kann sie der Armut sogar eine gute Seite abgewinnen:
"Weil wir kein Geld hatten für den Zug, sind wir meistens zu Fuß über die Bahnschienen gelaufen ... War immer sehr lustig, war ne ganze Clique."

Doch auch Gilla P. machte kein Abitur. Nach einem Unfall auf der Bahn (siehe 4.3.4.2) muss sie für zwei Jahre ins Krankenhaus; deshalb "wars ... aus mit der Schule, weil damals gab's in Krankenhäusern keinen Unterricht."
 
 
 

4.3.3 Freizeit

 
 
 
Im Gegensatz zum Thema Schule hat das Thema Freizeit im Sinne von außerschulischen Aktivitäten bei den Erzählungen der von mir befragten Zeitzeugen keine besondere Rolle gespielt. Einige berichten von ihrer Mithilfe beim Wiederaufbau (siehe 4.3.1). Auch vom Spielen in Trümmergrundstücken und mit anderen Hinterlassenschaften des Krieges ist die Rede. [207] Heinz und Karl L. erinnern sich:
"Vor der Hülle stand noch ne alte Flak oder ein Teil davon, da haben wir immer gespielt, da konnten wir Karussell fahren auf diesem Ding." [208]

Ausführlich berichtet nur Hermann M. über ausgesprochene Freizeitaktivitäten und zwar im Rahmen einer im caritativen Bereich tätigen Jugendgruppe. Ihren genauen Namen wollte er mir nicht verraten. Als Grund dafür vermute ich, dass es Gruppen mit diesem Namen noch heute gibt.
"Wir hatten unsere Gruppenunterkunft im alten zerbombten Clemenshospital ... Das war mitten in der Stadt. [...] Wir wollten uns treffen ...; aber du fandst in Münster keinen Raum. Und irgendwer ist dann pfiffigerweise auf die Idee gekommen ... Mensch, dann guck doch mal da nach. Und dann haben wir tatsächlich unbeschädigte Räume, Kellerräume gefunden. Und die haben wir requiriert. Aus. Feierabend. Da kam kein anderer mit rein, und damit war's das. Aber wir hatten einen, wir nannten das unseren Gruppenraum. Und dann haben wir uns den Raum [mit dem, was an Möbelteilen und anderem Material herumlag, A.H.] eingerichtet. Und dann haben wir da ... zwei ... oder zweieinhalb Jahre ... in den Ruinen des Clemenshospitals gearbeitet."

Zu fragen ist, warum das Thema Freizeit bei den Zeitzeugenberichten so wenig vorkommt. Hauptgrund ist sicherlich, dass es für Kinder in der Zeit gleich nach dem Krieg nur sehr wenige Möglichkeiten für ausgesprochene Freizeitaktivitäten gab. [209] Nicht einmal ein Stadtbummel mit Eisessen und Einkaufen war möglich; denn Hermann M. stellt fest:
"Es gab keinen Grund, in die Innenstadt zu gehen. - Es gab auch keine Geschäfte und Geld hattest du auch nicht."

Darum kann ich die Frage stellen: Was haben Kinder in der Nachkriegszeit eigentlich gemacht, wenn sie nicht in der Schule waren? Antworten darauf finde ich bei meinen Zeitzeugen nur wenige, in der Literatur auch eher für Jugendliche. [210] Vielleicht war es für meine Zeitzeugen nach ihren dramatischen Erlebnissen in der Evakuierung einfach zu banal vom ganz alltäglichen Spielen zu erzählen. Auch wenn es ihnen sicher an Spielzeug mangelte, "gespielt wurde dennoch." [211] Ich bedauere, sie zu diesem Punkt nicht genauer befragt zu haben.
 
 
 

4.3.4 Versorgung

 
 
 

4.3.4.1 Nahrungsmittel

 
 
 
Zur Frage der Versorgung mit Nahrungsmitteln habe ich die knappe Hälfte meiner Zeitzeugen zusammen mit Thomas Abeler im Rahmen unseres Projektes "Aufwachsen in Westfalen" befragt. Er hat Teile aus diesen Gesprächen in seine Arbeit aufgenommen und entsprechend ausgewertet. Ich kann mich deshalb kurz fassen. In einem dieser Gespräche gibt es einen eindrucksvollen Hinweis auf die Mangelsituation in der Nachkriegszeit. Monika S. fällt auf, "dass man in Emsdetten irgendwie plötzlich jemanden sah und den hatten sie an die Wand gelehnt, meistens Frauen, die einfach Kreislaufprobleme oder solche Sachen hatten, was ich als selbstverständlich annahm, hinterher mich wunderte, dass hier in Münster das nicht mehr war." Als sie im Oktober 1951 zurück nach Münster kam, hatte sich also die Versorgung deutlich gebessert; denn ich vermute, dass die Kreislaufprobleme Folge mangelnder Ernährung waren.

Die von mir allein geführten Interviews erweitern das Bild nicht mehr wesentlich. Hermann M. erzählt, wie sie an der Möhne bei Rüthen Fische fingen. Sie warfen die Köpfe geschlachteter Schweine ins Wasser, in denen sich Aale festsetzten. Oder sie füllten aufgesammelte Hülsen von Panzerfäusten mit Schwarzpulver. Durch die Explosion brachten sie die Schwimmblase zum Platzen und holten dann die toten Fische aus der Möhne. Das Ganze klingt für mich sehr nach kindlicher Freude am Abenteuer. Auffällig ist bei allen von mir befragten Zeitzeugen, dass es in ihren Erinnerungen bei der Lebensmittelversorgung keinen spürbaren Unterschied zwischen der Kriegs- und Nachkriegszeit gibt. Neu ist allerdings nach dem Krieg die "Schulspeisung" oder auch die Versorgung mit "Care-paketen". Die Brüder Heinz und Karl L. erwähnen, dass ein bei ihnen eingetroffenes Care-paket auch die nachbarschaftliche Gemeinschaft förderte. In dem Paket befanden sich Zutaten für einen Kuchen. Zum Kuchenessen hat die Mutter
"die ganze Nachbarschaft eingeladen ... Die haben nur geschwärmt. Das wurde alles auf einmal aufgefressen."

Wie die Brüder weiter ausführen, war beim Kuchenessen doch nicht die "ganze Nachbarschaft" dabei. Es kamen nur die vielen in ihrer Nachbarschaft wohnenden Ortsfremden. Die einheimischen Bauern fehlten. Auch wenn Familie L. gute Unterstützung durch einen Bauern in der Nachbarschaft bekommen hatte (siehe 3.3.3.1), so waren sie und die anderen "Fremden" doch noch längst keine Nachbarn im westfälischen Sinn. Dazu bedurfte es unter anderem langjähriger freundschaftlicher Beziehungen.
 
 
 

4.3.4.2 Medizinische Versorgung

 
 
 
Auch hier verweise ich auf die Arbeit von Thomas Abeler, die ich durch meinen Beitrag noch ergänzen möchte. Wie beim Thema Schule spielt auch im Hinblick auf die medizinische Versorgung die Erinnerung an Personen eine große Rolle. Gilla P. erinnert sich an ihren Unfall im "Pängelanton" auf der Fahrt zur Schule: [212]
"Stand ne Kuh auf den Schienen. Und wir standen immer draußen. Da gab's noch solche Plattformen mit diesem Geländer." Als der Zug heftig bremste, musste sie "wohl mit der Seite gegen ... eine Stange rangeraten sein ... Son dicker Opa ist auf mich gefallen. Und abends hatte ich Fieber ... Da hatten wir den Doktor Jackenkroll geholt vom Marienkrankenhaus Wolbeck, der ... war ein Heiliger. Der mit seinem alten VW ... hat ganz Angelmodde, Gremmendorf und Wolbeck da versorgt."

Nicht so gut kommt bei Heinz und Karl L. ein Nervenarzt weg, der ihre Mutter nach dem Tod des Vaters 1951 so mit Medikamenten vollgestopft hat, dass sie entgiftet werden musste. Sein Name ist den beiden Brüdern unvergesslich.

Monika S. hat gute Erinnerungen an den Arzt, der sie 1947 bei ihrer komplizierten Mittelohrentzündung im Krankenhaus behandelte.
"Ich weiß nur noch, dass ich nen ganz, ganz netten Arzt hatte. Das war also ein HNO- Arzt, der mit mir einiges versuchte, was also heute bestimmt nicht mehr gemacht wird. Ich kann mich nur erinnern noch, dass der, ich stand da zwischen seinen Knien, hielt mich irgendwie fest und dann ging das irgendwie so mit heißen Draht oder so was."

Trotz dieser sicher schmerzhaften Behandlung und obwohl ihr noch in einer Operation ein Mittelohrknochen entfernt wurde, zieht sie ein positives Fazit:
"Weil ich da so positive Arzterfahrungen hatte, dass ich lange Zeit dachte, im Krankenhaus kümmert man sich um dich. Das ist eigentlich ne ganz gute Sache, so ganz positive Einstellung Krankenhäusern gegenüber."

Doch ganz so positiv verlief der Krankenhausaufenthalt damals nicht. Monika S. erinnert sich auch daran:
"Ich wollte nur wieder sagen: auch wieder Ängste, Besuch durfte damals nicht kommen oder nur ganz wenig. Und dann bin ich so gedrillt worden auf: ja, (lacht) nimm dich zusammen, es gibt Schlimmeres."

Diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen der positiven Bewertung von Arzt und Krankenhaus und den Ängsten damals kann ich nicht auflösen.
 
 
 

4.3.4.3 Kleidung

 
 
 
Weil Kinder oftmals schnell aus ihrer Kleidung [213] herauswuchsen, war die Versorgung mit auch nur einigermaßen passender Kleidung ein großes Problem. Klaus E. erinnert sich im Hinblick auf den kalten Nachkriegswinter 1946/1947:
"Vor allen Dingen hatten wir auch nicht die nötigen Kleider ... Ich war ja nun auch geschossen. Es gab ja nix. Dann hat meine Oma ... aus der SA-Uniform meines Vaters ... [einen Anzug genäht A.H.]. Ich hatte immer wunde Haut von diesem blöden Stoff, ganz hartes Zeug ... Jeder sah dann, dass mein Vater bei der SA war. (Lacht)." [214]

Ob er deshalb von den Kameraden verspottet wurde, sagt Klaus E. nicht; denn plötzlich kommt ihm ein anderer Gedanke, der sich unmittelbar an sein Lachen anschließt.
"O Gott, wenn man das alles mal so überlegt. Irgendwann möchte ich das meinen Kindern mal erzählen, hab ich eigentlich noch nie so darüber gesprochen."

Obwohl Klaus E. sicherlich viel Belastenderes erlebt hat als das Tragen der scheuernden SA-Uniform seines Vaters, kommt just an dieser Stelle des Interviews bei ihm der Gedanke auf, seinen Kindern von den Kriegs- und Nachkriegserinnerungen zu erzählen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Klaus E. plötzlich ahnt, dass ihm der noch am letzten Kriegstag gefallene Vater (siehe 3.3.4.3) im Stoff seiner SA-Uniform sehr nahe gekommen war. Nicht nur der blöde Stoff war "ganz hartes Zeug." Es war für Klaus E. selbst sehr hart, den Anzugstoff des gefallenen Vaters tragen zu müssen. In diesem Stoff spürte er den gefallenen Vater jeden Tag im kalten Winter 1946/1947 hautnah.

Nicht so dramatisch ist die Erinnerung von Heinz und Karl L. Einer von ihnen erzählt:
"Ich bekam als sieben- oder achtjähriger eine Khakiuniform ... Ganz stolz war ich auf dieses Dingen. Das wurde von den Engländern, glaube ich, verteilt."

Als er längst aus der Uniform herausgewachsen war, wurde es im Alter von 16 oder 17 Jahren schwierig. Die Mutter verlängerte mal wieder die Hosenbeine.
"Ich kann mich noch erinnern: hoffentlich sehen die Mädchen das nicht. Das war so pein."

Heinz oder Karl L. war es im Interview wohl noch immer so peinlich, dass er das Wort nicht ganz aussprechen konnte. Über die Mutter fügt er noch hinzu:
"Sie hat später mal zu uns gesagt, wir wären so toll gewesen. Wir hätten das akzeptiert, dass sie nun [nach dem Tod des Vaters im April 1951 A.H.] nichts hatte."

Ein weiteres Problem war:
"Die Schuhe waren so eng, und dann in dem Winter und kalt. Ich hab immer das Gefühl gehabt, die Zehen werden krumm. Aber ich mochte nicht sagen, dass die nicht mehr passen." [215]
 
 
 

4.3.4.4 Brennstoffe

 
 
 
Besonders der überaus harte Winter 1946/1947 ist in den Erinnerungen der Zeitzeugen präsent. Rudolf M. charakterisiert diesen Winter treffend:
"Es war so kalt, dass wir die Hühner aus dem Hühnerstall in den Keller sperren mussten."

Damit es in den schlecht wärmegedämmten Wohnungen wenigstens einigermaßen warm wurde, musste irgendwoher Holz oder Kohle besorgt werden.

Klaus E. erinnert sich: Sein Bruder, sieben bis acht Jahre alt, und er sind auf Trümmergrundstücke gegangen
"und wir haben dann diese verkohlten Balken geholt, teilweise unter Lebensgefahr, mit Seilen aus verkohlten Wänden rausgerissen ... Dann haben wir gesägt; denn das Mittelstück der Balken war ja immer noch gut. Das konnte man ja brennen." [216]

Doch das Heizen reichte nicht immer aus:
"Wenn's zu kalt war, dann hat meine Mutter uns alle drei auf son Sofa gepackt und hat uns mit Decken zugewickelt. Und sie hat ihren Pelzmantel angezogen, weil der Ofen auch nicht richtig geheizt hat, da in diesem Riesenraum."

Als Erinnerung an die gefährliche Holzbeschaffungsaktion hat Klaus E. bis heute die Säge "noch in der Garage" aufbewahrt. Damit sie nicht verloren geht, hat er zu seinem Sohn gesagt: "Wehe, du schmeißt die Säge weg."

Da Karl und Heinz L. nach dem Krieg noch für etliche Jahre im ländlichen Bereich in Telgte wohnten, ging es zur Brennholzgewinnung in die nahen Wälder.
"Wir knurrten dann immer: ist nichts mehr da. Die Wälder waren völlig leergefegt. Weil alles rausging und holte. Die haben Knüppel oben in die Bäume geworfen, damit dann vielleicht noch son Ast abbrach."

Ein wesentlicher Grund für die "leergefegten" Wälder war, dass dort auch viele Menschen aus Münster nach Brennholz suchten. Dabei kam es durchaus zu Konflikten:
"Jeder hatte seinen bestimmten Bezirk und das wurde richtig verteidigt. Wenn dann Fremde kamen, ... gab's Keile."

Solche "bestimmten Bezirke" gab es übrigens auch für das Sammeln von Waldfrüchten wie Himbeeren oder Brombeeren. Weil aber angesichts der leeren Wälder das Holz nicht ausreichte, geschah eines Tages Folgendes:
"Es kam ein LKW vorgefahren und da machte es Platsch. Der hatte Schlammkohle ... Und das wurde nachher so fest, das musste man loshacken. Und da drin hatten sich nachher auch Ratten eingenistet, untendrunter, durch die Schlammkohle durch. Das musste unsre arme Schwester ... da rausholen."
Zeitzeugen Heinz und Karl L., beide geb. 1940, über Brennstoffe (Interview am 26.01.2010, Ausschnit 3:30 min, 3,2 MB, MPEG)




 
 
Auch nach dem harten Winter 1946/1947 waren Brennstoffe knapp. Glück hatte dabei Bernhardine C. Sie erinnert sich an einen Mann, der in ihrem Haus wohnte. Er war bei der Bahn beschäftigt und konnte deshalb Hinweise auf das Eintreffen von Kohlenzügen geben. "Meine Oma hat dann Kohlen geklaut." [217] Dass der Kohletransport nicht ungefährlich war, zeigt die Erinnerung von Bernhardine C. deutlich. Die Oma umwickelte die Räder des Transportkarrens mit Lumpen, "damit das nicht so klapperte." Aber dafür gab es dann auch richtige Kohle, keine Schlammkohle wie bei Familie L.
 
 
 
 

5. Zusammenfassung als Beitrag
zum Thema Kriegskinder

 
 
 

5.1 Der Begriff Kriegskinder

 
 
 
Alle von mir befragten Zeitzeugen gehören zur Gruppe der Kriegskinder; denn Kriegskinder sind Kinder, die "im Kriege geboren wurden oder den größeren Teil ihrer Kindheit im Kriege erlebt haben." [218] Gemeint ist dabei der Zweite Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg gab es zwar auch für Kinder zahlreiche Belastungen bis hin zum Tod des Vaters im Feld; aber das löste im Allgemeinen keine Traumatisierungen aus. Die Kinder des Zweiten Weltkriegs dagegen mussten unter Bombenkrieg, Evakuierung, Flucht und Besetzung Deutschlands leiden. Das aber hatte Folgen, die bis heute zu spüren sind; darum gilt für Kriegskinder, was Erich Kästner 1946 bemerkte:
"Der Krieg ist vorbei und noch immer nicht aus." [219]

Einer meiner Zeitzeugen, Ernst-Theo G., drückt das in seinen Lebenserinnerungen so aus:
"Ein Krieg ist erst zu Ende, bis alle Menschen, die ihn durchleiden mussten, gestorben sind. Dies gilt selbst für uns Kleinkinder des Zweiten Weltkrieges, deren Vertrauen in die Welt durch Angst und Schrecken in den ersten Lebensjahren beschädigt wurde, auch wenn wir uns an diese Zeit nur noch bruchstückhaft erinnern können."

