Quelleneditionen > Erster Weltkrieg


Ausmarschtransport 1914 / Foto: Müller-Loebnitz, Wilhelm: Das Ehrenbuch der Westfalen. Die Westfalen im Weltkrieg, Stuttgart 1931







Heye Bookmeyer / Florian Steinfals
Laura-Marie Krampe / Jost Wagner

Das "Augusterlebnis" 1914


Das Augusterlebnis stand lange Zeit synonym für den von der gesamten Zivilbevölkerung euphorisch begrüßten Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg. Dabei handelte es sich rückblickend bereits 1914 um eine Vermischung realer Kriegsbegeisterung und medialer Inszenierung. Der Kriegsbeginn wurde vielerorts ambivalent wahrgenommen, es lässt sich also eher von individuellen "Augusterlebnissen" als von einer einheitlichen Stimmungslage im Sommer 1914 sprechen. Daher ist es nötig, auch die überlieferten Quellen in ihrem mentalitätsgeschichtlichen Kontext und ihrer individuellen Vielschichtigkeit zu betrachten. Insbesondere Selbstzeugnisse in Form von Briefen, Reiseberichten oder Tagebüchern können diesbezüglich einen Perspektivwechsel ermöglichen. Es zeigt sich zunehmend, dass vor allem die städtische und ländliche Wahrnehmung keineswegs identisch waren. Daher wird in den hier edierten Quellen das Augusterlebnis aus zwei unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen.








Der Erste Weltkrieg in Westfalen - Ausgewählte Archivquellen



 
Die Briefe des
Leutnant Kurt Zwirner
Die Briefe des Leutnants Kurt Zwirner (*1892, †1918) über seine Kriegserlebnisse auf den Schiffen SMS Lothringen, SMS Breslau und SMS Großer Kurfürst gelangten 1986 mitsamt des Nachlasses von Eberhard Zwirner (*1899, †1984) in das damalige Staatsarchiv Münster. Der Nachlass umfasst zum einen das Material, das als Ergebnis der umfänglichen Forschungen Eberhard Zwirners zur Geschichte der Familien Zwirner und Schöngarth entstanden ist, zum anderen besteht der Nachlass aus persönlich-wissenschaftlicher und familiärer Korrespondenz, darunter auch den Briefen Kurt Zwirners, dem älteren Stiefbruder Eberhards.

Die Briefe veranschaulichen das Augusterlebnis aus der Sicht einer direkt beteiligten Person. Weil Kurt Zwirner Leutnant zur See war, ist zu beachten, dass seine Aussagen sich eventuell von denen der Zivilisten unterscheiden. Das liegt zum einen an seinem Berufsstand und zum anderen daran, dass unter Soldaten eine andere Gruppendynamik herrschte als in der Bevölkerung.[1] Auch die private Natur der Briefe und die damit einhergehende Intention des Verfassers muss berücksichtigt werden.
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Portrait des Leutnants zur See Kurt Zwirner
 
Das Tagebuch der
Mathilde von Ledebur
Von Mathilde Luise Helmine Ernestine Dorothea von Ledebur (*11.07.1858 auf Schloss Crollage/Westfalen; †28.03.1919 auf Gut Obernfelde/Westfalen) sind zwei Tagebücher über die ersten Kriegsmonate überliefert. Die Tochter von Albrecht (*1827, †1899) und Marie von Ledebur (*1833, †1876), geborene Freiin von Recke-Obernfelde, dokumentierte die Ereignisse 1914/15 aus Sicht einer westfälischen Landadligen. Die älteste von zwölf Geschwistern übernahm nach dem Tode ihrer Mutter den Haushalt auf dem Familiengut Crollage und war im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester tätig. Datumsangaben und Reihenfolge der Begebenheiten in ihrem Tagebuch scheinen nicht immer chronologisch erfolgt zu sein. Daraus resultierende Unstimmigkeiten könnten auf eine spätere Niederschrift der Ereignisse hindeuten.

Von Ledebur beschreibt die vielerorts vorherrschende Kriegseuphorie und die optimistischen deutschen Siegesprognosen, besonders innerhalb der jungen Bevölkerung. Gleichzeitig äußert sie sich zu den schmerzlichen Abschieden der Soldaten von ihren Familien und bekundet ihr Unbehagen über den Kriegseintritt Englands. Zudem geben ihre Aufzeichnungen einen anschaulichen Einblick in die allmähliche Umstrukturierung der Zivilgesellschaft auf Grund der einsetzenden Mobilmachung. Auch weitere alltagsgeschichtliche Phänomene lassen sich aus ihrer Darstellung rekonstruieren: Die Versorgung ausrückender Soldaten am Bahnhof durch die ortsansässigen Frauen und Kinder (Geschlechterrollen), ein übersteigertes Misstrauen gegenüber den Kriegsgegnern (Feindbilder), sowie ihre Bekanntschaft mit unterschiedlichen Standespersonen (Adelsnetzwerke).
Weitere Ressourcen im Internet-Portal:
Erster Weltkrieg | 1900-1949 |
Deutsches Reich 1871-1918 |
Kriegsalltag / Soldaten | Kriegsalltag / Zivilbevölkerung










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Frauen an einem Ausschankstand am Bahnhof Recklinghausen, ca. 1916
 
Anmerkungen
[1] Vgl. Ziemann, Benjamin: Kriegsfreiwillige, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 639f. und Ullrich, Volker: Kriegsbegeisterung, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Ina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 630f.
 
 
Literatur
  • Chickering, Roger: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, 2. Auflage, München 2005.
  • Nübel, Christoph: Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster [u.a.] 2008 (Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäischen Ethnologie 14).
  • Ullrich, Volker: Kriegsbegeisterung, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Ina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 630f.
  • Verhey, Jeffrey: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.
  • Ziemann, Benjamin: Kriegsfreiwillige, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Ina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 639f.