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Teil 2 –
Tagungsdokumentation

 
 
 

"Politische Partizipation von Frauen im 20. Jahrhundert"

 
 



 




 
 





 
Amalia Sdroulia
 
 

"Erfahrungen in und mit der Politik"
Politikerinnen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag

 
 
 

1. Partizipation und Quotenregelung in der Politik der Grünen

 
 
 
Die faktische Marginalisierung von Frauen in der politischen Praxis, ihre geringe Repräsentation in Parlamenten und Regierungen schlägt in manchen Forschungsansätzen auf die Politikerinnen selbst zurück, schließlich, so die häufig anzutreffende Behauptung, mangele es Frauen an Kompetenz, Aufstiegsorientierung, Seilschaften oder ganz allgemein an Interesse an einer politischen Laufbahn.

Da die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern allerdings ein grundgesetzlich verankertes politisches Ziel darstellt, bedarf es einer gleichrangigen Beteiligung von Frauen in der Politik sowie ihrer angemessenen Teilhabe an politischem Einfluss und politischer Macht. Es stellt sich indes die Frage, wie in der Politik eine reale gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter zu gewährleisten ist. Erst seit relativ kurzer Zeit haben Frauen überhaupt zu den von Männern geprägten politischen Institutionen Zutritt; die unzureichende Partizipation von Frauen an der politischen Öffentlichkeit muss demnach als Folge tradierter Geschlechterideologie gesehen werden, die sich sowohl gegen die historische Frauenbewegung [1] als auch gegen die neue Frauenbewegung [2] nahezu unverändert erhalten hat. Diese tradierte Ideologie ließ Frauen Distanz zur Öffentlichkeit wahren und legte Männern die Ausgrenzung von Frauen aus dem männerbündischen Geschäft der Politik nahe. [3] Als Fremde und Nachzüglerinnen im politisch-administrativen System hatten die wenigen engagierten Frauen kaum Chancen, die Formen politischer Arbeit, die Konventionen des politischen Umgangs und die Definitionen politischer Probleme mitzubestimmen, weil sie mit Regeln konfrontiert wurden, die sich eine vorwiegend männliche Elite zuvor selbst gegeben hatte.
 
 

2. Fragestellung, Aufbau und methodisches Vorgehen

 
 
 
Für die Demokratisierung der institutionalisierten Politik spielt daher die Diskussion um parteiinterne Frauenförderung eine zentrale Rolle. [4] Es ist jedoch fraglich, ob durch Quotierungsregelungen tatsächlich konkrete Machtverschiebungen zugunsten von Frauen zu erzielen sind, [5] oder ob das Instrument der Quotierung bloß traditionelle Einstellungen verdeckt, ohne grundsätzliche Benachteiligungen zu lösen. Konkret wird in diesem Beitrag die politische Partizipation von Frauen am Beispiel der Partei "Bündnis 90/Die Grünen" im Niedersächsischen Landtag untersucht, [6] deren Programmatik die Frage der Gleichberechtigung als gesamtpolitisches Problem verstanden wissen will, das sich nicht auf Frauen isolieren lasse. [7] Der damit formulierte hohe Stellenwert von frauenpolitischen Themen im Parteiprogramm der Grünen gibt Anlass zu der Frage, inwieweit die von den Grünen erhobenen Forderungen in ihren eigenen politischen Gremien umgesetzt werden. Die strikte Quotenregelung kann zwar die gleichberechtigte politische Repräsentation von Frauen sichern, es erscheint jedoch fraglich, ob die Quotierung den politisch engagierten Frauen automatisch denselben politischen Einfluss und eine gleichwertige Machtteilhabe verschafft. Qualitative Interviews mit sechs weiblichen Abgeordneten sollen das Verhältnis von programmatischem Anspruch und politischem Tagesgeschäft bei den Grünen klären helfen.

Zur Untersuchung der Gleichberechtigung und Förderung von Frauen in der Partei werden in meiner Arbeit zwei Ansatzpunkte verfolgt:

  • Zum einen stellt sich generell die Frage nach den Spielregeln des politischen Geschäfts bei den Grünen und damit nach der Interaktion zwischen Frauen und Männern in der Politik aus Sicht der interviewten Abgeordneten.
  • Zum anderen soll mit Blick auf die besonderen Erfahrungen der sechs interviewten Politikerinnen hinsichtlich ihres politischen Engagements das Spezifische des jeweiligen Falls untersucht werden, um auf diese Weise die konkreten Strategien aufzuzeigen, die Frauen selbst bei paritätischer Vertretung in politischen Gremien entwickeln müssen.

Diese doppelte Perspektive der Untersuchung soll klären helfen, welche Hindernisse für einen gleichberechtigten Einfluss und eine gleichberechtigte Machtteilhabe von Frauen in der Politik trotz Quotierung bestehen und inwieweit Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern immer noch zum Ausschluss von Frauen aus den politischen Machtzentren beitragen.