Auch schon für die Kriegserfahrungen von Kleinkindern gilt, was Michael Ermann und Gisela Reddemann übereinstimmend formuliert haben: "Der Körper vergisst nicht(s)." [220]

Das Thema Kriegskindheit hat in den letzten Jahren viel Beachtung erfahren. Es erschienen Bücher und Zeitschriftenartikel, Filme und Fernsehsendungen. [221] Fachtagungen fanden statt. [222] Forschungsgruppen und Hilfsprojekte sind entstanden. [223] Ein naheliegender Grund für das Interesse an der Kriegskindheit ist, dass die Generation der Kriegskinder allmählich ausstirbt. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Kriegskinder selbst "erst seit wenigen Jahren ... begonnen [haben A.H.], ihr Schweigen zu brechen." [224] Michael Ermann begründet dieses jahrzehntelange Schweigen damit,
"dass Kriegskinder im Allgemeinen ein merkwürdig gespaltenes Bewusstsein für ihr Schicksal haben und ihre Verletzungen und Bekümmerungen lange nicht annehmen und betrauern konnten ... So blieb ihre Identität als Kriegskind ihnen lange fremd." [225] Viele Kriegskinder haben ihr "Schicksal ... immer schon gekannt; aber jahrzehntelang verleugnet." Dazu trug seiner Meinung nach auch bei, dass "die Kinder in der Zeit der Not und des Wiederaufbaus wenig vorkamen - jedenfalls nicht als Kinder mit dem Urbedürfnis nach einem schützenden und verstehenden Gegenüber."

Doch so aktuell die Beschäftigung mit den Kriegskindern ist, neu ist das Thema nicht. Anna Freud legt bereits im Zweiten Weltkrieg zusammen mit Dorothy Burlingham Jahresberichte über "die Arbeitsverhältnisse und Erfahrungen in einem Kriegskinderheim Englands" vor. [226] Es wurde im Ende 1940 gegründet und nahm Kinder aus besonders gefährdeten Bereichen Londons auf. Nach ihrer Beobachtung haben
"viele Kinder ... die Aufregungen des Londoner Bombardements besser vertragen als die zu ihrem Schutz vorgenommene Evakuierung aus der Gefahrenzone".

Der Grund für das schlechtere Vertragen der Evakuierung liegt für Anna Freud und Dorothy Burlingham in der plötzlichen Trennung von den Eltern, insbesondere der Mutter, bei der Aufnahme im Kinderheim. Im Gegensatz dazu wurden bis auf eine Ausnahme (Marianne H., siehe 3.3.6.1) die von mir befragten Zeitzeugen zusammen mit ihrer Mutter evakuiert. Das bewahrte sie vor den bei Anna Freud und Dorothy Burlingham geschilderten psychischen Schäden der Evakuierung. [227]
 
 
 

5.2 Zeitzeugen

 
 
 
Annemarie und Norbert Ohler stellen nach ihren Erkundungen über die Jahre 1939 bis 1949 fest:
"Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen hat das friedlose Jahrzehnt nicht nur überlebt, sondern erstaunlich gut überstanden." [228]

Etwas in Frage gestellt wird das durch Zahlen von Hartmut Radebold. Er gibt an, "dass ca. 25 % der Jahrgänge 1930-32 bis 1947-48 unter lang anhaltenden und weitere 20 % bis 25 % unter dauerhaft beschädigenden Einflüssen Kindheit und Jugendzeit erlebten und erlitten." [229] Diese Zahlen für "Kindheit und Jugendzeit" sind zu ergänzen im Hinblick auf die Langzeitfolgen der Kriegsschädigungen, die sich im Alter bemerkbar machen. Dazu nennt Emmy Werner "eine überwältigende Mehrheit" von Kriegskindern, bei denen keine signifikante Beziehung zwischen Kriegserlebnissen und "psychischen Störungen im Alter" besteht. [230] Eine "neue interdisziplinäre Studie über [die A.H.] Generation der Kriegskinder" der Uni Münster stellt fest:
"'32 % der Befragten fühlten sich durch diese Ereignisse [im Krieg A.H.] schwer belastet ... Aber das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Rest diese Situationen nicht mehr als traumatisch empfindet." [231]

Wegen der geringen Zahl meiner Zeitzeugen stelle ich keine eigenen Berechnungen an, obwohl viele von ihnen darüber reden, wie sie die Zeit von Bombenkrieg und Evakuierung überstanden und vor allem was für Spätfolgen sich aus ihren Erlebnissen im Bombenkrieg und in der Evakuierung ergeben haben.
 
 
 

5.2.1 Zeitzeugen ohne Schädigungen

 
 
 
Viele meiner Zeitzeugen gehören zu der Gruppe der Kriegskinder, die keine psychischen Folgen von Bombenkrieg und Evakuierung aufzuweisen haben. Sie haben alles anscheinend "gut überstanden." Sie leiden nach ihren Aussagen nicht unter Albträumen, Ängsten oder anderen Symptomen einer "Posttraumatischen Belastungsstörung" (PTBS). [232] Offensichtlich verfügen sie über eine große "psychische Widerstandskraft."
"Sie sind - vielleicht sogar trotz großer Belastungen in der Kindheit - gesund geblieben und können Lebenskrisen gut überwinden." [233]

Mit dieser Widerstandskraft beschäftigt sich die Resilienzforschung. Sie befasst sich mit dem
"Phänomen, dass manche Personen trotz vielfältiger ... anhaltender extremer Stressbedingungen keine psychischen Störungen entwickeln, bzw. in der Lage sind, sich vergleichsweise schnell von traumatischen Erfahrungen ... zu erholen." [234]

Der Resilienzforschung geht es also weniger um die Suche nach Defiziten. Sie fragt
"vielmehr nach Ressourcen, ... nach heilenden Kräften ..., die in der Persönlichkeit des Kindes selbst und/oder in einer unterstützenden sozialen Umwelt liegen und in der Regel genutzt werden, um bereits im Kindesalter oder langfristig im Erwachsenenalter den Risiken nachhaltiger psychischer Beschädigung etwas Positives entgegensetzen zu können." [235]

Bei Heinz und Karl L. liegt die Widerstandskraft anscheinend in ihrer Persönlichkeit. Sie halten sich selbst für Frohnaturen. Dass sie das auch tatsächlich sind, ist in dem Interview mit ihnen deutlich zu spüren. Sie erzählen munter und lebendig von den abenteuerlichen und lustigen Seiten der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Als sie beispielsweise vom "Schwarzschlachten" berichten, fällt ihnen nur ein, wie das Schwein erst mal entlaufen war und ihre Mutter und eine Nachbarin das Schwein vor "lauter Lachen" kaum fangen konnten. Auch vom blutigen Geschäft des Schlachters, Fränzken genannt, sagen sie nichts. Stattdessen erzählen sie: Er
"hat die Augen von diesem Schwein in Streichholzschachteln gepackt und hat gesagt: hier, willste mal Feuer haben? Und da war natürlich (alle lachen). Das waren die Scherzchen, die man so machte."

Wirklich belastend war für die Brüder der Tod des Vaters im Oktober 1951; aber dieser Tod geschah nach einer Fehldiagnose bei einer Blinddarmentzündung und war keine Kriegsfolge. Freilich vergrößerte der Tod des Vaters die kriegsbedingte Armut der Familie in der Evakuierung.
 
 
 
Auch Gilla P. ist anscheinend ohne Schäden davongekommen.
"Ich erinnere mich nicht, dass ich in irgendeiner Weise irgendwann Angst hatte ... Ich fühlte mich sehr behütet. Wir wurden [in der Zeit der Bombardierungen A.H.] in Trainingsanzügen abends ins Bett gelegt und irgendwann nachts wach gemacht. Ich wurde getragen ... Und dann waren wir unten im Keller und dann ging das so richtig, aber ordentlich los."

Gilla P. verneint zwar meine Frage nach Albträumen oder Platzangst nicht, aber sie fügt sofort hinzu:
"Das ist eine andere Sache und hat damit [mit Krieg und Evakuierung A.H.] nichts zu tun."

Dass sie alles so heil überstanden hat, wundert sie selbst:
"Ich frage auch immer meine Schwester, ob sie das auch so sieht, weil ich manchmal denke, das kann doch eigentlich gar nicht sein. Rundherum sind alle nur am Jammern und am Leiden ... Dann sagt meine Schwester: Nein, es war ganz genau so. Wenn wir nicht weiter wussten, dann hat meine Mama gesagt: was singen wir denn jetzt mal, (singend:) was singen wir denn jetzt mal. Und dann ging's los."

Doch auch hier gibt es einen Todesfall: 1949 stirbt die fünfjährige Schwester. Das schränkt die guten Erinnerungen an die damalige Zeit ein:
"Also, es war nicht alles nur schön. Das war ne ganz schlimme Zeit. [...] Polypenoperation, danach ist sie verdurstet."

Erst später fällt mir auf, dass Gilla P. drei religiös besetzte Begriffe gebraucht hat: Sie fühlte sich "behütet", sie "wurde getragen" und "getröstet" (siehe 2.3.2).

Auch Bernhardine C. scheint heil davongekommen zu sein. Ihre einzige im Interview berichtete Erinnerung an den Bombenkrieg hat etwas Rührendes an sich: Sie bedauert, vom Eingang des Luftschutzkellers weggeholt worden zu sein, von dem aus sie die Scheinwerfer der Flak sehen konnte. Sie erinnert sich an die Puppe, die oben auf dem Schutthaufen ihres zerstörten Hauses lag. In der Zeit ihrer Evakuierung nach Marienfeld wurde sie weitgehend liebevoll behandelt. Nur der "Pflegevater", der aber keine große Rolle spielte, war nicht nett zu ihr. Noch heute fährt sie nach Marienfeld und pflegt das Grab ihrer "Pflegemutter." An einer Stelle des Interviews wird deutlich, dass es doch Schwierigkeiten gab. Als Bernhardine C. gleich nach ihrer Ankunft 1942 in Marienfeld zur Schule ging, konnte sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren; denn sie spielte immer mit dem Griffel und passte nicht auf.
"Das zeigt, dass ich doch eine Belastung hatte, die ich aber gar nicht gespürt habe."

Ich vermute, die vielen schönen Erinnerungen an Marienfeld überdecken die damals auch vorhandenen kindlichen Ängste und Sorgen in der Evakuierung.

Erstaunlich finde ich, dass auch Klaus E. meint, ohne fühlbare Schädigungen davongekommen zu sein, obwohl sein Vater noch am letzten Kriegstag gefallen ist. Meine Frage nach schlimmen Träumen beantwortet er klar und eindeutig:
"Ne, ne, das hab ich nicht. Das einzige, wovon ich träume ist von meiner Firma, bei der ich später war. [...] Ich bin da sehr lebensbejahend und eigentlich ein ganz fröhlicher Zeitgenosse. Ich hab neulich noch was Lustiges erlebt: War ich beim Orthopäden, weil mir oben meine Schulter ein bisschen wehtut. Und dann hab ich gesagt, ob das wohl aus der Zeit stammen könnte von 44, als ich so an der Straße stehen musste mit der Schule und den Arm immer hoch. Da hat der mich angeschrien, weil der kannte mich nicht. Und da hat der gesagt: (mit verstellter Stimme) Das ist typisch, jetzt wollen die noch für diese Zeit ... ne Rente beantragen. (Lachen)."

Nach dem Lachen sagt Klaus E. noch etwas sehr Wichtiges:
"Meine Kindheit war zu Ende ..., als unser Vater tot war. Ich musste mich anständig benehmen, ich durfte keinen Blödsinn machen. Ich musste für die Familie sorgen. Dann hab ich da gesagt, gut, ich kann nicht auf die höhere Schule gehen. Ich verdiene jetzt Geld." - A.H.: "Sie waren damals elf Jahre und da waren Sie quasi schon erwachsen." - Klaus E.: "Ja, ... ich bin einfach von heute auf morgen erwachsen geworden. [236] Ich hab die Buden tapeziert und gestrichen zu Hause, ... teilweise mit 13/14 Jahren."

Erst im Nachhinein habe ich festgestellt, dass Klaus E. beim Tod des Vaters nicht schon 11 oder gar 13/14 Jahre, sondern erst 9 Jahre alt war. Offensichtlich ist das aber Klaus E. selbst nicht mehr klar, wie jung er wirklich war, als er nach dem Tod des Vaters plötzlich erwachsen sein musste.

Nicht nur bei Klaus E., auch bei anderen Zeitzeugen habe ich den Eindruck gewonnen, dass hinter ihrem oft munteren, manchmal sogar witzigen Erzählen traumatische Erlebnisse verborgen sein können. Das heißt aber nicht, dass die Kriegskinder, die Bombenkrieg und Evakuierung meinen "gut überstanden" zu haben, nur nicht genau hingeschaut, vieles verdrängt oder mit launigen Worten übertüncht hätten. Es gilt festzuhalten, dass es offensichtlich eine Reihe von Zeitzeugen gibt, die trotz ihrer Erlebnisse als Kinder in Bombenkrieg und Evakuierung keine Schäden verspüren. Drei Gründe sehe ich dafür: Zum einen besitzen manche Menschen eine fröhliche, lebensbejahende Natur, die auch durch bedrückende Kriegserlebnisse nicht zerstört wurde. Zum anderen sind manche Kriegskinder von besonders schlimmen Erfahrungen im Bombenkrieg oder auch in der Evakuierung verschont geblieben oder haben manches nicht als so besonders traumatisch erlebt. Zum dritten gilt: Die von mir in diesem Abschnitt genannten Zeitzeugen wurden bei den Bombenangriffen und in der Zeit der Evakuierung nicht von ihren Müttern getrennt; denn "der Trennungsschmerz des kleinen Kindes" ist tiefreichend und hat große Folgen. [237] Diese Gründe entsprechen weitgehend den Ergebnissen der Resilienzforschung.
 
 
 

5.2.2 Zeitzeugen mit Schädigungen

 
 
 
Während ich bei den im vorigen Abschnitt genannten Zeitzeugen keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Belastung durch den Bombenkrieg und die Situation in der Evakuierung feststellen kann, ist das bei Anneliese J. anders. In der Kinderlandverschickung hat sie es gut, zumal auch ihre Mutter in der Nähe auf einem Bauernhof untergekommen ist und sich um sie kümmern kann. Doch die Belastungen durch den Bombenkrieg lassen sie bis heute nicht los:
"Wenn ich Brandgeruch heute rieche, dann erinnere ich mich sofort daran."

Das ist als "Flash-back" ein typisches Merkmal einer PTBS. Da sie bei der Bombardierung ihres Hauses einen verschütteten Kellerausgang nicht mehr benutzen konnte, hat sie
"heute noch eine (betont) unheimliche Platzangst, eine Phobie. Ich ... brauche immer nen Fluchtweg."

Sie erzählte nach Beendigung des Interviews schon im Weggehen, dass sie erst vor kurzem beim Besuch in Berlin in einem Stadtbus Platzangst bekam, als dieser Bus, vielleicht vor einer Ampel, im Stau steckte. Schlimm ist für sie, schon in alltäglichen Situationen erleben zu müssen,
"dass ich nicht weg kann ... Das ist ein ganz großes Problem bei mir."

Sie erinnert sich im Gespräch noch immer deutlich an eine Metalltür im Luftschutzkeller, die eine Gummidichtung besaß und mit einem Hebel zugemacht wurde. Das heißt für sie bis heute:
"Wir haben hier eigentlich auch immer offene Türen. Ich brauch das irgendwie."

Schwer wurde es für sie, als sie
"vor längerer Zeit mal durch die Röhre [musste A.H.], dann hab ich gesagt: Also ich kann das nicht. Das ist aber nur kurz, das Gefühl; aber ich bin fest da drunter. Dann haben sie mir auch was zur Beruhigung gegeben."

In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass sie noch nie geflogen ist:
"Das Gefühl, die machen die Tür zu. Da gibt es keine Möglichkeit, da raus." Mit einem Anflug von Humor fügt sie hinzu: "In der Luft aussteigen ist nicht so gut."

Bemerkenswert ist, dass Anneliese J. im Sommer 1943 in die KLV kam. Sie musste also die Zeit mit den meisten Luftangriffen auf Münster nicht mehr miterleben. Sie stellt völlig zu Recht fest: "Die Jahre vorher, das hat schon gereicht." Insofern war für sie die Zeit in der KLV eine große Befreiung. Doch obwohl sie dort, wie sie meint, ziemlich abgeschirmt war, erfuhr sie von ihrer Mutter vom ersten Tagesangriff auf Münster am 10.10.1943 (siehe 2.3.3.2) und vom Bombentod einzelner Mütter in Münster (siehe 3.3.6.2.1).

Marianne H. leidet ebenfalls noch heute unter den Folgen des Krieges, auch wenn die Albträume vom Anfang ihrer Ehe oder das panische Rennen ins Haus, wenn Reklameflugzeuge "mal ne Kurve drehten", anscheinend verschwunden sind. Sie machte sich dann klar: "Ist doch gar kein Krieg mehr." Wie Anneliese J. hat auch sie Angst in geschlossenen Räumen:
"Räume ohne Fenster kann ich nicht haben." Als ihr Mann 1989 "aus dem Laden unten ne Wohnung machen wollte", brach sie zusammen; denn zur "Ostseite wär kein Fenster gewesen. Da wären zwei Zimmer ohne Fenster gewesen. Also Glasbausteine, ja; aber kein Fenster zum Öffnen."

