Erinnerungskultur in OWL > Hauptarchiv Bethel




Walter Israel Beyth bittet den 'Vorstand Bethel', den Transport seines Sohnes Reinhard in ein Sammellager nach Wunstorf zu organisieren, 17.09.1940 (Vorderseite) / Hauptarchiv und Historische Sammlung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, unverzeichnet






Kerstin Stockhecke

Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel im Nationalsozialismus

 
 

1. Einleitung

 
 
 
In den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gab es während der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 4.500 Plätze für Menschen, die unter einer Epilepsie litten, körperliche und geistige Behinderungen hatten, psychisch beeinträchtigt oder arbeits- und wohnungslos waren. Sie alle waren mehr oder weniger von den rassenpolitischen Zielsetzungen des nationalsozialistischen Regimes bedroht. Das galt vor allem für die Zwangssterilisationen und die so genannte Euthanasie. Zweifach gefährdet waren die jüdischen Patienten und Patientinnen, die in Bethel lebten: zum einen durch ihre Religionszugehörigkeit, zum anderen durch ihre Behinderung.

Zu folgenden weiteren Themen aus dem Bereich Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg finden SchülerInnen und LehrerInnen Material im Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel:
  • Friedrich v. Bodelschwingh d. J. und der Kirchenkampf
  • Bethel und das Lazarett
  • Zwangsarbeiter
  • Kriegsgefangene
  • Luftangriffe auf Bethel.
 
 
 
 

2. Zwangssterilisationen

 
 
 
Am 01.01.1934 trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft. Für Menschen, die von den dort definierten Erbkrankheiten betroffen waren, sah das Gesetz die Sterilisation durch einen chirurgischen Eingriff vor. Als Erbkrankheiten galten: "angeborener Schwachsinn", "Schizophrenie", "zirkuläres (manisch-depressives) Irresein", "erbliche Fallsucht", "erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)", "erbliche Blindheit", "erbliche Taubheit" und "schwere erbliche körperliche Mißbildungen". Ferner konnte sterilisiert werden, "wer an schwerem Alkoholismus" litt.

Schon seit den 1920er Jahren wurden in Deutschland und auf internationaler Ebene verschärft eugenische und rassenhygienische Fragen diskutiert. Daran beteiligten sich auch die evangelische Kirche und die Innere Mission. Die Auffassung, dass die Fortpflanzung von Menschen mit vermeintlich ‚minderwertigem' Erbgut einzuschränken sei, setzte sich in der Gesundheits- und Sozialpolitik zunehmend durch. Dabei spielten die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik und die daraus entstandene Kritik am wohlfahrtsstaatlichen System eine wesentliche Rolle.

Auch der Leiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Friedrich von Bodelschwingh d.J. - äußerte sich seit Ende der 1920er Jahre aufgeschlossen gegenüber eugenischen Sterilisationen. Da Bodelschwingh immer auf Freiwilligkeit gesetzt hatte, stieß bei ihm zunächst der Zwangscharakter des Gesetzes auf leichte Bedenken. Doch insgesamt akzeptierte er das Recht eines Staates, hier Zwang ausüben zu dürfen. Er appellierte innerhalb von Kirche und Innerer Mission an die seelsorgerliche Verantwortung für die betroffenen Männer und Frauen.

Die leitenden Ärzte in Bethel begrüßten nahezu einhellig das Gesetz und beteiligten sich schnell an dessen Umsetzung. Bisher ist die Durchführung von Zwangssterilisationen an 1.176 Patienten und Patientinnen der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel nachgewiesen. Sie wurden in den Betheler Krankenhäusern Nebo und Gilead durchgeführt. Die Diagnosen lauteten vor allem Epilepsie, Schwachsinn und Schizophrenie.
 
 
 
 
 
 
 

3. "Euthanasie"

 
 
 
Ende Oktober 1939, zurückdatiert auf den 01.09.1939, hatte Adolf Hitler den Geheimbefehl erteilt dass, "unheilbar Kranken" "der Gnadentod gewährt werden kann".

Für den Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh stand ab Anfang April 1940 fest, dass kranke, behinderte und psychisch beeinträchtigte Menschen selektiert, in Tötungsanstalten gebracht und dort ermordet wurden. Bodelschwingh lehnte dieses aus religiösen Gründen rundweg ab. In der Hoffnung, die Mordaktionen stoppen zu können, informierte er Kirchenleitungen und andere Leiter von Einrichtungen der Inneren Mission, er schrieb an Behörden und Parteifunktionäre, er nahm Kontakt zu führenden Personen des nationalsozialistischen Staates auf, führte mit ihnen Gespräche oder versuchte beharrlich zu Gesprächen mit den Verantwortlichen vorzudringen. Dabei kritisierte er die Krankentötungen und forderte zumindest eine gesetzliche Grundlage. Im Zuge einer gesetzlichen Regelung - so dachte Bodelschwingh - hätten die Tötungsaktionen nicht länger geheim bleiben können und auch das Ausland hätte davon erfahren.