Sechs Abgeordnete der Fraktion "Bündnis 90/Die Grünen" im Niedersächsischen Landtag wurden als Interviewkandidatinnen ausgewählt. Qualitative Interviews wurden einerseits als Expertinneninterviews durchgeführt, [8] in denen die Befragten die Rolle der Spezialistinnen für bestimmte Konstellationen einnahmen, andererseits als subjektive Erfahrungen wahrgenommen, die politische Einstellungen, Sichtweisen und Deutungen kenntlich machen. Im Rahmen meiner Arbeit wurden beide Interviewformen kombiniert, um einerseits den institutionell-organisatorischen Rahmen der parlamentarischen und parteipolitischen Arbeit aus der Sicht von Expertinnen zu untersuchen und andererseits diejenigen subjektiven Erfahrungen von Politikerinnen zu rekonstruieren, die konstitutiv für ihr Handeln im politischen Kontext Bedeutung erlangten. Die zu befragenden Politikerinnen sollten in ihrem politischen Engagement den Schritt über den vorparlamentarischen Bereich hinaus und in die parlamentarische Öffentlichkeit hinein vollzogen haben, das heißt, sie sollten gegenwärtig (oder in der Vergangenheit) Mandatsträgerinnen (gewesen) sein. Da ich auf diese Gesichtspunkte viel Wert gelegt habe, schien es mir eher unwichtig, ob die Befragten Repräsentantinnen einer oder verschiedener Generation waren. Die Kategorie Alter spielte allerdings insofern eine Rolle, als die bereits länger in der Politik tätigen Politikerinnen über ausreichende Erfahrungen im Umgang mit den Strukturen institutionalisierter Politik verfügten und ein hinreichendes Maß an Professionalisierung ihrer Tätigkeit aufwiesen. Die Politikerinnen der Untersuchungsgruppe waren bei Durchführung der Interviews zwischen 40 und 55 Jahre alt.

Die Interviews, die die Datenbasis dieser Studie bilden, bestanden aus einem biographischen Fragebogen sowie aus einem Interviewleitfaden mit 14 teiltandardisierten 'open-end-Fragen' über Machtverhältnis, Spielregeln der Politik, soziale Interaktion zwischen weiblichen und männlichen Kollegen, Gleichberechtigungs- und Förderungsmöglichkeiten, Beurteilung der Quotierung, Verbindung von politischem und privatem Leben sowie über die soziale Herkunft und familiäre Situation. Während der Gespräche kam es mir vor allem darauf an, den Einschätzungen, Perspektiven und Schilderungen der befragten Frauen größtmöglichen Raum zu gewähren. Zudem sollte die Anonymität der befragten Politikerinnen bei der Darstellung einzelner Lebensläufe, Äußerungen und Verhaltensweisen gewahrt bleiben. Die Interviewten werden demzufolge nicht namentlich genannt, sondern mit willkürlichen Buchstabenkürzeln zitiert (Frau AB, CD, EF, GH, IJ, KL).

Die Interviews fanden in der Zeit zwischen Dezember 2001 und Februar 2002 in räumlicher Nähe zum Niedersächsischen Landtag statt, beispielsweise in Abgeordnetenzimmern oder im Fraktionssaal. Sie dauerten zwischen 40 und 95 Minuten. Selbstverständlich gab es unterschiedliche Grade von Nähe und Distanz zwischen den Politikerinnen und mir: Während einige Interviewte eher sachlich und distanziert blieben, vertrauten mir andere auch sehr Persönliches an. Nach der Durchführung der Interviews wurden in einer dritten Arbeitsphase die sechs Interviewtexte transkribiert. Die transkribierten Interviewtexte wurde mit Hilfe inhaltlicher Kategorien geordnet und thematisch gegliedert: Politisches Verhalten, Macht, Partei, Einflussnahme, Stereotypen, Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstdarstellung, Werte, Konflikte. Anschließend erfolgte die inhaltsanalytische Auswertung der nach Themenbereichen geordneten Interviewauszüge entsprechend den Regeln der objektiven Hermeneutik. [9]

Im ersten Teil werden die Interviews als Expertinnen-Gespräche ausgewertet, dabei geht es darum, WAS die Politikerinnen sagten und nicht, wie sie etwas sagten, in welchem Kontext und mit welcher Bedeutung. Die Auswertung der Interviews richtet sich hier also auf das Expertinnenwissen der Politikerinnen über die Handlungsbedingungen, die als Normalität des politischen Alltags gelten.