Nach diesem Zusammenbruch fährt sie an den Tegernsee zur Kur. Ob dieser Zusammenbruch 44 Jahre nach Kriegsende auch mit ihren insgesamt schlimmen Erfahrung in der KLV zusammenhing (siehe 3.3.6.1), vermag ich nicht zu sagen. Denkbar ist das für mich durchaus; denn Marianne H. hatte nur eine Pflegemutter, die sie nicht begleiten konnte, als sie schon im Alter zwischen 4 ½ und 6 ½ Jahren in der KLV war. Erstaunlich ist, dass Marianne H. keine Probleme beim Fliegen hat. Sie berichtet von einigen Interkontinentalflügen. Auch eine Untersuchung in der "Röhre" hat ihr nichts ausgemacht. [238] Dafür gab es einen Grund:
"Ich war in der Pflege. [...] Das hab ich gut überstanden, weil ich wusste, was auf mich zukommt."
Zeitzeugin Marianne H., geb. 1936, über die heutige Angst in geschlossenen Räumen (Interview am 12.03.2010, Ausschnit 3:31 min, 3,2 MB, MPEG)




 
 
Ebenfalls von heftigen körperlichen Reaktionen berichtet Ernst-Theo G. Als er im Jahr 2000 (!) in der Zeitung einen Leserbrief entdeckte, in dem jemand seine schrecklichen Erlebnisse in einem Luftschutzkeller beschrieb,
"sprach mein Körpergedächtnis an und versetzte mich wieder zurück in die ... Bombennächte ... Mit Urgewalt begann mein Körper zu beben, die Bauchdecke wurde hart und Tränen schossen mir in die Augen."

Doch nicht nur die "Flash-back" artige Erinnerung an die Not im Luftschutzkeller belastet Ernst-Theo G. Immer wieder kommt er auf den Soldatentod seines Vaters zurück.
"Im Bett weinte ich heimlich voll schmerzlicher Sehnsucht nach meinem Vater. Ich lebte damals und noch Jahrzehnte danach mit dem Gefühl, ein ungewöhnlich schweres Schicksal tragen zu müssen."

Das bedeutet für ihn die "Sehnsucht nach dem nicht gelebten Leben mit meinem Vater." Dazu gehört aber auch eine besondere Botschaft für sein Leben: Weil schon der Vater gestorben war, sagt er sich:
"'Du darfst nicht früh sterben, das wäre für deine Familie die größte Qual.'"

Ernst-Theo G. schreibt seit ein paar Jahren in beeindruckender Weise im Sinne einer Schreibtherapie seine Lebenserfahrungen auf, aus denen ich in meiner Darstellung zitieren darf. Wichtig ist ihm dabei, seine eigenen Erfahrungen in den Rahmen der wissenschaftlichen Forschung über die Kriegs- und Nachkriegszeit zu stellen. Zu bemerken bleibt noch, dass Ernst-Theo G. die Evakuierungszeit als Befreiung erlebte, weil er dadurch den zahlreichen, heftigen Bombenangriffen auf seine Heimatstadt Essen entkommen war.

Besonders ausführlich hat Monika S. über ihr Leiden gesprochen. Als sie von der Zeit der Evakuierung in Emsdetten erzählt, erinnert sie sich daran,
"dass ich da unglaublich Angst hatte, meine Eltern zu verlieren, wenn die nur aus dem Haus gingen. Und das ... hat sich ne ganze lange Zeit gehalten."

Monika S. denkt an manchen Abend, an dem die Eltern in einem etwa einen Kilometer entfernten Kleingarten arbeiteten,
"dass mich da Nachbarn häufiger auf der Straße fanden, so mit fünf/sechs Jahren, weil ich eben Angst hatte, dass was passierte wieder. Und dieses Rausrennen im Nachthemd, dass die [Nachbarn A.H.] mich dann beruhigten. Teilweise konnten die Eltern dann zusammen nicht mehr gehen. Die haben sich abgewechselt. Also das war son Thema, ganz diffus. Ich weiß gar nicht wieso. Also konnte mir das auch nicht erklären und meine Eltern haben nur gedacht, ja, das wird sich schon legen."

Aber es legte sich nicht.

Monika S. fühlte sich viele Jahre lang unter Druck, so dass sie unter Rückenproblemen und Schlaflosigkeit litt. Sie stellt fest:
"Das Leben ist hart, das Leben ist nicht einfach, es wird einem nichts geschenkt."

Als Ursache ihrer Probleme vermutet sie:
"Bei soner unruhigen Jugend mit so viel Ängsten, mit so viel Veränderungen, und schlechter Ernährung und diese Strenge, auch hier Schule, das hat alles das aufgebaut, dass ich eigentlich ganz lange das Gefühl hatte, du musst dich anstrengen und du kannst, darfst auch nicht sagen, was du möchtest." Entscheidend dazu beigetragen hat "dies Gefühl, ich muss für meine Eltern sorgen, fast, ich würde sagen, durch diesen Krieg ist es, sicher hat das damit zu tun, eine ungesunde, enge Bindung." [239]

Zusammenfassend stellt sie fest:
"Die Loslösung von Zuhause, die ist mir nicht gelungen."

Solche misslungene Ablösung vom Elternhaus gibt es auch in Friedenszeiten; aber bei Monika S. ist ein wichtiger Grund in der kriegsbedingten Evakuierung zu suchen. Sie sagt:
"Was ich so ... empfunden habe im Nachhinein, dass man mir als kleines Kind übertragen hat, und dass ich dann in mir auch wusste, wie meine Mutter, ... die Nächte da verbracht hat bei ihren Verwandten [in Emsdetten A.H.], die sie auch so nicht unbedingt gern dann da aufnahmen, wo sie mithelfen musste, wo wir nicht an die Schränke gehen durften, weil da irgendwas, ne Wurst behalten wurde. Wir hatten Hunger und durften da nicht rangehen."

Interessant ist die sicher unbewusste Wortwahl. Der Ausdruck "übertragen" meint hier, dass Monika S. in der Zeit der Evakuierung eine Art Botschaft mit auf den Lebensweg bekommen hat: Du musst für deine Mutter oder deine Eltern sorgen, weil sie es schlecht haben und hungern müssen. [240] Erst nach dem Tod der Eltern, die beide gut 50 Jahre nach Kriegsende gestorben sind, kann sie sagen:
"Ich habe jetzt das Gefühl, du bist ganz für dich selbst da."

Nachdem sie eine Gesprächstherapie - übrigens als einzige meiner Zeitzeugen - durchgeführt hat und in Altersteilzeit gegangen ist, kann sie endgültig aufatmen:
"Da habe ich so das Gefühl gehabt: jetzt ist die Zeit gekommen, ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern, ich kümmere mich jetzt um mich ... Jetzt endlich weiß ich: ich stimme und ich lass mich auch nicht von irgendwelchen Dingen groß beeinflussen oder beeindrucken, also ne ganz späte Emanzipation kann man sagen. [241] Noch nicht zu spät, aber spät wars bis hin zu, was früher auch ein ganz wichtiger Punkt war, Druck von der katholischen Kirche ... Das hat alles sehr, sehr lange gedauert."

Gleich im Anschluss daran sagt sie:
"Ich will überhaupt nicht abstreiten, dass wir wunderbare Kindheitserlebnisse gehabt haben, z. B. Natur mit Spielen."

Das bezieht sie ausdrücklich auf die Zeit der Evakuierung; denn danach gab es "in Münster plötzlich Enge und diese schlimme Umgebung, dieses Gefährliche."
Zeitzeugin Monika S., geb. 1942, über ihre Kriegskindheit (Interview am 26.01.2010, Ausschnit 3:45 min, 3,4 MB, MPEG)




 
 
Für Monika S. ist es noch "interessant zu sehen, ich bin da nicht alleine." Von einer Freundin hörte sie, dass deren Mann, der mit 16 Jahren, also fast noch als Kind, an die Front musste,
"ausem Bett sprang und dann irgendwie Befehle gab oder irgendwas sagte. Der hat dann so quasi schlafwandlerisch Kriegsträume gehabt und das kam bei ihm eigentlich so erst ab 65 langsam überhaupt raus. Das war so ein praktischer Fall aus dem Bekanntenkreis, wo mir ich denke, wie viele Leute was verdrängen und wollen da auch nicht darüber sprechen. [242] Er hat dann lieber zu Schlaftabletten gegriffen. Das war seine Lösung. Lange zu Schlaftabletten gegriffen und die Frau wusste nicht warum."

Da hat es Monika S. mit ihrer Therapie besser getroffen. Gerade ihr Beispiel zeigt, dass das psychische Leiden eines Kriegskindes nicht ausschließlich auf den Krieg zu schieben ist, auch wenn er eine entscheidende Rolle spielt. Es kommen bei Monika S. noch andere Faktoren dazu: ein Vater, der infolge seiner Erfahrungen im Krieg und als Justizbeamter in der Nachkriegszeit seine Töchter mit großer Strenge erzog, eine Mutter, die vieldeutig sagte: "Die Ehe ist kein Zuckerschlecken", eine strenge Moral durch die Kirche und nicht zuletzt die engen Grenzen, die ihr als Mädchen gesetzt waren; denn nicht nur einmal betont sie im Gespräch, dass ihr nach dem Krieg geborener Bruder viel mehr Möglichkeiten zur Entfaltung hatte.
 
 
 

5.3. Über das Erinnern der Zeitzeugen

 
 
 
Bei den von mir befragten Zeitzeugen fällt auf, wie lebhaft sie sich an die Zeit des Bombenkrieges und der Evakuierung erinnern. Das wird deutlich in ihrem nur von wenigen Pausen unterbrochenen Redefluss. Dabei sind viele Gefühle zu spüren: Betroffenheit und kurzes Schweigen, aber auch Heiterkeit und Spaß an einem "Döneken". [243] Nur einmal flossen Tränen bei den Interviews: Bernhardine C. erinnert sich an ihren Abschied aus dem Evakuierungsort, an dem sie gerne noch länger geblieben wäre. Unübersehbar ist noch ein anderes Gefühl: Stolz. Hermann M. ist stolz auf seine Mithilfe beim "Organisieren" von Lebensmitteln am Ort seiner Evakuierung. Er ist stolz auf seine Mithilfe in Münster beim "Steinepicken." Gilla P. zeigt mir beim Gespräch in ihrer Wohnung stolz einen kleinen Hocker, den sie damals "besorgt" hat. Dass es dabei nicht streng nach Recht und Gesetz zuging, erhöhte den Reiz des Abenteuers. Im Gespräch mit den Brüdern L. ist noch ihr Stolz darüber zu spüren, dass sich ihre Mutter über sie bei all der Armut der Familie nicht beklagen musste.

Das lebhafte, von Gefühlen begleitete Erinnern zeigt, dass auch noch nach über sechs Jahrzehnten vieles aus Bombenkrieg und Evakuierung nicht vergessen ist. Dabei geht es um selbst erlebte Ereignisse. Politische Entwicklungen, der Krieg als militärisches Geschehen, auch schulische Lehrpläne spielen keine Rolle. Bedeutung hat das, was die Kinder am eigenen Leibe erlebt oder mit eigenen Augen gesehen haben. Ihre Geschichte als Kriegskinder besteht aus vielen kleinen Geschichten. Personen haben nur insofern Bedeutung, als die Kinder ihnen in Gestalt von Lehrern oder Ärzten und besonders als Familienangehörige oder auch Nachbarn unmittelbar begegnet sind. Dabei erscheint der Rückhalt durch die Familie als so selbstverständlich, dass das kaum thematisiert wird. Als Anneliese J. im KLV-Lager ist, kam die Mutter nach Reit im Winkl nach. Diese und die anderen Mütter sorgten auf vielfältige, als völlig selbstverständlich empfundene Weise für ihre Kinder. In der Nachkriegszeit bauten die Väter von Martin H. und Rudolf M. die zerstörte Wohnung Zimmer für Zimmer so weit auf, dass die Familie schließlich nach Münster zurückkehren konnte. Nur Marianne H. fühlt sich sehr von ihrer "Pflegemutter" im Stich gelassen. Insgesamt aber gilt: Wenn Markus Köster "'Zerrüttung und Bewährung'" als Kennzeichen der Familie in der Nachkriegszeit ansieht, so kann ich von meinen Zeitzeugen her nur von "Bewährung" der Familie sprechen. [244]
 
 
 

5.4 Zum Verhältnis von Krieg und Evakuierung

 
 
 
Die Evakuierung ist Folge des eskalierenden Bombenkriegs. Die von mir genannten Zeitzeugen wurden als Kinder aus dem luftkriegsgefährdeten Münster ins wenig gefährdete Münsterland oder Bayern gebracht [245]. Doch auch dort blieben sie vom Krieg nicht verschont. Anneliese J. erfuhr in der nur scheinbar abgeschirmten KLV von der ersten Tagesbombardierung Münsters und auch davon, dass die Mütter zweier Schulkameradinnen durch Bomben ums Leben gekommen waren. Monika S. musste auch in Emsdetten in den Luftschutzkeller. Klaus E. fand nicht nur die Leichen zweier abgestürzter Flieger, sondern musste auch am letzten Abend des Krieges noch den Tod seines Vaters ganz in der Nähe mitbekommen. Im sonst so friedlichen Rüthen überstand Hermann M. einen Tieffliegerangriff nur knapp. Dazu kommt, dass die Väter durch ihren Kriegsdienst häufig abwesend oder gar gefallen waren. Trotz des Kriegseinsatzes gelang es einigen von ihnen, für die Evakuierung wertvolle Hinweise oder auch praktische Hilfen beim Umzug zu geben. Es gibt keinen Zweifel: der Krieg ging auch für die Kinder in der Evakuierung weiter, wenn auch nicht mehr so bedrohlich wie in Münster.

Mit der Kapitulation am 08.05.1945 endete der Krieg, nachdem im Münsterland schon einen guten Monat vorher die Waffen schwiegen. Meine Zeitzeugen erinnern sich häufig an den Einmarsch der Amerikaner. Dabei haben sie noch besonders die schwarzen Soldaten vor Augen, die sich als kinderfreundlich erwiesen. Hermann M. denkt sogar noch daran, dass die Amerikaner den Kindern nicht nur Schokolade geschenkt, sondern sie regelrecht mit Mittagessen versorgt haben. Erstaunlich ist für mich, dass sich ansonsten keine großen Änderungen durch das Kriegsende ergeben. Das Leben in der Evakuierung ging seinen gewohnten Gang ziemlich unverändert weiter. Der Kampf um Lebensmittel, Kleidung und Brennstoffe, besonders in dem überaus kalten Winter 1946/1947, hörte nicht auf. Insofern bedeutet das Kriegsende keinen plötzlichen, tiefen Einschnitt. Ich kann Elisabeth Domansky und Jutta de Jong zustimmen, wenn sie feststellen, "dass der zeitgenössische Begriff 'Zusammenbruch' keineswegs einen plötzlichen Kollaps bezeichnet. Vielmehr verweist er ... auf ein sich über einen längeren Zeitraum hinweg vollziehendes Geschehen, das für viele Deutsche lange vor dem offiziellen Kriegsende begann und weit darüber hinaus andauerte." [246] Für die Evakuierten war der Zusammenbruch oft erst beendet, als sie wieder in Münster eine angemessene Wohnung gefunden hatten.
 
 
 

5.5 Unterschiedliche Erlebnisse
der Kriegskinder

 
 
 
Die von mir angestellten Untersuchungen bestätigen den in der Literatur immer wieder genannten und ziemlich nahe liegenden Gedanken: Es gibt viele verschiedene Kriegskindheiten; denn
"die Generation der Kriegskinder ... teilt nicht gleiche oder ähnliche Erfahrungen und Erinnerungen, sondern sie blickt auf ganz unterschiedliche und gegensätzliche zurück." [247]

Im Hinblick auf den Bombenkrieg heißt diese Unterschiedlichkeit: Hermann M. machte keine Erfahrungen mit Luftschutzkeller oder Bunker, weil er schon gleich nach dem Bombenangriff am 02.07.1940 nach Rüthen evakuiert wurde. Ganz anders erging es dagegen Marianne H. Sie kehrte ausgerechnet während des ersten Tagesangriffs auf Münster am 10.10.1943 aus der KLV in ihre Heimatstadt zurück. Sie musste miterleben, wie ihre Mutter im Bunker einen Zusammenbruch erlitt. Ernst-Theo G. stand bei den Fliegerangriffen auf Essen schreckliche Ängste aus, selbst seine Mutter konnte ihn kaum beruhigen. Gilla P. dagegen hatte im Bunker keine Angst; denn sie fühlte sich von ihrer Mutter "behütet".

Große Unterschiede gibt es auch - wie kaum anders zu erwarten - bei der Evakuierung. Während die meisten meiner Zeitzeugen in die Umgebung von Münster kamen, gelangten einige nach Bayern. Auf dem Weg an ihren Evakuierungsort Marienfeld durfte Bernhardine C. in einem "schwarzen Mercedes" Platz nehmen. Den Brüdern L. dagegen blieb nur ein Viehwaggon, als sie erst über einen weiten Umweg nach Bayern am Kriegsende an ihren endgültigen Evakuierungsort Telgte gelangten. Bei der Rückkehr aus der Evakuierung verlief es ähnlich: Anneliese J. kehrte schon bald nach Kriegsende auf abenteuerliche Weise in einem Güterzug, der "immer nach Norden" fuhr, aus der KLV nach Münster zurück. Gilla P. kam erst 1954 wieder in ihre Heimatstadt. Ihr Weg aus der Evakuierung fast zehn Jahre nach Kriegsende war schon so unspektakulär, dass sie darüber nichts Bemerkenswertes mehr erzählt.

