PERSON

(85 KB)   Wilhelmine Möller (geb. 1899), Totenfrau im Weserbergland / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees   Informationen zur Abbildung

Wilhelmine Möller (geb. 1899), Totenfrau im Weserbergland / Münster, Landwirtschaftliches Wochenblatt Westfalen-Lippe / Gisbert Strotdrees
FAMILIEMöller
VORNAMEWilhelmine
BERUF / FUNKTIONTotenfrau


VERWEISUNGSFORMgeb. Brandt
GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1899-07-17   Suche
GEBURT ORTNammen [Porta Westfalica-Nammen]
EHEPARTNER[1921]: Karl Möller (gest. 1958)


BIOGRAFIEIn den Dörfern des Weserberglandes gab es früher einen Beruf, der traditionell von Frauen wahrgenommen wurde: den Beruf der "Totenfrau". Sie wurde gerufen, wenn in einer Familie jemand gestorben war. Die "Totenfrau" sorgte für all jene kleinen und großen Dienste, die bei einem Sterbefall getan werden müssen - vom Herrichten der Toten für den "letzten Gang" bis hin zur Trauerfeier für die Hinterbliebenen.

Heute ist dieser Beruf nahezu ausgestorben. Längst werden auch auf dem Land mehr oder weniger anonyme Beerdigungsunternehmen beauftragt. Eine der letzten Totenfrauen Westfalens ist die 92jährige Wilhelmine Möller. Sie wohnt in einem kleinen Bauernhaus am Rand der 2.000 Einwohner zählenden Gemeinde Nammen, zwischen Porta Westfalica und Bückeburg gelegen. "Rund 25 Jahre habe ich das hier im Dorf gemacht", erzählt die hochbetagte Frau. "Im Laufe der Zeit bin ich wohl in jede Familie der Gemeinde gerufen worden, und manchmal mache ich mich auch heute noch auf den Weg."

Jeder im Dorf kennt "Möllers Mutter", wie sie genannt wird. Als einfühlsame und geschickte Frau wird sie geschätzt - und das nicht nur in Nammen. "Vor einiger Zeit hat mich sogar eine Frau aus Bad Oeynhausen angerufen. Wenn sie stirbt, soll ich kommen und sie für die Beerdigung fertig machen." Sie habe die Anruferin gefragt, wie alt sie denn sei; siebzig Jahre, habe die Bad Oeynhausenerin geantwortet. "Dann sind sie ja noch jung", erzählt die 92jährige schmunzelnd von dem Telefonanruf.

Unbeschwert, so scheint es, geht Wilhelmine Möller mit dem Alter und mit dem Tod um - in einer Zeit, die den Tod verdrängt, ja sogar zum Tabu erklärt hat. "Da denke ich mir gar nichts bei", sagt sie schlagfertig, "Tod gehört doch zum Leben dazu." Sie wundert sich, wie es scheint, einen kurzen Moment selbst über ihren Satz, und dann stellt sie bündig fest: "Ja, so einfach ist das."

Als Totenfrau habe sie im Laufe der Zeit "viel Trauer und viel Leid miterlebt". Sie sagt dies mit bewegter Stimme, als würden noch einmal alle Todesfälle wie ein Film vor ihrem Auge abgespult. Oberflächliche Routine hat sie in all den Jahren nicht entwickelt. Die trauernden Menschen, die Wilhelmine Möller aufsuchte, wußten: Die Totenfrau hat an eigener Haut schmerzlich erfahren, was es heißt, in frühen Jahren nahe Angehörige zu verlieren.

Geboren ist Wilhelmine Müller am 17.07.1899 als älteste Tochter der Eheleute Brandt. "Meine Eltern waren kleine Landwirte hier in Nammen", erzählt sie. Auf dem Hof Ist sie gemeinsam mit drei Schwestern und zwei Brüdern aufgewachsen.

Im Alter von 22 Jahren heiratete sie den Kalkbrenner Karl Möller. Drei Kinder brachte sie zur Welt. Zwei starben bereits bei der Geburt, das dritte Kind, ein Sohn, wurde im Zweiten Weltkrieg Soldat. Er gilt seit 1944 als vermißt.