Mitte Juni 1940 waren in Bethel Meldebögen aus dem Reichsinnenministerium eingetroffen. Sie sollten mit biografischen Angaben und Diagnose zu jedem einzelnen Patienten ausgefüllt werden. Anstaltsleitung und leitende Ärzte lehnten das Ausfüllen der Meldebögen ab. Um die Betheler Patienten und Patientinnen für die Durchführung des "Euthansie"-Programms zu selektieren, führte vom 19.02. bis 26.02.1941 eine amtsärztliche Kommission in Bethel Untersuchungen durch.

Die v. Bodelschwingschen Anstalten Bethel hatten nie eine Aufforderung zum Abtransport von Patienten und Patientinnen erhalten. Auch wenn ihnen dieses nie schriftlich oder mündlich mitgeteilt wurde.

Offiziell wurde die erste "Euthansie"-Aktion, die "Aktion T 4" (nach der Dienststelle in Berlin, Tiergarten 4) im August 1941 gestoppt. Mindestens 70.000 Menschen waren bis dahin der "Euthanasie" zum Opfer gefallen. Unter noch größerer Geheimhaltung, häufig in den Anstalten selbst, wurden nach August 1941 die Patientenmorde weitergeführt.
 
 
 
 

4. Jüdische Patienten und
Patientinnen

Am 30.08.1940 hatte das Reichsinnenministerium eine "Verlegung geisteskranker Juden" angeordnet. Vorwand war, dass noch immer "Juden mit Deutschen in Heil- und Pflegeanstalten gemeinsam untergebracht sind". Am "26. oder 27. September 1940" sollten jüdische Patientinnen und Patienten in eine nicht näher bezeichnete "Sammelanstalt" gebracht werden.

In den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel waren davon 14 Patientinnen und Patienten jüdischen Glaubens betroffen. Zunächst sollten sie bis zum 21. September in eine andere Anstalt gebracht werden. Von dort aus erfolgte dann der Transport in die "Sammelanstalt". Bethel war angewiesen, ihre jüdischen Patienten und Patientinnen in die Landesheil- und Pflegeanstalt Wunstorf zu bringen. Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel benachrichtigten einige Familien von Betroffenen und legte ihnen nahe, ihre Angehörigen nach Hause zu holen. Gleichzeitig wurde versucht, über die Jüdische Kultusgemeinde in Bielefeld private Unterbringungsmöglichkeiten oder einen Platz in einer jüdischen Anstalt zu finden. Für sechs Patienten und Patientinnen wurde eine anderweitige Unterbringung gefunden. Acht jüdische Männer und Frauen wurden am 21.09.1940 nach Wunstorf verlegt; eine Patientin konnte von dort noch abgeholt und bei einer jüdischen Familie in Bielefeld untergebracht werden. Für die anderen vier Männer und drei Frauen kam jede Hilfe zu spät.

Nach heutigen Erkenntnissen geht man davon aus, dass die Betheler Patienten und Patientinnen, die in die Anstalt nach Wunstorf gebracht wurden, in die Tötungsanstalt in Brandenburg/Havel transportiert und dort mit Gas umgebracht wurden.
 
 
 
 
 
 
 

5. Literatur

 
 
 
Benad, Matthias
Widerstand als beharrliche Einrede - Kampf gegen Euthanasie. In: Der Ring. Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Februar 1996, S. 6-12.

Hochmuth, Anneliese
Spurensuche: Eugenik, Sterilisation und Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, hg. v. Matthias Benad, Bielefeld 1997.

Kühl, Stefan
Eugenik und "Vernichtung lebensunwerten Lebens": Der Fall Bethel aus einer internationalen Perspektive. In: Benad, Matthias (Hg.): Friedrich v. Bodelschwingh d. J. und die Betheler Anstalten. Frömmigkeit und Weltgestaltung, Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 54-67.

Stockhecke, Kerstin
September 1940. Die "Euthanasie" und die jüdischen Patienten in den v. Bodelschwinghsen Anstalten Bethel. In: Brack, Claudia / Burkhardt, Johannes / Günther, Wolfgang / Murken, Jens (Hgg.), Kirchenarchive mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2007, S. 131-142.

Walter, Bernd
Zwangssterilisationen und Planwirtschaft im Anstaltswesen. Die Konfrontation der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel mit den rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes. In: Benad, Matthias (Hg.): Friedrich v. Bodelschwingh d.J. und die Betheler Anstalten. Frömmigkeit und Weltgestaltung, Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 137-152.

Schmuhl, Hans-Walter
Ärzte in der Anstalt Bethel 1870-1945, hg. v. Matthias Benad, Bielefeld 1998.

Schmuhl, Hans-Walter
Ärzte in der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta 1890-1970, hg. v. Matthias Benad, Bielefeld 2001.