Am Ort der Evakuierung war Bernhardine C. hochwillkommen, weil sie den Platz der langersehnten Tochter einnehmen konnte. Heinz und Karl L. erfuhren von einem benachbarten Bauern viel Unterstützung bei der nicht ganz legalen Stromversorgung ihres Behelfsheims. Auch Gilla P. weiß zu berichten, dass die Bauersfrau in Angelmodde geholfen hat, wo sie nur konnte. Klaus E. dagegen erlebte sich in Alverskirchen sehr als Fremder, obwohl er doch aus dem nur wenige Kilometer entfernten Münster stammte. Der Bauer, bei dem die Familie untergebracht war, verhielt sich äußerst abweisend. Für Marianne H. änderte sich die Ablehnung erst mit dem Kommen der Ostflüchtlinge. Dann waren das die Fremden, und sie gehörte endlich dazu, auch wenn sie die Rechenhausaufgaben nicht mehr gegen ein Schinkenbutterbrot eintauschte. Hinzuzufügen ist, dass es in der Schule selten Probleme für die fremden Kinder aus Münster gab. Die Zeitzeugen erinnern sich häufig nur an die besondere Strenge des Lehrers. Die galt aber anscheinend allen Übeltätern gleichermaßen. Doch nicht nur bei fremden Menschen war die Aufnahme der Evakuierten manchmal schwierig, sondern auch bei Verwandten. Rudolf M. zog zusammen mit seiner Familie bei den Verwandten wieder aus, weil sie es dort nicht mehr aushielten. Die Familie von Monika S. durfte nicht an den Schrank mit der Wurst gehen, obwohl sie Hunger hatte. Gilla P. berichtet, dass ihre Vettern sie zu anstrengenden "Klautouren" mitnahmen.

Insgesamt gilt: Der vom Nationalsozialismus so heftig propagierte Gedanke der Volksgemeinschaft findet in den Erinnerungen meiner Zeitzeugen an ihre Evakuierung kaum einen spürbaren Niederschlag. [247] Als zu Weihnachten 1943 die Mutter von Marianne H. im Bunker einen Zusammenbruch erlitt, kümmerte sich der "Blockwart" sehr um sie und ihre Schwester. Doch vorher musste sie in Kleinberghofen/Bayern ausgerechnet für den NSV-Ortsgruppenleiter auf schon ausbeuterische Weise arbeiten, obwohl sie noch nicht einmal schulpflichtig war. Selbst die so gut aufgenommene Bernhardine C. musste für ihren "Pflegevater" kleinlich beaufsichtigte Reinigungsarbeiten durchführen.

Die Unterschiedlichkeit der Erinnerungen an die Kriegskindheit setzt sich beim Rückblick auf die Rückkehr aus der Evakuierung fort. Ernst-Theo G., Monika S. und Bernhardine C. verlassen nur unter Tränen ihren jeweiligen Evakuierungsort. Sie wären am liebsten noch länger dort geblieben. Andere Zeitzeugen berichten eher beiläufig, dass sie mit dem Ende der Evakuierung nach Münster gezogen sind. Nirgends habe ich dabei gehört, dass sich jemand auf die Rückkehr in die Heimatstadt gefreut hat. Einen Grund dafür liefert Monika S., die von ihrer Angst vor dem bombenzerstörten, dunklen Münster berichtet. Heinz und Karl L. wussten, dass sie beim Umzug nach Münster ihr kleines Paradies in Telgte aufgeben mussten, in das zudem immer viel Besuch kam.

Besonders große Unterschiede gibt es bei der Verarbeitung der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse. Gereon Heuft stellt dazu fest:
"'Ereignisse treffen auf ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlicher psychischer Stärke.'" [249]

Ein für mich erstaunlich großer Teil der Zeitzeugen stellt bei sich keine Belastungen durch ihre Erlebnisse in Bombenkrieg und Evakuierung fest. Wieweit diese Menschen tatsächlich geschädigt sind, vermag ich zumal in einer geschichtlich ausgerichteten Arbeit nicht zu beurteilen. Grundsätzlich aber warne ich davor, bei allen Kriegskindern posttraumatische Belastungsstörungen zu diagnostizieren. Wer aber solche Störungen hat, muss sich nach meiner Beobachtung über Jahrzehnte hinweg damit auseinander setzen. So behandelt im November 2010 ein Zeitungsartikel die Frage, wie sich die oft erst im Alter auftauchenden "unbewältigten Traumata" der Kriegskinder therapieren lassen. [250] Noch Ende des Jahres 2010 kommt in die psychosomatische Ambulanz von Gereon Heuft in Münster "im Schnitt einmal pro Woche" ein alter Mensch, "bei dem sich die Kriegserinnerungen im Alter körperlich niedergeschlagen haben." Im Interesse dieser alten Menschen wünscht sich Gereon Heuft, dass "deutlich mehr" Betroffene in seiner Ambulanz Hilfe suchen. [251]

Marianne H. hat erst vor wenigen Jahren einen Zusammenbruch erlebt, der eine Kur nötig machte. Ernst-Theo G. hat über 50 Jahr nach Kriegsende einen "Flash-back", als er von den Erfahrungen eines anderen Kriegskindes im Bombenkeller liest. Entsprechend bearbeiten diese Zeitzeugen ihre Kriegserlebnisse auch erst in den letzten Jahren. Monika S. hat eine Gesprächstherapie durchgeführt. Martin H. beschäftigt sich seit kurzer Zeit mit den 2000 Briefen, die sich seine Eltern in der Kriegszeit geschrieben haben. Ernst-Theo G. und Rudolf M. schreiben seit ein paar Jahren ihre Erinnerungen auf. Dabei können sie sich manches von der Seele schreiben. Als eine Art der Verarbeitung der damaligen Erlebnisse ist sicher auch die Bereitschaft der Zeitzeugen zu sehen, mir von ihren lange zurückliegenden, durchaus auch schmerzlichen Erinnerungen zu berichten.
 
 
 

5.6 Abschließende Gedanken

 
 
 
Weil ich knapp vier Jahre nach Kriegsende geboren wurde, habe ich keine Erinnerungen an den Krieg und den Anfang der Nachkriegszeit. Meine Kenntnisse über diese Jahre bezog ich aus dem einen oder anderen Buch oder Zeitschriftenartikel, aus Filmen und Fernsehbeiträgen. Hin und wieder haben meine Eltern oder andere Zeitzeugen einzelne Erlebnisse aus dieser Zeit erwähnt. Erste Kenntnisse bekam ich im Schulunterricht, aber das geschah mehr am Rande und ist schon lange her. [252] Immerhin erging es mir dabei besser als den Brüdern Heinz und Karl L. Als sie Ende der fünfziger Jahre in der Gastronomie arbeiteten, machten sie "an der Theke" folgende Erfahrung:
"Die ganzen kaputten Männer aus dem Krieg, die nicht über ihre Erfahrung sprechen konnten. Die dann standen und soffen und wenn sie dann besoffen waren, wurden sie laut und unangenehm ... Heute kann ich das verstehen, nachdem wir informiert sind. Damals wussten wir nichts über den Krieg. [...] Der Geschichtsunterricht hörte auf in der Weimarer Republik. Dann war Schluss."

Im Gegensatz zu den "kaputten Männer[n] aus dem Krieg" konnten die von mir befragten Zeitzeugen über ihre Erlebnisse reden oder Aufzeichnungen anfertigen. Sie brachten mir auf höchst lebendige Weise die Geschehnisse in Bombenkrieg und Evakuierung nahe, die sie selbst erlebt hatten. Mein bisher eher bruchstückhaftes Wissen konnte ich mit ihrer Hilfe, aber auch dank der eingehenden Beschäftigung mit der Literatur entscheidend vertiefen.

Besonders wichtig wurde mir, bei den Erinnerungen der Zeitzeugen zu erfahren, dass in der schweren Zeit des Krieges und den Jahren danach nicht nur Not und Elend, Angst und Sorge herrschten. Ich staunte über die eine oder andere lustige Begebenheit und über kindliche Freude am Spiel und Abenteuer, die es trotz aller Einschränkungen und Armut auch gab. [253] In diesem Zusammenhang fällt mir besonders die Überschrift auf, die Rudolf M. über seine Erinnerungen an Bombenkrieg und Evakuierung geschrieben hat. Dort steht über allem, was er in der Zeit damals erlebt hat, ein Spruch von Jean Paul:
"Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können."

Das Wort Paradies taucht in den Erinnerungen meiner Zeitzeugen nur selten auf. Die Brüder L. reden ausdrücklich von ihrem kleinen Paradies in Telgte. Auch das Marienfeld von Bernhardine C. hat einige paradiesähnliche Züge, ebenso der Evakuierungsort von Ernst-Theo G. Aber sonst geht es häufig um das glatte Gegenteil. Eine Bombennacht ist schlimm und erinnert oft genug an die Hölle. Aber vielleicht wollte Rudolf M., wenn er es nicht ironisch gemeint hat, andeuten, dass trotz allem diese Jahre zwischen 1940 und 1955 ein integrierter und akzeptierter Teil seines Lebens sind.

Wenn die Brüder Heinz und Karl L. in dem oben aufgeschriebenen Interview sagen: "Wir wussten nichts vom Krieg", dann sprechen sie über das Wissen, das in der Schule vermittelt wird. Es gibt aber auch ein anderes, ein viel tieferes Wissen, das weit über der Darstellung von Geschichte in Zahlen, Fakten und Daten hinausreicht. Diese Zeitzeugen wissen, was es heißt, dem Bombenkrieg ausgesetzt zu sein. Sie wissen, was es bedeutet, in die Fremde evakuiert zu werden, auch wenn sie nur wenige Kilometer von Münster entfernt war. Sie wissen, wie es ist, eine stark beschädigte Wohnung Zimmer für Zimmer mit unzureichendem Material wieder aufzubauen. Wegen dieses Wissens lautet die Botschaft dieser Kriegskinder an uns heute, was ich als Motto über meine Arbeit geschrieben habe: "Pax optima rerum."
 
 

 
 

6. Anhang

 
 
 

6.1 Literatur

 
 
 
a) Archive

Stadtarchiv Münster (StadtAMs)

Fotosammlung zur Stadtgeschichte Münster

Kriegschronik unter:
URL: http://www.muenster.de/stadt/kriegschronik/index_matrix.html. Münster 2005, eingesehen am 13.12.2010.

Lagemann, Elke
"Flucht und Heimkehr". Rückkehr aus der Kinderlandverschickung 1945, Schülerwettbewerb 1984/1985, Arbeit Nr. 15, 4 SAB 060.


Stadtarchiv Telgte (StadtATelgte)

Beschwerden D 1605

Personalkarten (ohne Signatur)



b) Bücher oder Artikel aus Büchern oder wissenschaftlichen Zeitschriften

Beck, Dorothea (Hg.)
"Ich habe veranlaßt, daß die Kruzifixe aus den Klassenräumen entfernt werden". Zur Geschichte der höheren Schule in Greven von 1933-1945, Erarbeitet anläßlich des 125jährigen Bestehens der höheren Schule in Greven von Schülern und Lehrern des Gymnasiums Augustinianum, 2. unveränderte Auflage, Greven 1988.

Beer, Wilfried
Kriegsalltag an der Heimatfront. Alliierter Luftkrieg und deutsche Gegenmaßnahmen zur Abwehr und Schadensbegrenzung, dargestellt für den Raum Münster, Bremen 1990.

Beykirch, Th(eodor)
Prophetenstimmen, 3. Auflage, Paderborn 1849.

Bickerich, Wolfram
"Die Moral bleibt intakt", in: Stephan Burgdorff / Christian Habbe (Hgg.), Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland, München 2005, S. 202-210.

Bölsche, Jochen
"So muss die Hölle aussehen", in: Stephan Burgdorff / Christian Habbe (Hgg.), Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland, München 2005, S. 18-38.

Bönitz, Wolfgang
Feindliche Bomberverbände im Anflug. Zivilbevölkerung im Luftkrieg, Berlin 2003.

Braumann, Georg
Evakuierte Westfalen und ihre evangelische Kirche 1940-1945, in: Jahrbuch des Vereins für westfälische Kirchengeschichte, Bielefeld 1988, S. 139-192.

Braumann, Georg
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Dokumente deutscher Kriegsschäden, Verschiedene Bde., Bonn 1958ff.

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Ein Riesenspaß, ein Alptraum, in: Stephan Burgdorff / Christian Habbe (Hgg.), Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland, München 2005, S. 215-219.

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Das Johann-Conrad-Schlaun-Gymnasium Münster 1900-2000, Münster o.J.

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Wehler, Hans-Ulrich
Wer Wind sät, wird Sturm ernten, in: Lothar Kettenacker (Hg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2003, S. 140-144.

Werner, Emmy E.
Resilienz und Protektionsfaktoren im Lebenslauf von Kriegskindern, in: Insa Fooken / Jürgen Zinnecker (Hgg.), Trauma und Resilienz, Weinheim und München 2007, S. 47-55.

Winterberg, Yury / Winterberg, Sonya
Kriegskinder, Augsburg 2009.



c) Artikel aus nichtwissenschaftlichen Zeitschriften oder Internet und sonstige Quellen

Bundesevakuiertengesetz
Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1953, Teil I, Nr. 35 vom 16.07.1953, S. 586-590

Ermann, Michael
Wir Kriegskinder, Vortrag im Südwestrundfunk im November 2003, zu finden unter URL: http://www.poolalarm.de/kinderschutz/kriegskinder/Wir_Kriegskinder_SWR-Vortrag.pdf, eingesehen am 10.08.2011.

Ermann, Michael
Kriegskinder in Psychoanalysen - Abschiedsvorlesung München 20.03.2009, zu finden unter URL: http://www.m-ermann.de/http-m-ermann-de-aktuell-html.html, eingesehen am 10.08.2011. Dort zu finden unter: Link: Abschiedsvorlesung.

Ermann, Michael
Spiegel-Gespräch 21.02.2009, "Der Körper vergisst nicht" zu finden unter URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-64283811.html, eingesehen am 10.08.2011.

Evakuiert im strengen Sprachgebrauch
URL: http://faql.de/wortgebrauch.html, eingesehen am 27.09.2010.

Film: Nicht alle waren Mörder
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Nicht_alle_waren_M%C3%B6rder, eingesehen am 05.11.2010.

Folkerts, Lieselotte
Wie Schüler aus Münster die trügerische Berg-Idylle erlebten, Auf Roter Erde, Heimatblätter für Münster und das Münsterland, Nr. 2/2006 (Beilage Westfälische Nachrichten, ohne Seitenangabe).

Forschungsgruppe Weltkrieg2Kindheiten (w2k)
URL: http://www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de/Dokumente/Dateien/w2kAbschlussberichtEndfassung.Maerz2011.doc, eingesehen am 16.08.2011.

Kinderlandverschickung
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Kinderlandverschickung, eingesehen am 26.09.2010.

Kleinberghofen:
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Kleinberghofen_%28Erdweg%29, eingesehen am 05.11.2010.

Konferenz
Die Generation der Kriegskinder, 14.-16.04.2005 in Frankfurt am Main: URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=3597, eingesehen am 11.12.2010.

Maier, Klaus A.
Eine Stadt wird vernichtet. Wendepunkt im Luftkrieg: Vor 70 Jahren verwandelten deutsche Bomber das englische Coventry in ein Flammenmeer, in: Die Zeit, Nr. 46, 11.11.2010, S. 24.

Meyer, Klaus
Treffer löst Tragödie aus. Ewald Stumpe war Zeuge eines Bomberabsturzes, Westfälische Nachrichten vom 10.04.2010, S. RTEL 03.

Pressemitteilung der WWU Münster vom 10.02.2010
Erinnerung im Alter - Neue interdisziplinäre Studie über Generation der Kriegskinder, zu finden unter URL: http://idw-online.de/pages/de/news?print=1&id=355032, eingesehen am 11.12.2010.

Ries, Elmar
Der vergessene Krieg. Prof. Heuft hilft Menschen, die im Alter plötzlich körperlich unter den Erfahrungen ihrer Kindheit leiden, in: Westfälische Nachrichten, Nr. 302, 28.12.2010, S. RWF 01.

Resilienz
URL: http://www.medizin-im-text.de/blog/52/resilienz/, eingesehen am 11.12.2010.

Siems, Christof
Das H-Prinzip, in: Die Zeit, Nr. 23, 02.06.2010, S. 41.

Schäfer, Susanne
Als ich klein war, Niemand erinnert sich an seine ersten beiden Lebensjahre, in: Die Zeit, Nr. 45, 4.11.2010, S. 40.

Schwarzenmoor
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzenmoor, eingesehen am 27.09.2010.

Sollbach, Gerhard
Aus dem Bombenkrieg in die Kinderlandverschickung. Die Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) im Ruhrgebiet während des Zweiten Weltkriegs, in: URL: http://www.geschichte.fb15.uni-dortmund.de/forsch/fp-klv.htm, eingesehen am 26.09.2009 und 06.11.2009.

Sollbach, Gerhard
Die Evakuierung der Schulen in der Stadt Bochum im Rahmen der erweiterten Kinderlandverschickung während des zweiten Weltkrieges, in: Der Märker (Hg. Rolf Dieter Kohl) 50. Jg. 2001, Heft 1/2, S. 78-86.

Staas, Christian
Sie sind unter uns. Auch 65 Jahre nach Kriegsende liegen in Deutschland noch tausende Sprengbomben im Erdreich. Wie gefährlich sind sie? In: Die Zeit, Nr. 32, 05.08.2010, S. 15.

Teetz, Christiane
Nachts kehrt der Schrecken zurück, in: Die Zeit, Nr. 48, 11.11.2010, S. 48.