Die Perspektive des zweiten Teils der Auswertung ist fallbezogen: Durch die Interpretation der Interviewtexte nach dem WIE habe ich Einzelportraits für jede Politikerin gezeichnet. In diesem Teil der Auswertung kam es darauf an, die innere Logik freizulegen, die sich in den verschiedenen Äußerungen einer Politikerin abzeichnet und die die Klammer für viele konkrete zum Teil auch widersprüchliche Äußerungen bildet. Bei der Suche nach den verborgenen Sinnstrukturen konzentrierte sich die Analyse ausschließlich auf das von den Abgeordneten Gesagte. Dabei wurden die Politikerinnen 'beim Wort genommen' und es wurde insbesondere darauf geachtet, wie etwas gesagt wurde, weniger darauf, warum dies so und nicht anders geäußert wurde.

Die Untersuchung sollte mit Hilfe der skizzierten Fragestellungen kritisch prüfen, wie die Grünen als Partei mit weitgehenden frauenpolitischen Forderungen intern Gleichberechtigung praktizieren und ob die Quotenregelung aus der Binnenperspektive der Partei heraus als geeignetes Instrument zur Förderung politischer Partizipation von Frauen wahrgenommen wird.
 
 
 

3. Einblicke in die Normalität des politischen Alltags aus der Sicht der Politikerinnen

 
 
 
Die Erfahrungen der interviewten Politikerinnen mit den Spielregeln des politischen Geschäfts bei den Grünen ermöglichen einen Einblick in die "Normalität" des politischen Alltags ihrer Partei. Die Art und Weise, wie sie während ihrer Laufbahn ihre politische Existenz kreierten, lässt die Professionalisierungsanforderungen kenntlich werden, die an Frauen in der traditionellen Männerdomäne Politik gestellt werden. Diese Anforderungen sollen in drei Schwerpunkten veranschaulicht werden:
  1. Geschlechtsspezifische Rollenverteilung
  2. Frauensolidarität versus Machtausbau auf Seiten der Männer
  3. Mehrfachbelastung von Frauen durch Familie und parteipolitisches Engagement
 
 
 

3.1 Geschlechtsspezifische Rollenverteilung

 
 
 
Ein überraschendes Licht auf die Politikorganisation bei den Grünen werfen die ambivalenten Äußerungen der weiblichen Angeordneten hinsichtlich der Gleichberechtigung mittels Quotierung und ihren Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlung. Eine Politikerin schildert ihre Erfahrung mit parteipolitischer Arbeit bei den Grünen als sehr positiv, weil ihr dort eine Chance als Politikerin mit Kind gegeben wurde, was in anderen Parteien nicht selbstverständlich war:
"Ich war nicht Mitglied einer Partei und stellte dann fest, … dass mir einige Vorbehalte entgegenschallten, wie: Sie haben doch ein kleines Kind, was haben sie hier eigentlich zu suchen. … Die einzigen, die mir damals ein Angebot gemacht haben-als unabhängige Politikerin-waren die Grünen in der Gemeinde, die die gesagt haben: Du kannst bei uns in der Gruppe mitarbeiten, es ist kein Problem". (FRAU GH)

Innerhalb der parteipolitischen Struktur der Grünen wird die Quotierung als ein wichtiges Instrument der Frauenförderung wahrgenommen, insbesondere weil sie Frauen den nötigen Freiraum zur politischen Partizipation verschafft:
"Ich finde es auch ganz wichtig, dass wir diese Struktur haben, weil die Quote das einzige Instrument ist und wir die Frauenförderung treiben, weil die Frauen trotz dieser starken Frauenförderung aufgrund ihrer Erziehung und auch Biografie sich immer wieder zurückziehen, weil sie einfach anders sozialisiert sind." (FRAU GH)

Viele Erfahrungen der befragten Politikerinnen mit Abwertung und Ungleichbehandlung lassen sich generell mit der Marginalisierung von Frauen in der Politik in Verbindung bringen:
"Wenn ich sehe, dass ein Mann oben ist und sehr viel Annerkennung kriegt, dann kann ich mir immer noch sagen, na ja, das ist hier ein Mann-die ganze Gesellschaft ordnet ihm mehr Kompetenz zu. Der hat es dann auch nicht so schwer, und ich glaube, es gibt auch in jeder von uns so etwas im Innersten, was wir einsozialisiert bekommen haben, dass Kompetenz einfach stärker mit Männern verbunden ist". (FRAU EF)

Die Quotierung schafft eine Konkurrenzsituation zwischen Frauen, ermöglicht dabei aber zugleich einen Freiraum für die eigene Art und Weise, in der Frauen im Unterschied zu Männern miteinander konkurrieren:
"Ich erlebe das umgekehrt. Ich erlebe hier in einer Landtagsfraktion-wir haben jetzt zum Glück die Quotierung, wo die Hälfte Frauen und die andere Hälfte Männer sind-den Versuch, Geschlossenheit herzustellen, den Versuch, das Team herzustellen-also, das erlebe ich hier bei Frauen. Bei Männern erlebe ich hier in der Fraktion stärker, dass sie als Einzelkämpfer versuchen, sich zu profilieren. Da habe ich das Gefühl, … es gibt keine Partei, die eine so stark organisierte Frauenkonkurrenz hat wie die Grünen. Also, um es mit unserer Satzung zu sagen: Jeder ungerade Platz ist ein Frauenplatz. Das führt auch dazu, dass seit Gründung der Partei immer Frauen gegen Frauen kandidieren und Männer gegen Männer". (FRAU IJ)