Ihr Mann schließlich starb nach einer langen, schweren Krankheit im Jahr 1958. Er war ein spätes Opfer des Ersten Weltkrieges. Er hatte sich durch Kriegsverwundung ein Leiden zugezogen, das erst Jahre später offen ausbrach. Bereits vier Jahre nach der Eheschließung war er zum ersten Mal schwer erkrankt, wenig später konnte er seiner Arbeit nicht mehr nachgehen.

"Mein Mann war 32 Jahre alt, als er Frührentner wurde, erzählt Wilhelmine Möller. "Er bekam 51 Mark normale Rente, und 42 Mark Invaliden-Rente. Macht zusammen 93 Mark - davon konnten wir auch damals nicht leben."

Wilhelmine Möller mußte Geld hinzuverdienen. Eine kleine Landwirtschaft half, die schlimmsten Finanznöte zu überstehen. Im Stall hinterm Haus standen zwei Kühe und ein paar Schweine; auch etwas Garten- und Ackerland gehörten dazu.

"Ein bißchen Geld habe ich mir dann hinzuverdient - nein, nicht als Totenfrau, das kam später; nein, ich war damals 'Tierhebamme'", erzählt sie. "Hier in ganz Nammen ist wohl kein Stall, wo ich nicht drin gewesen bin." Wie sie zu diesem außergewöhnlichen "Beruf" gekommen ist? "In meinem Elternhaus haben wir Kühe, Schweine und Ziegen gehabt, und schon als Kind war ich immer neugierig, wenn Geburten im Stall waren." Ihr Vater habe sie mit einigen Kniffs und Tricks vertraut gemacht, "das kam mir dann zugute".

Wenn sich irgendwo auf einem Hof in Nammen oder Umgebung eine schwere Geburt im Stall ankündigte, wurde Wilhelmine Möller gerufen.

"Manchmal holte mich sogar der Tierarzt ab", erzählt sie nicht ohne Stolz. "Auf einem Meierhof wurde eine Kuh melk, da war ein Kaiserschnitt fällig. Dem Tierarzt habe ich dabei über die Schulter geguckt, und auf einmal hat er sich zu mir umgedreht und gesagt: 'Möllersche, guck' nicht so genau, sonst machst Du das auch noch nach!'"

Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes wurde Wilhelmine Möller schließlich Totenfrau in Nammen. Ihre "Vorgängerin" war erkrankt. "Anfangs haben wir uns abgewechselt, und dann bin ich da so nach und nach reingewachsen."

Wenn jemand starb, dann sprach Wilhelmine mit den nächsten Angehörigen all das ab, was geregelt werden mußte: wo und wie der Tote aufgebahrt und wann er bestattet werden sollte. Auch hatte die Totenfrau unverzüglich den Küster im Dorf zu benachrichtigen, der dann die Totenglocken läutete. Pünktlich hatte auch der dafür vorgesehene Landwirt mit Pferden bereitzustehen, die den Leichenwagen zogen.

"Wenn ein Bauer starb, wurde er auf der Tenne aufgebahrt", erzählt Wilhelmine Möller. Die Totenfrau hatte den Verstorbenen zu waschen, sie kleidete ihn auch an. "Männer bekamen meist den Sonntagsanzug an", erzählt sie, "Bergleute und Feuerwehrmänner wurden in Uniform bestattet. Und die Bauersfrauen wurden in der hiesigen Tracht gekleidet."

Ob es sie nicht manchmal geschauert hat bei dieser Aufgabe? "Ach, sagt sie, "wer soviel erlebt hat wie ich, wer soviel mitgemacht hat, der kann alles - auch Totenfrau sein. Gegraut hat es mich eigentlich nicht." Und sie setzt hinzu: "Am schlimmsten war für mich immer das Leid, vor allem, wenn irgendwo ein junger Mensch starb."

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 145f.
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-09-09


PERSON IM INTERNETBiografien, Literatur und weitere Ressourcen zur Person mit der GND: 142609943


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 145f.

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Sachgebiet6.8.8   Frauen
6.10.3   Tod, Witwenschaft, Witwerschaft
DATUM AUFNAHME2003-11-07
DATUM ÄNDERUNG2010-10-21
AUFRUFE GESAMT4058
AUFRUFE IM MONAT354