Thadden, Elisabeth von
Die Kriegskinder sind unter uns: Die letzten Zeitzeugen des Weltkriegs werden alt, Die Zeit, Nr. 20, 07.05.2009, S. 50.

Urbanczyk, Maria
Trotz Chaos gaben die Frauen nicht auf, in: Westfälische Nachrichten, Nr. 110, 12.05.1965. Beilage: 20 Jahre danach. Eine Bilanz des Wiederaufbaus, ohne Seitenzählung.

"Young Carers"
URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Young_Carers, eingesehen am 23.04.2010.
 
 
 

6.2. Verzeichnis der Orte
(Auswahl, ohne Münster)

 
 
 
Altenbeken - Marianne H., 3.3.4.1

Alverskirchen - Ort ca 12 km von Münster entfernt, Klaus E., 3.3.3.2.2, 3.3.4.2, 3.3.4.3, 3.3.5, 4.3.2.1

Angelmodde - heute zur Stadt Münster gehörig, bis zur Gebietsreform 1975 als selbständige Gemeinde Teil des Amtes Wolbeck, Landkreis Münster, Gilla P. 3.3.2.3, 3.3.9.4, 4.3.2.1, 4.3.4.2

Bad Laer - Kurort am Teutoburger Wald, Ernst-Theo G., 3.3.3.2.1

Emsdetten - Monika S., 3.3.4.1, 3.3.9.2, 4.3.2.1

Everswinkel - Ort ca 20 km von Münster entfernt, Marianne H., 3.3.3.2.2, 3.3.9.4

Grainau - Ort in Oberbayern, in der Nähe der Zugspitze, Gilla P., 3.3.3.2.1, 3.3.4.1, 3.3.7.2

Greffen - heute Ortsteil von Harsewinkel, Martin H. 3.3.2.1, 3.3.4.2 + 3

Kleinberghofen - Ort im Landkreis Dachau, bis 1972 eine politisch eigenständige Gemeinde, heute zu Erdweg gehörig. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Kleinberghofen_%28Erdweg%29, eingesehen am 05.11.2010, Kleinberghofen liegt laut Routenplaner gut 40 km von München-Stadtmitte entfernt. - Marianne H. 3.3.6.1

Marienfeld - heute Teil von Harsewinkel, Bernhardine C., 3.3.2.2, 3.3.3.2.1, 3.3.9.2, 5.2.1

Milte - heute Teil der Stadt Warendorf, ca 22 km Luftlinie von Münster entfernt, Brüder L., 2.3.3.2

Reit im Winkl - Ort in Oberbayern, KLV-Lager, Anneliese J., 3.3.6.2.1 + 2, 3.3.8

Rüthen - Stadt im Sauerland, liegt wie eine Festung auf dem Berg. Zumindest 1945 waren noch Stadttore vorhanden, die geschlossen werden konnten, Hermann M., 3.3.4.2, 3.3.5, 3.3.7.1, 2 + 3, 3.3.8, 4.3.4.1

Schwarzenmoor - nordöstlicher Teil der Stadt Herford, 1.718 Einwohner Ende 2008, gegründet 1300, eingemeindet Januar 1969. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzenmoor, eingesehen am 27.09.2010, Marianne H., 3.3.8.

Südkirchen - heute Teil von Nordkirchen, etwa 20 km von Münster entfernt, Rudolf M., 3.3.3.2.3, 3.3.8

Telgte - gut 10 km von Münster entfernt, allgemein 3.1.3, Heinz und Karl L., 3.3.2.3, 3.3.3.1, 3.3.3.2.2, 3.3.7.4, 4.3.2.1 + 2 und 4.3.4.1 + 4, 5.2.1

Vorwohle - Ort im Weserbergland, Ernst-Theo G., 3.3.4.1, 3.3.9.2.
 
 



 

6.3. Verzeichnis der Zeitzeugen

 
 
 
Bernhardine C. - Jahrgang 1936, evakuiert im Juni 1942 nach Marienfeld, Rückkehr im Januar 1951 - Interview zusammen mit Thomas Abeler am 19.01.2010

Klaus E.* - Jahrgang 1936, evakuiert Ende 1943 nach Alverskirchen, Vater dort am letzten Kriegstag gefallen, mit Mutter 1946 zurück nach Münster - Interview am 23.03.2010

Martin H.* - Jahrgang 1942 (Juli), evakuiert im Juni 43 nach Mecklenbeck, dann August 1944 Greffen, April 1946 wieder zurück nach MS - Interview zusammen mit Thomas Abeler am 23.02.2010

Ernst-Theo G. aus Essen - Jahrgang 1939 (Juli), Schriftliche Aufzeichnungen: Ausgebombt Anfang 1943 in Essen, Mehrere Evakuierungsorte, Vater im Februar 1945 gefallen - Gespräch am 17.03.2010

Marianne H. - Jahrgang 1936, 1941-1943 KLV, evakuiert 1943 nach Altenbeken, Schwarzenmoor bei Herford, 1945 bis 1951 in Everswinkel, danach Arbeit beim Bauern und im Krankenhaus - Interview am 12.03.2010

Anneliese J. - Jahrgang 1932, 1943 KLV mit Freiherr vom Stein Gymnasium nach Bayern, Rückkehr August 1945 - Interview zusammen mit Thomas Abeler am 23.02.2010

Rudolf M.* - Jahrgang 1939 (Dezember), schriftliche Aufzeichnungen über Evakuierung 1943 nach Südkirchen und Rückkehr nach Münster im Herbst 1947 - Gespräch am 07.05.2010.

Hermann M.* - Jahrgang 1937 (Juni), evakuiert 1940 - 1949 in Rüthen, Interview am 27.07.2010

Zwillingsbrüder Heinz und Karl L. - Jahrgang 1940 (September), evakuiert 1944 ins Allgäu, im Oktober 1945 nach Telgte, Rückkehr nach Münster 1953 - Interview zusammen mit Thomas Abeler am 26.01.2010

Gilla P. - Jahrgang 1938, evakuiert 1942/1943 nach Grainau in Bayern, Rückkehr an den Stadtrand von Münster 1945 in Bootshaus an der Werse, dann Angelmodde, Rückkehr in die Stadt 1954 - Interview am 30.03.2010

Monika S. - Jahrgang 1942, evakuiert 1944 nach Emsdetten, 1951 zurück nach MS - Interview zusammen mit Thomas Abeler am 26.01.2010

Die mit * bezeichneten Zeitzeugen habe ich auf ihren Wunsch hin anonymisiert. Die Gespräche fanden meistens in den Wohnungen der Zeitzeugen statt. Das Gespräch mit Rudolf M. war in meinem Haus.
 
 
 



Anmerkungen

[1] "Devise des schwedischen Gesandten zum Friedenskongreß [1648] Johannes Oxenstierna", an die zur 300 Jahrfeier 1948 in Münster erinnert wurde, in: Galen, Hans (Hg.), Bomben auf Münster. Ausstellung über die Luftangriffe auf Münster im Zweiten Weltkrieg, Stadtmuseum Münster 1983, S. 10, siehe auch S. 200-202.
[2] Über dieses Thema schreiben Edith Kreyenschulte und Wilfried Voß im Rahmen dieses Projektes.
[3] Einer davon, Ernst-Theo G., wurde aus Essen evakuiert.
[4] Ernst-Theo G. verarbeitet beim Aufschreiben seiner Erinnerungen wichtige Teile der Forschungsliteratur.
[5] Im StadtATelgte bin ich besonders den Spuren der Brüder Heinz und Karl L. nachgegangen, die nach Telgte evakuiert wurden. Im StadtAMs habe ich vor allem die Chronik über das Kriegsgeschehen in Münster eingesehen.
[6] Radebold, Hartmut, Kriegsbeschädigte Kindheiten. Die Geburtsjahrgänge 1930-32 bis 1945-48, in: psychosozial 26. Jg. (2003) Heft II Nr. 92, S. 9-15; S. 11.
[7] Beer, Wilfried, Kriegsalltag an der Heimatfront. Alliierter Luftkrieg und deutsche Gegenmaßnahmen zur Abwehr und Schadensbegrenzung, dargestellt für den Raum Münster, Bremen 1990, S. 223.
[8] Staas, Christian, Sie sind unter uns. Auch 65 Jahre nach Kriegsende liegen in Deutschland noch tausende Sprengbomben im Erdreich. Wie gefährlich sind sie? In: Die Zeit, Nr. 32, 05.08.2010, S. 15.
[9] Furst, Lilian R. und Furst, Desider, Daheim ist anderswo. Ein jüdisches Schicksal, Frankfurt/New York 2007, S. 142.
[10] Domansky, Elisabeth, de Jong, Jutta, Der lange Schatten des Krieges, Deutsche Lebens-Geschichten nach 1945, Münster 2000, S. 35, vgl. S. 84: "Lieber an der Front sein als im Keller." - Der Bericht eines Soldaten, der am 10.10.1943 auf der Durchreise in Münster war, wird mit den Worten überschrieben: "Schlimmer als an der Front", in: Galen, Bombenkrieg, S. 55. Wantzen, Paulheinz, Das Leben im Krieg 1939-1946, Bad Homburg 2000, notiert am 28.05.1943 auf S. 1103 einen Witz aus Essen: "'Was ist Feigheit?' -Wenn sich jemand von hier an die Front meldet."
[11] Schröder, Richard, Grauen und Gerechtigkeit, in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 11-17, S. 13.
[12] Haffner, Sebastian, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 164. Seiner Folgerung aus dem Fehlen einer Luftschutzordnung stimme ich ausdrücklich nicht zu: "Bombenangriffe auf Wohngebiete widersprechen also nicht den allgemein anerkannten Kriegsgesetzen und -gebräuchen."
[13] Friedrich, Jörg, Der Brand, 2. Auflage München 2002, S. 511. - Zitat bei Mommsen, Hans, Moralisch, strategisch, zerstörerisch, in: Kettenacker, Volk, S. 145-151, S. 147.
[14] Wehler, Hans-Ulrich, Wer Wind sät, wird Sturm ernten, in: Kettenacker, Volk, S. 140-144, S. 143f. - Vgl auch: Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV, München 2003, S. 931.
[15] Maier, Klaus A., Eine Stadt wird vernichtet, Wendepunkt im Luftkrieg: Vor 70 Jahren verwandelten deutsche Bomber das englische Coventry in ein Flammenmeer, in: Die Zeit, Nr 46, 11.11.2010, S. 24.
[16] Eine gute Übersicht über die Tonnage der abgeworfenen Bomben findet sich bei Galen, Bombenkrieg, S. 19.
[17] Bölsche, Jochen "So muss die Hölle aussehen" in Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 18-38, S. 33. Dort auch das Brecht-Zitat.
[18] Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg.), Dokumente deutscher Kriegsschäden, Bd. I, Bonn 1958, S. 58, dort im Folgenden weitere Darlegungen zu den Zahlen.
[19] Friedrich, Brand, S. 511. Radebold, Kriegsbeschädigte Kindheiten, stellt auf S. 14 fest, dass Friedrich die "kindliche Wahrnehmung der Bombenangriffe nur kurz erwähnt (S. 511/512)."
[20] Hans-Ulrich Thamer in einer Vorlesung am 31.01.2005 in Münster. Freundlicherweise mitgeteilt von Herrn Goebel.
[21] Mommsen, Moralisch, S. 151. Vgl. Bönitz, Wolfgang, Feindliche Bomberverbände im Anflug: Zivilbevölkerung im Luftkrieg, Berlin 2003, S. 211.
[22] zitiert bei Schwarz, Ulrich "Überall Leichen, überall Tod", in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 70-84, S. 76.
[23] Mommsen, Hans, Wie die Bomber Hitler halfen, in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 115-121, S. 119. - Laut Kershaw, Ian, Hitler, München 2009, S. 762, besuchte Hitler selbst "niemals ... Obdachlose nach einem Bombenangriff." - Thamer, Hans-Ulrich und Erpel, Simone (Hgg.), Hitler und die Deutschen, Volksgemeinschaft und Verbrechen, Eine Ausstellung der Stiftung Deutsches Historisches Museum Berlin, Ausstellungskatalog Dresden 2010, S. 266: "Hitler selbst ließ sich - soweit bis heute bekannt - nach den Angriffen ... nicht sehen und entzog sich so den Folgen seiner Politik."
[24] Dröge, Martin (Hg.) Die Tagebücher Karl Friedrich Kolbows (1899-1945), Paderborn 2009, S. 543.
[25] Thamer/Erpel, Hitler, S. 261.
[26] Wehler, Hans-Ulrich, "Vergleichen - nicht moralisieren" in Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 42-46, S. 45.
[27] Maier, Klaus A., Eine Stadt, in: Die Zeit, Nr. 46, S. 24.
[28] Gutschow, Niels, Stiemer, Regina (Hgg.), Dokumentation Wiederaufbau Münster, Materialsammlung, Münster 1980, nennen auf S. 21 102 Angriffe. Beer, Kriegsalltag, gibt auf S. 40 112 Luftangriffe an. - Im folgenden beziehe ich mich - ohne das in jedem Einzelfall anzugeben - auf die Übersicht über die Uhrzeit, die Menge der Bombenabwürfe und die Zahl der Toten bei den Angriffen, in: Galen, Bomben, S. 35-36.
[29] Friedrich, Brand, S. 77. Nach Sollbach, Gerhard, Die Evakuierung der Schulen in der Stadt Bochum im Rahmen der erweiterten Kinderlandverschickung während des zweiten Weltkrieges, in: Der Märker (Hg. Rolf Dieter Kohl) 50. Jg. 2001, Heft 1/2, S. 78-86, hier S. 78, gab das britische Kriegskabinett am 15. Mai 1940 - einen Tag nach der Bombardierung von Rotterdam - die Anweisung an das Bomberkommando, nun "auch nicht-militärische Ziele ... anzugreifen."
[30] Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 21, dort auch das nächste Zitat.
[31] Karl Friedrich Kolbow schildert diese Angriffe ausführlich in seinem Tagebuch: Dröge, Tagebücher Kolbows, S. 469-474.
[32] Beer, Kriegsalltag, S. 24.
[33] Ausführlich Friedrich, Brand, S. 221-227 und S. 425-426 (Clemenshospital) und Galen, Bomben, S. 43-60, S. 132-159 sowie Dröge, Martin (Hg.) Die Tagebücher Kolbows, S. 602f.
[34] Beer, Kriegsalltag, nennt auf S. 27 für den 10.10.1943 je nach Statistik sehr unterschiedliche Bombenzahlen: 12.800, 22.860 oder 4.895. Neben der Zahl der Bomben kommt es auch auf ihre Größe an. Darüber aber kann es kaum eine Übersicht geben.
[35] Beer, Kriegsalltag, S. 30.
[36] Beer, Kriegsalltag, S. 36.
[37] Galen, Bomben, S. 36-39, S. 36. Die Zahlen der Kinder und Jugendlichen finden sich bei Beer, Kriegsalltag, S 41. Auch er stellt auf S. 40 fest: "Die Zahl der Todesopfer, die der Luftkrieg in Münster forderte, ist nicht genau feststellbar." Er nennt auf S. 41 die Zahl von 1264 beurkundeten Bombenopfern. Darin enthalten sind aber nicht 300 Militärangehörige, deren Tod nicht in Münster beurkundet wurde, sowie 30 Münsteraner, die in auswärtigen Krankenhäusern verstorben sind.
[38] Stadtarchiv Münster (Hg.), Kriegschronik - Münster im Zweiten Weltkrieg, Übersicht 1945, URL: http://www.muenster.de/stadt/kriegschronik/index_matrix.html, 1945, Bomben, letzte Alarme.
[39] Dreßler, Bombenangriffe, S. 22.
[40] Krause, Michael, Flucht vor dem Bombenkrieg: "Umquartierungen" im Zweiten Weltkrieg und die Wiedereingliederung der Evakuierten 1943-1963, Düsseldorf 1997, S. 28. - Für die Behauptung, dass Münster auch deshalb zerstört werden sollte, weil Hitler dort die den Sieg abschließende Friedenskonferenz abhalten wollte, um die Erinnerungen an das Ende des dreißigjährigen Krieges auszulöschen, fand ich nur einen Beleg: Englischer Zeitungsbericht vom 14.04.1945, abgedruckt bei Galen, Bomben, Buchdeckel vorne und hinten, Übersetzung, S. 216.
[41] Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 26.
[42] Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 24. Dort auch die folgende Zahl. Dazu Beer, Kriegsalltag, S. 102: "Im Sommer 1940 erfolgte in fast jeder Nacht ein Einflug der Royal Air Force, der, egal ob Bomben abgeworfen wurden, im Durchschnitt einen etwa zweistündigen Fliegeralarm verursachte." Zum Vergleich: 1940 gab es 23 Angriffe mit 700 Bomben und 8 Toten. (1944: 33 Angriffe mit über 300.000 Bomben und 521 Toten), Galen, Bomben, S. 35.
[43] Wantzen, Paulheinz, Das Leben im Krieg 1939-1946, Bad Homburg 2000, S. 137. Das 100. Alarmjubiläum wurde in dem Haus, in dem Paulheinz Wantzen wohnte, Ende September 1940 im Keller als "eine liebevoll vorbereitete Feier" "mit bunten Blumen auf dem Tisch", mit alkoholischen Getränken, einem Plattenspieler und einer Quetschkommode begangen. "Die Stimmung war gleich mehr als gut und wurde gleich mehr als ausgelassen." S. 258 und 259 (vgl. auch das Foto von der Feier des 50. Jubiläums Anfang August, S. 202). Diese Alarmjubiläen haben für mich einen sehr eigenartigen Beigeschmack.
[44] Wantzen, Leben, schreibt am 24.03.1945 auf S. 1403: "In Münster hocken die Menschen täglich 8-12 Stunden im Bunker."
[45] Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 24.
[46] Zeitungsmeldung vom 10.01.1944, abgedruckt bei Wantzen, Leben, S. 1235.
[47] Zeitungsmeldung vom 07.12.1942, abgedruckt bei Wantzen, Leben, S. 1022.
[48] Zeitungsmeldung vom 24.10.1943, abgedruckt bei Wantzen, Leben, S. 1198.
[49] Zeitungsmeldung vom 10.01.1944, abgedruckt bei Wantzen, Leben, S. 1235.
[50] Wantzen, Leben, am 19.05.1942, S. 839.
[51] Über die Zeitzeugen gibt es eine gesonderte Liste u.a. mit ihrem Geburtsjahrgang. Beim Zitieren der mündlich vorgetragenen Erinnerungen habe ich um der Lesbarkeit willen "äh, mhm ne, nich" oder andere Füllwörter wie "Dings, praktisch, und so weiter" sowie offenkundige Wiederholungen von einzelnen Worten oder Redewendungen, ohne das zu vermerken, weggelassen. Dabei kann ich selbstverständlich beim Transkribieren Hörfehler nicht ausschließen, zumal es sich um häufig sehr emotional gefärbte Erzählungen handelt. - Bei den beiden aufgeschriebenen Erinnerungen habe ich - wie bei allen Zitaten - die alte Rechtschreibung beibehalten. Kleine Zeichensetzungsfehler habe ich stillschweigend korrigiert.
[52] Schäfer, Susanne, Als ich klein war, Niemand erinnert sich an seine ersten beiden Lebensjahre. Doch wie früh das Gedächtnis einsetzt, hängt auch von der Kommunikation in der Familie ab, in: Die Zeit, Nr. 45, 4.11.2010, S. 40.
[53] Bei den Daten der Bombenangriffe wie Dauer, Abwurfmengen und Zahl der Toten beziehe ich mich im ganzen Abschnitt auf die Übersicht, in Galen, Bomben, S. 35-36.
[54] Über die Bedeutung der Mutter siehe 5.1 zu Freud/Burlingham.
[55] Ermann, Michael, Spiegel-Gespräch 21.02.2009, "Der Körper vergisst nicht" unter URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-64283811.html, eingesehen am 10.08.2011 und Reddemann, Gisela, "Der Körper vergisst nichts", in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 240-242.
[56] Von einem Fehlen des Alarms an diesem Tag ist immer wieder die Rede. Dagegen schreibt 1947 Schröer, Alois, Dom und bischöfliches Palais zerstört - Der Bischof lebt, in: Galen, Bomben, S. 50-54, S.50: "Einige Domherren nahmen gerade ihre Plätze ein, "als die feierliche Stille durch den eindringlichen Ton der Alarmsirene zerrissen wurde. Die Uhr zeigte 14.55 an."
[57] Zu Weihnachten selbst hat es 1943 keinen Bombenangriff gegeben. Am 22.12.1943 aber fielen 250 Spreng- und 5000 Brandbomben. Zwei Menschen kamen ums Leben. Dass es sich um einen Fliegerangriff und keinen der zahlreichen Alarme gehandelt hat, zeigt der Hinweis auf den Rundfunk, in dem der "Abzug" (der Flieger) gemeldet wurde. Offenbar hat an diesem Tag schon der Weihnachtsbaum im Bunker gestanden.
[58] Grundlegend: Klee, Katja, Im "Luftschutzkeller des Reiches", Evakuierte in Bayern 1939-1953, München 1999 und Krause, Flucht. Siehe auch: Bundesministerium, Dokumente, z. B. Bd. I S. 69-347 oder Bd. II/1 S. 123-506.
[59] Im strengen Wortsinn kann es eine Evakuierung (=Entleerung) nur von Gebäuden oder Gegenständen, nicht aber von Menschen geben. http://faql.de/wortgebrauch.html (eingesehen 27.09.2010).
[60] Klee, Luftschutzkeller, S. 131f . Auf S. 303 stellt sie diese steile Formulierung selbst in Frage.
[61] Klemperer, Viktor, LTI, Notizbuch eines Philologen, 12. Auflage Leipzig 1993, nennt das auf S. 242 "Schleierworte".
[62] Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden, München 2007, S. 722.
[63] Zitiert bei Kershaw, Hitler, S. 845. Am 21.11.1941 sagte Hitler zu Goebbels, der Berlin möglichst schnell "judenfrei" haben wollte, "die 'Evakuierung der Juden' müsse Stadt für Stadt erfolgen." Kershaw, Hitler, S. 746. - Siehe auch Thamer/Erpel, Hitler, Ausstellungsnummer 392 auf S. 252.
[64] Krause, Flucht, S. 149-151.
[65] Zu § 1 in der novellierten Fassung vom 29.08.1957: Bundesevakuiertengesetz, in: Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1953, Teil I, Nr. 35 vom 16.07.1953, S. 586-590, hier: S. 586.
[66] Krause, Flucht, S. 289-292.
[67] Krause, Flucht, S. 174, die folgende Zahl S. 183.
[68] Wehler, Gesellschaftsgeschichte, nennt auf S. 932 als Folge des Bombenkrieges "fünf Millionen" Evakuierte. Auf S. 945 heißt es: "Zu diesem Zeitpunkt [1950 A.H.] (waren) fast alle 8,944 Millionen Evakuierten aus den ländlichen Gebieten ... in ihre Heimat zurückgekehrt." Es ist unwahrscheinlich, dass nach 1945 noch fast vier Millionen Menschen evakuiert wurden.
[69] Die Liste der Entsende- und Aufnahmegaue steht in: Bundesminister, Dokumente, Bd. II/1 S. 127.
[70] Füller, Eduard "Kriegsheimat", Die Kinderlandverschickung aus dem nördlichen Westfalen im Zweiten Weltkrieg, Münster 2010, Zitat auf S. 173.
[71] Der Amtsdirektor Telgte, Aktennotiz zum Anliegen des Bauern N.... eine bei ihm untergebrachte Evakuierte betreffend 27.07.1946, StadtATelgte D 1605 Beschwerdeprotokolle - Nach der Personalkarte im StadtATelgte ist Margarete F. am 27.5.1946 von Greifswald (!) zugezogen. Als u.W. ("ursprünglicher Wohnsitz") ist Münster angegeben. Sie ist ausdrücklich als "Evk" (= Evakuierte) eingestuft. Ihre beiden Kinder geboren 1932 und 1937, sind als "Ofl." (= Ostflüchtlinge) vermerkt. Sie kamen am 11.07.1946 von Greifswald. Ein u.W. Münster ist nicht vermerkt. Ehemann Karl ist "am 7.9.1949 aus russ. Gef. entlassen." In dieser Familie ist idealtypisch das (Nach)Kriegsschicksal sichtbar: Gefangenschaft, Evakuierung, Flucht.
[72] Ernst-Theo G. berichtet in seinen Aufzeichnungen, dass seine Mutter den Schlüssel ihres im November 1944 zerstörten Hauses bis 2005 aufgehoben und dann ihrem Sohn übergeben hat. Im Haus der Geschichte in Bonn wird in einem nachgebildeten Flüchtlingsbehelfsheim ein Schlüsselbund gezeigt. Daneben steht geschrieben: "Ihre Hausschlüssel nahmen viele Menschen mit bei ihrer panischen Flucht nach Westen: Zunächst in der Hoffnung auf schnelle Rückkehr, später als Erinnerung an das Zuhause." (gesehen am 12.01.2012)
[73] Dies beschreibt im Hinblick auf Bayern Klee, Luftschutzkeller, z. B. S. 70-82. Dazu äußern sich auch einige der von mir befragten Zeitzeugen.
[74] Ministerium, Dokumente Bd. II/2 nennt auf S. 114 Gründe: Räumung von Bunkern oder Ruinen, "Wohnungsentzug zugunsten dringend benötigter Arbeitskräfte" oder Beschlagnahme von Wohnraum durch die Besatzungsmacht.
[75] Es kam zwei Monate nach dem Bundesvertriebenengesetz, Krause, Flucht, S. 252. Den Weg dazu bereitete das entsprechende Gesetz in NRW vom 05.12.1951, siehe Ministerium, Dokumente Bd. I, S. 135-145.
[76] Bickerich, Wolfram, "Die Moral bleibt intakt" in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 202-210, S. 209.
[77] Krause, Flucht, S. 230 zitiert aus einer Veröffentlichung der Bundesregierung aus dem Jahre 1959. MdB Käte Strobel gebraucht im Bundestag den Begriff "Einheimische Heimatvertriebene", Ministerium Dokumente Bd. I, S. 169.
[78] Klee, Luftschutzkeller, S. 307.
[79] Dröge, Tagebücher Kolbows, S. 473.
[80] Beer, Kriegsalltag, S. 180-185. Zeitzeugin Gilla P. erinnert sich daran, dass zwischen Mondstraße und Stapelskotten Ausgebombte ihre übriggebliebenen Möbel aufgestellt und dort "auf freiem Feld" gewohnt haben.
[81] Beer, Kriegsalltag, S. 181. Friedländer, Das Dritte Reich, S. 645, gibt als ein Motiv für die Deportation der Juden aus dem Westen Deutschlands an: "ständige Gesuche um Wohnraum, die die Gauleiter ... infolge der durch britische Bombenangriffe verursachten Schäden an ihn [Hitler A.H.] richteten.“
[82] Die Liste der Entsende- und Aufnahmegaue steht in: Bundesminister, Dokumente, Bd. II/1, S. 127.
[83] Füller, Kriegsheimat S. 42-44. Von Mai 1942 an waren 46 Jungen aus Münster in einem Lager in der Batschka.
[84] Der Totenzettel befindet sich auf der Glasleiste der Schauwand im 2. Stock (auf der rechten Seite der dritte von vorne), gesehen am 21.09.2010.
[85] StadtAMs, Kriegschronik, 1939/40 Evakuierung. - Zeitzeugin Marianne H. wurde schon mit 4 ½ Jahren verschickt. 3.3.6.1.
[86] Füller, Eduard, Kinderlandverschickung, Münsters Schulen in Oberbayern 1943-1945, Münster 2004, S. 18.
[87] Humborg, Ludwig, Das Ratsgymnasium zu Münster, Münster 1951, S. 159f.
[88] Füller, Kriegsheimat, S. 37.
[89] Beer, Kriegsalltag, S. 93.
[90] Stadtarchiv Münster, Kriegschronik 1944, Evakuierung, Personen.
[91] Beer, Kriegsalltag, S. 58f, S. 194-200; Füller, Kriegsheimat S. 133-154, S. 180; für Bochum: Sollbach, Evakuierung, S. 82-84. Offensichtlich war die Teilnahme an der KLV freiwillig. Wenn Kinder ihrer Schulpflicht nachkommen wollten, blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als an der KLV teilzunehmen oder eine andere Schule zu finden.
[92] Umfassende Zahlen für Münster liegen mir nicht vor. Stiefermann, Reinhard (Hg.) Das Johann-Conrad-Schlaun- Gymnasium, Münster 1900-2000, Münster o. J., nennt auf S. 126 Zahlen für die Verschickung der vier unteren Klassen seiner Schule am 03.08.1943 zum Tegernsee: von 314 möglichen Schülern fuhren 136 mit (knapp 43 %). "Viele kamen bei Verwandten unter, die Fahrschüler bleiben fast alle daheim." Anscheinend sind sie trotzdem weiter zur Schule gegangen; denn der nächste Satz heißt: "180 Schüler blieben zurück und bildeten 8 Klassen." - Zum Vergleich: Füller, Kriegsheimat, nennt auf S. 239 für Gelsenkirchen im August 1943 einen Anteil von etwa 30 % der Kinder, die mit zur KLV gefahren sind.
[93] Zur Indoktrination im KLV-Lager: Zeitzeugin Anneliese J., 3.3.6.2.
[94] Zum "Kriegseinsatz der Hitlerjugend" u.a. bei der KLV siehe Thamer/Erpel, Hitler, Ausstellungsnr. 425, S. 264.
[95] Abdruck des Aufrufs bei Wantzen, Leben, am 10.01.1944, S. 1234 und Beer, Kriegsalltag, S. 57.
[96] Beer, Kriegsalltag, S. 204.
[97] Beck, Dorothea (Hg.) "Ich habe veranlaßt, daß die Kruzifixe aus den Klassenräumen entfernt werden." Zur Geschichte der höheren Schule in Greven von 1933-1945, 2. Auflage Greven 1988, S. 74. Welche Schulen in Münster und Umgebung ab 1943 noch "erreichbar" waren, konnte ich nicht ermitteln. Bei der "Erreichbarkeit" einer Schule spielte auch die zunehmende Zerstörung von Schulgebäuden eine wichtige Rolle.- Sollbach, Evakuierung, S. 81: In Ruhrgebietsstädten wie Bochum oder Essen war seit der "Battle of the Ruhr" "ein geregelter Unterricht ... praktisch nicht mehr möglich."
[98] Bayern war offizieller Aufnahmegau für Münster (neben Salzburg und dem Münsterland), siehe 3.2.
[99] Marianne H. kehrt - wenn ich das überhaupt mit dem Wort Rückkehr bezeichnen kann - erst irgendwann als längst Erwachsene nach Münster zurück. Siehe 3.3.9.3.
[100] Der Ort gehörte nach meiner Kenntnis bis etwa 1970 zum Kreis Warendorf, danach zu Harsewinkel, Kreis Gütersloh.
[101] Eine Adoption war laut Marianne H. in der NS-Zeit nicht möglich, weil die Pflegemutter noch keine 45 Jahre alt war.
[102] Die Mutter konnte nicht mitkommen, weil sie arbeiten musste.
[103] Ameisenstraße.
[104] Auch Gilla P. erinnert sich daran, dass der Zug auf freier Strecke "willkürlich" hielt und ebenso "willkürlich" wieder losfuhr. Wenn dann gerade jemand "austrat", konnte es passieren, dass der Zug ohne diese Person abfuhr. Noch heute, sagt sie, "erinnere ich mich an das Geschrei der Kinder, die Angst hatten... Der Zug fährt weiter. Und der ist auch ein paar Mal weiter gefahren. Es war ganz schrecklich."
[105] Füller, Kriegsheimat, S. 188f: "In der Forschungsliteratur wird die begründete These vertreten, mit diesem [antipreußischen A.H.] Verhalten sollte die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus heruntergespielt und die begangenen Verbrechen dem 'Preußentum' mit der Zentrale Berlin angelastet werden."
[106] "Besonders schlecht sind die Wohnverhältnisse ... in den vielen Bootshäusern an der Werse." Gesellschaft für Ostdeutsche Kulturarbeit Münster e.V. (Hg.), Neuanfang in Münster, Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Münster von 1945 bis heute, Münster 1996, S. 60.
[107] Zum Verhältnis "Ostvertriebene und Evakuierte": Gesellschaft für Ostdeutsche Kulturarbeit (Hg.), Neuanfang, S. 47.
[108] Die genaue Adresse lautet: Schwienhorst 69b, heute Wöste 55. - Zum Weg der Brüder L. nach Telgte siehe 3.3.2.3.
[109] Die Zahlenübersicht befindet sich im Verwaltungsbericht des Amtes Telgte über das Jahr 1954 auf S. 4, StadtATelgte, D 55. Das Amt Telgte entspricht weitgehend dem Gebiet der heutigen Stadt Telgte. - 584 Evakuierte sind 14 % der Gesamtbevölkerung von 4182 Personen im Kirchspiel.
[110] Wantzen, Das Leben, am 10.10.1944, S. 1263, über Telgte: "Überall herum stehen in rauhen Mengen die Behelfsheime."
[111] Laut "Hausstandskarte" im StadtATelgte (keine Fundortbezeichnung) ist unter "Schwienhorst, Behelfsheim Nähe Jägerhaus" mit dem Zusatzstempel "evakuiert" die Familie M. aufgeführt. Der Mann ist Gärtner. Die in Münster geborene Tochter ist sechs Jahre alt. Es handelt sich also um eine vermutlich direkt aus Münster evakuierte Familie.
[112] Obwohl "organisieren" nach "Machenschaft, nach Schiebertum" roch, war es "ein gutartiges, überall in Schwang befindliches Wort, war die selbstverständliche Bezeichnung eines selbstverständlich gewordenen Tuns." Klemperer, LTI, S. 108.
[113] Eine kleine Stube im Dachgeschoss.
[114] Freud, Anna und Burlingham, Dorothy, Heimatlose Kinder. Zur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf die Kindererziehung, Frankfurt am Main 1971, S. 32: Manche Hausfrauen, die fremde Kinder aufnehmen, "entwickeln für das fremde Kind dieselben Gefühle, als ob es ihr eigenes wäre".
[115] "Brückenkopf zwischen Kaukasus und schwarzem Meer", wie Ernst-Theo G. in seinen Aufzeichnungen anmerkt. Hitler genehmigte am 08.09.1943 ausnahmsweise den Rückzug von diesem Brückenkopf, Kershaw, Hitler, S. 840.
[116] Wantzen, Leben, schreibt am 10.09.1943 auf S. 1173, kurz nach Beginn der meisten Evakuierungen: "Von den evakuierten Frauen und Familien sind schon viele wegen der schlechten Unterbringung und unfreundlichen Behandlung in den Aufnahmegebieten zurückgekommen". Meine Zeitzeugen sind nicht gleich nach Münster zurückgekehrt.
[117] Wantzen, Leben, schreibt am 09.04.1945 auf S. 1428f: Man muss "feststellen, daß im Augenblick viele Bauern für ihre am münsterländischen Bauern typische Habgier ... gestraft werden", nämlich durch Plünderungen. Bei Domansky/de Jong, Schatten, erinnert sich eine Zeitzeugin auf S. 314 an die Rede von Karl Arnold (NRW-Landwirtschaftsminister, später Ministerpräsident) auf einer Nachkriegs-Bauernversammlung in Erkrath: "'Ihr Bauern wolltet [sic!] immer so christgläubig sein, und ihr vertraut euerm Herrgott nicht, dass er euch die Gaben, die ihr christlichen Sinnes weggebt, hundertfältig zurückgibt.'" - Gute Erfahrungen mit fremden Bauern machen die Brüder L. in Telgte und Gilla P. in Angelmodde.
[118] Spiegel, Frikadellchen, vermerkt auf S. 67, dass ihn seine Schulkameraden in Clarholz, wohin er als Evakuierter aus Essen gekommen war, "wie einen Aussätzigen empfangen hatten." Dabei hatte er wie Hermann M. in Rüthen dort Verwandtschaft.
[119] Merkens, Hilde, 1939-1946, Kriegserlebnisse o.J., o.O., S. 29: "Ja, die Everswinkeler mochten die Fremden nicht, wir hatten es oft sehr schwer, hier heimisch zu werden."
[120] Eine oben weite und knieabwärts enge (Reit-)hose, wie sie auf vielen Bildern mit NSDAP-Leuten zu sehen ist, siehe Thamer/Erpel, Hitler, z. B. S. 69, 123 oder das "Porträt des Führers" auf S. 75.
[121] Einen ähnlichen Vorwurf machte Klaus E. dem Bauern in Alverskirchen, siehe 3.3.3.2.2.
[122] Zur "Tb"-Behandlung, siehe im Projekt "Aufwachsen in Westfalen" die Arbeit von Thomas Abeler.
[123] Ernst-Theo G. kam im Frühjahr 1943 in ein Dorf am Teutoburger Wald und am 13.10.1943 nach Vorwohle.
[124] Wantzen, Leben, schreibt am 11.03.1945 auf S. 1379: "In Altenbeeken [sic!] fuhren wir bei Vollalarm in den Tunnel, der als Luftschutzraum dient."
[125] Galen, Bomben, verzeichnet auf S. 35 am 18.11.1944 138 Tote.
[126] Wantzen, Leben, notiert am 15.01.1945 auf S. 1333: "Mit den Tieffliegern ... wird es von Tag zu Tag schlimmer, oft viele Tote und Verletzte." Am 21.01.1945 schreibt er auf S. 1337: Sie sind "zu einer wahren Landplage geworden."
[127] Meyer, Klaus, Treffer löst Tragödie aus, Ewald Stumpe war Zeuge eines Bomberabsturzes, Westfälische Nachrichten (WN) vom 10.04.2010, S. RTEL 03.
[128] Zum Spielzeug siehe C 3.7.1.
[129] Nach Haffner, Anmerkungen, S. 186, ging es Hitler in der letzten Phase des Krieges "um den totalen Ruin Deutschlands." Dazu gehörte der "Nero-befehl" vom 19.03.1945, nach dem der Feind nur noch "verbrannte Erde" vorfinden sollte. Nach Kershaw, Hitler, S. 986, wurde der Befehl nur in geringem Maße befolgt.
[130] Welches Datum im Hinblick auf eine Kriegerwitwenrente als Kriegsende anzusehen ist, konnte ich nicht ermitteln. Ist es wie Klaus E. meint der Tag, an dem die jeweilige Gegend von den Alliierten besetzt wurde oder ist es der Tag der allgemeinen Kapitulation am 08.05.1945? Auf eine entsprechende Anfrage bei der Deutschen Auskunftsstelle in Berlin (früher: Wehrmachtsauskunftsstelle) am 28.06.2010 unter: mailto:dd-info@dd.wast.javabase.de erhielt ich bis Ende 2011 keine Antwort.
[131] Das Grab habe ich am 20.07.2010 auf dem Friedhof in Alverskirchen besucht. Weil es aber nicht offiziell in das Verzeichnis der Kriegsgräber aufgenommen worden ist, wurde es, wie mir Klaus E. am 17.07.2011 mitteilte, Anfang 2011, also 66 Jahre nach Kriegsende, eingeebnet.
[132] Hier ist das einzige Mal, dass Klaus E. gute Erfahrungen mit der rk Kirche macht (siehe 3.3.3.2 und 3.3.5).
[133] Sieben meiner Zeitzeugen wurden nach, fünf im oder kurz vor dem Krieg eingeschult. Von diesen fünf war nur eine Schülerin über die heutige Primarstufe hinausgekommen: Anneliese J., siehe zur KLV 3.3.6.2.
[134] Zu weiterführenden Schulen im Krieg siehe die beiden Bücher von Eduard Füller, sowie Schulchroniken, insbesondere Eggert, Heinz-Ulrich (Hg.), Der Krieg frißt eine Schule: Die Geschichte der Oberschule für Jungen am Wasserturm in Münster 1938-1945, 2. durchges. und erweit. Aufl., Münster 1990. - Beck "Ich habe veranlaßt" informiert auf S. 67-85 über das Thema "Schule und Krieg" in einem Ort wie Greven, der nicht "'Luftschutzort I. oder II. Ordnung'" (S. 71) war.
[135] Anders gestaltete sich die Aufnahme von Marianne H., die erst nach dem Krieg nach Everswinkel kam. Dort galt sie in der Schule als "Aussätzige". Das änderte sich erst, als die Flüchtlinge kamen, siehe 3.3.3.2.2.
Helmut Spiegel nutzte die Verwandtschaft in Clarholz nichts. Seine Klassenkameraden haben ihn trotzdem wie "einen Aussätzigen empfangen." Frikadellchen, S. 67. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, wieweit der nationalsozialistische Gedanke der Volksgemeinschaft in einer Dorfgemeinschaft wie Clarholz inkludierend (Du gehörst auch als Fremder dazu) oder im Gegenteil exkludierend wirkte (Der fremde Junge aus Essen gehört nicht dazu).
[136] Über Kartoffelkäfersammeln in der Nachkriegszeit: Schäfers, Gottfried, Als unser Münster sich wieder machte, Münster 1979, S. 41.
[137] Aus dem Bombenkrieg in die Kinderlandverschickung, Die Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) im Ruhrgebiet während des Zweiten Weltkriegs, in: URL: http://www.geschichte.fb15.uni-dortmund.de/forsch/fp-klv.htm, S. 1, (Zugriff am 26.09.2009 und -unverändert - am 06.11.2010). Man beachte das Wort "Binnenwanderung", nicht Völkerwanderung.
[138] Beide "Schwestern" lebten als nicht leibliche Schwestern bei einer Pflegemutter, die sie "Mami" nennen.
[139] In dem Film "Nicht alle waren Mörder", der zwischen 1943 und 45 handelt, trägt eine NSV-Schwester braune Kleidung. Zum Film siehe: URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Nicht_alle_waren_M%C3%B6rder, eingesehen am 05.11.2010.
[140] Füller, Kinderlandverschickung, S. 18. Ostern war 1941 vier Wochen später, am 13. April.
[141] Freud/Burlingham, Heimatlose Kinder, S. 52f.
[142] Offensichtlich ist dieses zunächst befremdliche Verhalten kein Einzelfall. Füller, Kriegsheimat, schreibt auf S. 180: "Manche Eltern kamen angereist und holten auf eigene Verantwortung ihre Kinder aus der KLV, um sie, wie sie sagten, 'bei einem feindlichen Einfall' bei sich zu haben."
[143] Über die Freiherr-vom-Stein-Schule: Füller, Kinderlandverschickung, S. 103-112 und weitgehend identisch damit: Kriegsheimat, S. 307-315. Dort auf S. 307 die Angabe über den Sonderzug. Lieselotte Folkerts schreibt über ihre Erfahrungen im KLV-Lager Reit im Winkl 1943, in: Wie Schüler aus Münster die trügerische Berg-Idylle erlebten, Auf Roter Erde, Heimatblätter für Münster und das Münsterland Nr. 2/2006 als Beilage in den Westfälischen Nachrichten.
[144] Da das NS-Regime zur Härte erziehen wollte, stand es offiziell solchen Müttern kritisch gegenüber. Sie wurden "lediglich als 'Stopfmütter' und grundsätzlich nicht als Lagerhelferinnen eingesetzt", Füller, Kriegsheimat, S. 93. Weiteres über Elternbesuche, Füller, Kriegsheimat, S. 115. - In Bochum wurde den Müttern dagegen sogar offiziell angeboten, mit in die KLV zu fahren, wovon rege Gebrauch gemacht wurde, Sollbach, Evakuierung, S. 80. - Freud/Burlingham, Heimatlose Kinder, weisen auf S. 60 darauf hin, dass es für von der Mutter getrennte Schulkinder schon eine Hilfe ist, wenn sie - wie in der KLV - wenigstens "ihre Beziehungen zu Kameraden und Lehrern" behalten können.
[145] Humborg, Ratsgymnasium, S. 166: "Als unentbehrliche Stützen erwiesen sich die Lagerhelferinnen (z. T. Ehefrauen der Lehrer, z. T. Mütter von Schülern), die in aufopfernder Weise in den ihnen zugeteilten Klassen das Stopfen der Strümpfe und Flicken der Wäsche übernahmen ... und darüber hinaus den Schülern in mancherlei ... Sorgen die Mutter ersetzten."
[146] Füller, Kinderlandverschickung, S. 166. - Es muss der Angriff am Sonntag, 10.10.1943, gewesen sein. Auch die Mutter von Lieselotte ist nachgekommen. Am 3.9.43, einen Monat nach der Verschickung, heißt es im "Kriegstagebuch": "Mutti ist jetzt Gott sei Dank da. Das hat aber auch was gedauert." Füller, Kinderlandverschickung, S. 165.
[147] Stegelmann, Katharina, Ein Riesenspaß, ein Alptraum, in: Burgdorff/ Habbe, Feuer, S. 216f.
[148] Domansky/de Jong, Schatten, stellen ein so deutliches Nein grundsätzlich in Frage, indem sie auf S. 39 schreiben: "Gelungene Indoktrination zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie nicht als solche erkannt wird."
[149] Dr. Alfred Meyer, Gauleiter Westfalen-Nord, besuchte das KLV Lager Reit im Winkl am 30.07.1944, Füller, Kriegsheimat, S. 308. Über ihn heißt es auf der Schrifttafel neben seinem Bild im Ruhrmuseum Essen: "Im November 1941 wurde Meyer zum stellvertretenden Reichsminister für die besetzten Ostgebiete berufen. In dieser Funktion nahm er an der berüchtigten Wannseekonferenz am 20.1.1942 teil und war damit aktiv an der Realisierung des Holocaust beteiligt." Kurzfassung des Lebenslaufs von Alfred Meyer in: Dröge, Tagebücher Kolbows, S. 372 Anm. 80.
[150] Zur BdM-Tracht: Guenther, Irene, Die Uniformierung der Gesellschaft im "Dritten Reich", in: Thamer/Erpel, Hitler, S. 104-111, S. 106f, dort auch Abbildungen.
[151] Füller, Kriegsheimat S. 308.
[152] Anneliese J. spricht vom Ratsgymnasium, das ihr Bruder besuchte. Nach Füller, Kriegsheimat S. 386 hieß die Schule in der NS-Zeit Hermann-Löns-Schule. Für die Zeit im KLV-Lager am Tegernsee siehe Humborg, Ratsgymnasium S. 165-170 und Füller, Kriegsheimat S. 295-301.
[153] Vgl. Füller, Kriegsheimat S. 314f. In einer Schülerinnenarbeit zeichnet Elke Lagemann die abenteuerliche Rückkehr ihres Vaters aus der KLV der Städt. Knabenmittelschule Münster aus Bayrisch-Gmain nach, in: StadtAMs 4 SAB 060. Besonders eindrucksvoll auch Eggert, Der Krieg frisst, S. 202-242.
[154] An den Tabakanbau erinnern sich auch Anneliese J. selbst sowie die Brüder Karl und Heinz L. Sie geben sogar an, dass in Telgte eine Steuer auf Tabakpflanzen erhoben wurde, möglicherweise 5 Pfennig pro Pflanze.
[155] Bei meinen Zeitzeugen spielt das "Hamstern" keine Rolle. Lediglich die Brüder L. erinnern sich daran, dass sie nach dem Krieg auf der Bahnstrecke Münster - Warendorf "Hamsterzüge gesehen [haben A.H.], voll gepackt bis oben hin."
[156] Stadtteil von Münster zwischen Kanal und Wolbecker Straße.
[157] Zu Klaus E. siehe 2.3.2.
[158] Merkens, Kriegserlebnisse, S. 23.
[159] Ob es tatsächlich belgische Panzer waren, kann ich nicht belegen. Bei Domansky/de Jong, Geschichte, berichtet eine Zeitzeugin auf S. 41 aus Albachten, das wie Südkirchen im Süden von Münster liegt: "Ich hörte erst eine Sprache, die ich nicht identifizieren konnte. Es waren also nicht nur Amerikaner, sondern auch Soldaten anderer Truppenteile da."
[160] Domansky/de Jong, Geschichte, S. 34.
[161] Schwarzenmoor: nordöstlicher Teil der Stadt Herford, 1.718 Einwohner Ende 2008, gegründet 1300, eingemeindet Januar 1969. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzenmoor, eingesehen am 27.09.2010.
[162] Ostersonntag war 1945 am 01. April.
[163] Etliche ehemalige Soldaten haben mir von diesen Lagern oder von dem schlechten Ruf der Franzosen erzählt.
[164] Rüthen war eine alte Festungsstadt mit noch funktionierenden Stadttoren.
[165] Haunfelder, Bernd (Hg.), Münster, Die Nachkriegszeit, 1945-1965 Bilder und Chronik, Münster 1993, S. 65.
[166] Beer, Kriegsheimat gibt auf S. 113 für November 1940 140.161 Einwohner an.
[167] Wantzen, Leben, S. 1465 am 26.04.1945.
[168] Schwarze, Gisela, Eine Region im demokratischen Aufbau: Der Regierungsbezirk Münster 1945/46 Düsseldorf
1984, S. 41. - Die "Neue[n] Richtlinien der Stadt Münster ... für die Wohnraumlenkung und den Wiedereinzug nach Münster vom 09.06.1945" sind abgedruckt in: Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 46.
[169] Schäfers, Als unser Münster, S. 83: "Mein erster Eindruck von Münster [bei der Rückkehr aus der Evakuierung A.H.] Trümmer, zerbombte und ausgebrannte Häuser."
[170] Der Vater war am letzten Kriegstag gefallen, siehe 3.3.4.3.
[171] Schwarze, Region, S. 224: "Häufig gelang es, die Bauern mit der Begründung, durch den Siedlungsbau würden sie die Flüchtlinge von ihren Höfen los, zur Landabgabe zu gewinnen." Das gilt, wie das Beispiel zeigt, auch für Evakuierte.
[172] StadtAMs Kriegschronik 1945, Kriegsende, Einnahme Münsters.
[173] Schwarze, Region, S. 40.
[174] Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 26. - Ein guter Überblick über die "Bilanz des Krieges" in StadtAMs Kriegschronik 1945, Kriegsende, Bilanz des Krieges.
[175] Jakobi, Franz-Josef, Link, Roswitha (Hgg.), Geschichte im Gespräch, Kriegsende 1945 und Nachkriegszeit in Münster, bearb. von Sabine Heise unter Mitarbeit von Gerburg Harenbrock, Münster 1997, S. 11.
[176] Jakobi/Link, Geschichte, S. 132.
[177] Schwarze, Region S. 203f. Einen Verlegungsplan gab es auch z. B. für Hannover. Dort wurde der Plan aufgegeben, "weil die Kanalisation ... noch funktionierte." Siems, Christof, Das H-Prinzip, in: Die Zeit, Nr. 23 vom 02.06.2010, S. 41.
[178] Beykirch, Th(eodor), Prophetenstimmen, 3. Auflage Paderborn 1849, S. 106f. - In StadtAMs Kriegschronik 1945, Bomben, Trümmerräumung, heißt es sogar: "Vom ... Bahnhof aus konnte man die Trümmer des Schlosses liegen sehen."
[179] Von Plato, Alexander, Leh, Almut, "Ein unglaublicher Frühling", Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-1948, Bonn 1997, S. 10.
[180] Domansky/de Jong, Schatten, S. 141f.
[181] Ohler, Annemarie und Norbert, Kinder und Jugendliche in friedloser Zeit, Aus deutscher Geschichte in den Jahren 1939 bis 1949, München 2010, S. 223.
[182] Domansky/de Jong, Schatten, S. 227f.
[183] Priamus, Heinz-Jürgen, Die Ruinenkinder, Im Ruhrgebiet 1945/1949, Bindlach 1990, S. 50.
[184] Ohler/Ohler, Kinder, S. 17. - Sie halten sich noch an die alte Rechtschreibung.
[185] Urbanczyk, Maria, Trotz Chaos gaben die Frauen nicht auf, in: Westfälische Nachrichten, Nr. 110, 12.05.1965.
[186] Haunfelder, Bernd, Münster, Die Nachkriegszeit 1945-1965, Bilder und Chronik, Münster 1993, S. 15.
[187] Urbanczyk, Chaos.
[188] StadtAMs Kriegschronik 1945, Bomben, Trümmerräumung.
[189] Schäfers, Als unser Münster, S. 48.
[190] Schreiben des Ministers für Wiederaufbau des Landes NRW abgedruckt in: Gutschow/Stiemer, Dokumentation S. 46-49; hier S. 47 und 48. Dieses Schreiben mit der Aufforderung zur Winterfestmachung kam am 13.01.1947, also mitten im besonders kalten Winter 1946/1947.
[191] Schwarze, Region, S. 204f. Zeitzeuge Martin H. berichtet, dass sein Vater, der schon in Münster war, die Familie in Greffen nur dann am Wochenende besuchen konnte, "wenn er nicht schüppen musste."
[192] Mitteilung abgedruckt bei Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 45.
[193] Wantzen, Leben, am 19.08.1945 auf S. 1544 und am 15.02.1946 auf S. 1625.
[194] Haunfelder, Münster Nachkriegszeit, S. 62.
[195] Haunfelder, Münster Nachkriegszeit, S. 88.
[196] Haunfelder, Münster Nachkriegszeit, S. 89.
[197] Schäfers, Als unser Münster, S. 86: "Ich musste meine Mutter in der mindestens hundert Meter langen Schlange beim Bäcker vertreten." Oder ebenfalls S. 86: "Schlangestehen durfte ich auch ... beim Metzger."
[198] Jakobi/Link, Geschichte, S. 118: Zeitzeugin H.K., Jg. 1932: Nach dem Schippen bekam man "eine kleine Gutscheinmarke". Für fünf Marken gab es einen Kochlöffel, "für zehn gab es einen Kochtopf". Der "ältere Mann" war laut H.K. der "Räumwart." Er schippte nicht selbst, sondern "guckte, ob geschippt wurde."
[199] Einen guten Überblick über die Schule im Regierungsbezirk Münster in der Nachkriegszeit geben Schwarze, Region, S. 239-253 und für Münster allein Jakobi/Link, Geschichte, S. 166-191 und Schäfers, Als unser Münster, S. 41-45.
[200] Bis auf zwei Ausnahmen (siehe Gilla P.) haben die Zeitzeugen nur männliche Lehrpersonen gehabt.
[201] Haunfelder, Münster, S. 85 über das Jahr 1952: "Große Probleme bereitet nach wie vor der Mangel an ausreichendem Schulraum." So wichen manche Schulen in Vororte aus. Stiefermann, Reinhard (Hg.), Das Johann - Conrad - Schlaun - Gymnasium Münster 1900-2000, Münster o.J., S. 149: "Für die Schlaunschüler fand man die Lösung, daß der 'Normalunterricht' in Kinderhaus in den beiden alten Volksschulen und in der Waldschule stattfinden sollte, während der Förderlehrgang im ehemaligen Physikzimmer der Schlaun-Schule unterrichtet wurde." Erst im November 1956 war das neue Schulgebäude endgültig fertig gestellt. Es mangelte nicht nur an Schulräumen, sondern auch an Heizmaterial. Gilla P.: "Schule war nur, wenn wir Kohlen, Briketts gesammelt hatten."
[202] Die Assoziation von Gewalt mit Nazi ist bemerkenswert. Im September 1946 war "die Überprüfung des gesamten Lehrpersonals der Stadt Münster" ziemlich abgeschlossen. "79 Personen wurden entlassen, 416 wieder eingestellt, 50 Fälle blieben ungeprüft." Jakobi/Link, Geschichte S. 168. Ähnliches dürfte auch für den Landkreis Münster gelten.
[203] Schwarze, Region, S. 245: "Tatsächlich war die Lehrerschaft kriegsbedingt überaltert." Siehe auch die Tabelle S. 246.
[204] Priamus, Ruinenkinder, nennt auf S. 72 für das Jahr 1947, in dem die Brüder L. eingeschult wurden, für NRW einen Durchschnitt von 70 Kindern pro Klasse. Doch "die Durchschnittszahlen lenken von der Tatsache ab, daß die Zustände insbesondere in den Volksschulen wesentlich ungünstiger ausfielen als in den übrigen Schulformen. Hier waren aber die meisten Kinder versammelt."
[205] Ich konnte nicht klären, warum Klaus E. Schulgeld zahlen musste, während Ernst-Theo G. davon befreit war. Beide waren Kinder von Kriegerwitwen. Vielleicht lag das an der unterschiedlichen Region: Münster liegt in Westfalen und Langenfeld im Rheinland. - Der frühere preußische Kultusminister Adolf Grimme forderte vermutlich als einer der wenigen in der Nachkriegszeit Schulgeldfreiheit: "Nicht der Geldbeutel des Vaters [! A.H.] sollte über den Bildungsweg eines Kindes entscheiden, sondern nur die Art der Begabung." Schwarze, Region, S. 247.
[206] Von einer Aufnahmeprüfung berichten auch die Zeitzeugen, die die Realschule besuchten. Karl und Heinz L. haben diese Prüfung in Telgte sogar als die beiden besten Schüler bestanden.
[207] Diese Hinterlassenschaften des Krieges "lagen außerhalb der elterlich - nachbarschaftlichen Kontrolle und bildeten schon deshalb ideale, wenn auch alles andere als ungefährliche 'Abenteuerspielplätze' für die Heranwachsenden der Nachkriegszeit." Köster, Markus, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel, Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Paderborn 1999, S. 391. Spiegel, Frikadellchen, schreibt auf S. 115 vom "gigantischen Abenteuerspielplatz", den er nach seiner Rückkehr nach Essen - Altenessen vorfand und auch weidlich nutzte. - Schäfers, Als unser Münster, schreibt zusammenfassend auf S. 97f: "Unsere Jagdgründe hatten wir auf den bewachsenen Trümmern ... Wir hatten damals die besten Möglichkeiten zum Spielen, die sich ein Kind vorstellen kann."
[208] Hülle, volkstümlich für das Rochushospital in Telgte. In der Nähe stand das Behelfsheim der Familie L.
[209] Das Durchschnittsalter meiner Zeitzeugen lag bei Kriegsende bei gut sieben Jahren. Für Kinder in diesem Alter kommen die von Köster, Jugend, vor allem S. 406-420 genannten Aktivitäten für Jugendliche noch nicht in Frage.
[210] Jakobi/Link, Geschichte, S. 253-275, für Kinder: Schäfers, Als unser Münster, z. B. S. 13-22.
[211] Priamus, Ruinenkinder, S. 53.
[212] "Pängelanton": Westfälisch für Kleinbahn, Bummelbahn.
[213] Nachdem "Ostflüchtlingen Sonderpunkte für Textilien vom Zweizonenwirtschaftsrat in Frankfurt zugeteilt" worden waren, protestierte der Rat der Stadt Münster am 02.08.1948 dagegen, weil er dadurch die Ausgebombten benachteiligt sah, Gesellschaft für ostdeutsche Kulturarbeit, Neuanfang, S. 49. - Nach Jakobi/Link, Geschichte, S. 92, wurden "Ende 1947 anstelle der Bezugsscheine Punktkarten ausgegeben." Mehr zum ganzen Thema bei Jakobi/Link auf S. 91-97.
[214] In einer Vorlesung im Wintersemester 2010/11 stellte Hans-Ulrich Thamer fest, dass die Uniformen der einzelnen NS-Organisationen sich in ihrer Stoffqualität deutlich unterschieden. Die SS-Uniformen bestanden aus einem viel besseren Stoff als etwa die der SA. In den SS-Uniformen scheuerte sich niemand die Haut wund.
[215] Priamus, Ruinenkinder, S. 45 "Besonders gravierend wirkte sich das Fehlen von Schuhen aus." So konnte es zumindest im Ruhrgebiet geschehen, dass "mehrere Kinder ... ein und dasselbe Paar Schuhe abwechselnd" benutzten. Schon in den KLV-Lagern hatte es Probleme mit der Reparatur von schadhaften oder Ersatz von nicht mehr passenden Schuhen gegeben, Füller, Kriegsheimat S. 93f. - Bei Jakobi/Link, Geschichte sagt auf S. 94 eine Zeitzeugin: "Bei Zumnorde [Schuhgeschäft in Münster A.H.] konnte man Schuhe tauschen, wenn einem welche zu klein geworden waren."
[216] Nach der "Bekanntmachung der Stadt Münster über die Beschlagnahme von Baustoffen und Abfallholz aus den Bauruinen, vom 12. Oktober 1945", abgedruckt in Gutschow/Stiemer, Dokumentation, S. 42-44, war die Aktion illegal, wenn sie nach dem 31.10.1945 stattfand. Nach diesem Datum soll das Abfallholz "gesammelt und auf Lagerplätze abgefahren" werden. "Das so gewonnene Holz soll an die Verbraucher verkauft werden." Je nach Menge wird den Grundstücksbesitzern eine Entschädigung gezahlt. Insgesamt ist das eine recht komplizierte Bekanntmachung.
[217] Bernhardine C. spricht hier offen von "klauen." Der Kohlenklau war damals so weit verbreitet, dass das den Diebstahl beschönigende Wort "organisieren" (siehe 3.3.3.1 Anm. 111) nicht gebraucht wurde.
[218] Ermann, Wir Kriegskinder, Vortrag im Südwestrundfunk im November 2003, zu finden unter URL: http://www.poolalarm.de/kinderschutz/kriegskinder/Wir_Kriegskinder_SWR-Vortrag.pdf, eingesehen am 10.08.2011, S. 1.
[219] Dokumente deutscher Kriegsschäden Bd. II/2 S. 237.
[220] Ermann, Spiegel-Gespräch, 21.02.2009, und Reddemann, Körper, in: Burgdorff/Habbe, Feuer, S. 240-242. - Ein bewusstes Erinnern beginnt erst im Alter von etwa zwei Jahren, Schäfer, Susanne, Als ich klein war, Niemand erinnert sich an seine ersten beiden Lebensjahre, in: Die Zeit, Nr. 45, 04.11.2010, S. 40.
[221] Überblick über aktuelle Literatur in: von Thadden, Elisabeth, Die Kriegskinder sind unter uns: Die letzten Zeitzeugen des Weltkriegs werden alt, Die Zeit, Nr. 20, 07.05.2009, S. 50. Als Film nenne ich: "Nicht alle waren Mörder", der auf eindrucksvolle Weise das Schicksal eines jüdischen Kriegskindes darstellt.
[222] Kriegskinderkongress Frankfurt am Main 14.-16.04.2005.- Das Tagungsprogramm nebst weiteren Informationen, unter: URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=3597, eingesehen am 11.12.2010. Kurz danach war ein Workshop in Essen, siehe Sammelband dazu: Fooken, Insa und Zinnecker, Jürgen (Hgg.), Trauma und Resilienz, Weinheim und München 2007.
[223] Forschungsgruppe Weltkrieg2 Kindheiten unter: URL: http://www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de/Dokumente/Dateien/w2kAbschlussberichtEndfassung.Maerz2011.doc, eingesehen am 16.08.2011. (Sprecherinnen: Insa Fooken und Barbara Stambolis), die Gruppe Kriegskindheit unter Leitung von Michael Ermann (URL: http://www.kriegskindheit.de/), Verein "kriegskind.de e.V. - Projekt zur Therapie Kriegstraumatisierter" (URL: http://www.kriegskind.de/).
[224] Winterberg, Yury und Sonja, Kriegskinder, Augsburg 2009, S. 7.
[225] Ermann, Michael, Kriegskinder in Psychoanalysen - Abschiedsvorlesung München 20.03.2009, zu finden unter Ermann, Michael: Kriegskinder in Psychoanalysen - Abschiedsvorlesung München 20.03.2009, zu finden unter URL: http://www.m-ermann.de/http-m-ermann-de-aktuell-html.html, eingesehen am 10.08.2011. Dort zu finden unter: Link: Abschiedsvorlesung. S. 1, dort auch das übernächste Zitat S. 3; das nächste Zitat in: Ermann, Wir Kriegskinder, S. 8.
[226] Freud/Burlingham, Kinder, S. 3. Das folgende Zitat S. 30. - Schulz, Hermann; Radebold, Hartmut; Reulecke, Jürgen, Söhne ohne Väter, Erfahrungen der Kriegsgeneration, Bonn 2005, weisen in ihrem Buch auf den Vater hin, der bei Freud/Burlingham weniger im Blick ist: "Auch die heutigen Forschungen belegen die unveränderte Bedeutung des Vaters für das Aufwachsen von Töchtern und Söhnen." S. 22. - Winterberg/Winterberg, Kriegskinder, nennen auf S. 62f "hunderttausende Kinder", die in England evakuiert wurden. "Ihre Erfahrungen könnten unterschiedlicher nicht sein."
[227] Es geht dabei vor allem um "Regression", d.h. den Rückfall in eine frühere Entwicklungsstufe.
[228] Ohler, Ohler, Kinder, S. 293.
[229] Radebold, Kriegsbeschädigte Kindheiten, S. 11. - Er nimmt in seine Berechnung die Jahrgänge 1946 bis 1948 als sog. zweite Generation der Kriegskinder hinzu.
[230] Werner, Emmy E., Resilienz und Protektionsfaktoren im Lebenslauf von Kriegskindern, in: Fooken/Zinnecker, Trauma, S. 47-55, S. 53.
[231] Pressemitteilung der WWU Münster vom 10.02.2010 Erinnerung im Alter - Neue interdisziplinäre Studie über Generation der Kriegskinder, zu finden unter: URL: http://idw-online.de/pages/de/news?print=1&id=355032. S. 1. (gesehen am 11.12.2010.) Gereon Heuft, ein Mitverfasser dieser Studie, wirbt geradezu für eine Therapie auch bei alten Menschen: Ries, Elmar, Der vergessene Krieg, Prof. Heuft hilft Menschen, die im Alter plötzlich körperlich unter den Erfahrungen ihrer Kindheit leiden, in: Westfälische Nachrichten, Nr. 302, 28.12.2010, S. RWF 01. Von anderen Zahlen abweichend steht in dem WN-Artikel zu lesen: "Bei zwei Drittel der heute um die 70 Jahre alten ... Deutschen haben sich die Erlebnisse im Krieg als mittelschwere bis schwerste Belastung in die Seele gefressen."
[232] Ermann, Wir Kriegskinder, nennt auf S. 3 Symptome der PTBS. - Schulz et.al., Söhne, weisen auf S. 118 darauf hin, dass bei Kriegskindern eine vollständige PTBS im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung eher seltener, eine teilweise PTBS aber "auffallend häufiger" zu finden ist. Auf S. 117 geben sie "Schutzfaktoren für die Kindheit" an. Weitere Schutzfaktoren bei Werner, Resilienz, in: Fooken/Zinnecker, Trauma, S. 53f.
[233] Die Zitate zur Resilienz unter URL: http://www.medizin-im-text.de/blog/52/resilienz/ S. 2, eingesehen am 11.12.2010.
[234] Von Hagen, Cornelia und Röper, Gisela, Resilienz und Ressourcenorientierung, in: Fooken/Zinnecker, Trauma S. 15-28, S. 15.
[235] Fooken/Zinnecker, Trauma, Einleitung, S. 7f.
[236] Schulz et.al., Söhne, nennen auf S. 138 die Alternative zum frühen Erwachsenwerden: Unselbständigkeit, "als Junge eher behütet und versorgt." Aber: "Auf jeden Fall lernten sie [die Söhne ohne Väter A.H.], sich intensiv auf ihre Mütter (und später auf weitere Frauen!) einzustellen, um sie zu verstehen und für sie zu sorgen."
[237] Freud/Burlingham, Heimatlose Kinder, S. 38.
[238] MRT, Magnetresonanztomographie: Strahlenuntersuchung in einer engen Röhre, begleitet von lauten Geräuschen.
[239] Ich sehe hier einen Zusammenhang mit der Sorge von Ernst-Theo G., dass er frühzeitig sterben könnte (siehe oben).
[240] Der Begriff "übertragen" spielt bei Siegmund Freud eine große, wenn auch anders geartete Rolle. - Noch heute tragen manchmal Kinder "eine spezifische Verantwortung" für ihre Eltern, etwa indem sie sie pflegen. Siehe "Young Carers" bei URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Young_Carers, eingesehen am 23.04.2010.
[241] Passend auch zu Monika S.: Werner, Resilienz, in: Fooken/Zinnecker, Trauma, S. 54: "Das Durcharbeiten der traumatischen Kriegserfahrung scheint ... zu ihrem persönlichen Wachstum im späteren Leben beigetragen zu haben."
[242] Siehe auch Erinnerung der Brüder L. 5.6
[243] Münsterländisch für kleine, lustige Geschichte, eine Begebenheit mit einem gewissen Unterhaltungswert.
[244] Köster, Jugend, S. 386. Über die Schwierigkeiten mit der Verwandtschaft in der Evakuierung, siehe 3.3.3.2.3.
[245] Einzige Ausnahme: Ernst-Theo G. wurde aus Essen evakuiert.
[246] Domansky/de Jong, Schatten, S. 138.
[247] Stambolis, Barbara, Jakob, Volker, Kriegskinder. Zwischen Hitlerjugend und Nachkriegsalltag, Münster 2006, S. 9f.
[248] Zum Begriff der Volksgemeinschaft siehe Thamer/Erpel, Hitler, Untertitel: Volksgemeinschaft und Verbrechen.
[249] Pressemitteilung der WWU Münster vom 10.02.2010, in: URL: http://idw-online.de/pages/de/news?print=1&id=355032.
[250] Teetz, Christiane, Nachts kehrt der Schrecken zurück, in: Die Zeit, Nr. 48/2010 (11.11.2010), S. 48.
[251] Ries, Elmar, Der vergessene Krieg, WN 28.12.2010, S. RWF 01.
[252] In unserer Schule in Hannover wurde das im Fach Gemeinschaftskunde besprochen, weil es als Zeitgeschichte galt.
[253] Spiegel, Frikadellchen, nennt auf S. 115 das sehr stark zerstörte Essen einen "gigantischen Abenteuerspielplatz".