Die Ambivalenz in der Politik der Grünen, nämlich Gleichberechtigung der Geschlechter mittels Quotierung einerseits und geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung andererseits, scheint auf eine dichotome Struktur zu verweisen, die den Grünen gegenüber anderen Parteien zwar ein paritätisches Bild durch die Quotierung verschafft, aber traditionelle Geschlechterrollenzuweisungen der großen Parteien nicht überwindet.

Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, warum Frauen trotz paritätischer Vertretung in der Partei, dennoch größere Schwierigkeiten haben, sich in traditionell männerdominanten Gruppenstrukturen einzuordnen.
 
 
 

3.2 Frauensolidarität versus Machtausbau auf Seiten der Männer

 
 
 
Wie aus den Aussagen von Politikerinnen der Grünen deutlich wird, erfahren Frauen und Männer in der Partei verschiedene Arten der Unterstützung. Für die Frauen bedeutet das zunächst, dass sie Zusammenhänge finden müssen, in denen sie inhaltlich und qualitativ übereinstimmen, um sich gegenseitig unterstützen zu können. Männer machen das eher strategisch. Sie schließen sich schneller zu Seilschaften zusammen, um sich gegenseitig im Kampf um Positionen wirkungsvoll zu unterstützen:
"Und sie sind, glaube ich, mächtiger, weil die Männer auch stärker geübt haben, diese Absprachen miteinander zu treffen und auf diese Art auch Politik zu betreiben. Und da glaube ich, sind die Frauen sehr viel ungeübter; sie kriegen das einfach nicht so gut hin." (FRAU EF)

Eine Politikerin äußert sich folgendermaßen über Frauensolidarität:
"Natürlich gibt es bei den Grünen Frauenarbeitsgruppen. Es gibt ein gewisses Grundverständnis über Frauensolidarität, und das funktioniert auch häufig noch. Das funktioniert sogar über die Grünen hinaus, stelle ich in meinem Landtag fest. Wenn man also plötzlich quer geht, sind das nicht bewusst gegründete Frauenseilschaften, aber man weiß, dass man an bestimmten Punkten vielleicht doch eher mit Frauensolidarität rechnen kann, wenn man sagt, so geht das nicht." (FRAU KL)

Frauensolidarität wird hier verstanden als Verständnis, Mitgefühl in schwierigen Situationen, Emotionalität, Flexibilität, Offenheit und Toleranz gegenüber individuellen Problemlagen. Ein Schwachpunkt von frauensolidarischen Netzwerken ist jedoch das oft geringe Selbstwertgefühl von Politikerinnen, das weitgehend von der traditionellen Frauenrolle bestimmt ist. Dagegen ist der Maßstab männlicher Identität in der Politik die Arbeits- und Berufsrolle, in der Männer sich weniger verunsichern lassen als Frauen:
"Und das ist das Besondere, das ist auch der Grund aus meiner Sicht, warum diese Frauenbündnisse auch so fragil sind. Und hinzu kommt meiner Ansicht nach auch, dass Frauen die Tendenz haben, die Autorität von Frauen anzuerkennen." (FRAU EF)

Den Aussagen der weiblichen Abgeordneten ist zu entnehmen, dass Männer eine andere Art haben, aufeinander zuzugehen. Zudem scheinen sie eine bei Frauen selten manifeste instrumentelle Handlungsorientierung zu zeigen, in der Kalkulierbarkeit langfristigen Machterhalt sichert: [10]
"Also, wenn man sich das anschaut, gibt es teilweise bei den Männern schon dahingehend eine fast zehnjährige Karriereplanung, dass sie schon wissen, welche Gespräche sie führen müssen, welchen Vorjob sie ab wann annehmen müssen. Das hohe Ziel ist viel früher gesteckt, und der Weg dahin ist wie auf dem Schachbrett organisiert. Bei mir war das anders. Ich habe mich erst ein Jahr vorher entschieden, mich um ein Mandat für den Landtag zu bewerben. Während meiner Zeit im Stadtrat habe ich nicht einen Tag daran gedacht: Was muss ich jetzt machen, wenn ich in fünf Jahren in den Landtag will? Ich habe auch im letzten Jahr nicht darüber nachgedacht, dass ich vielleicht in den Bundestag will. Und das sind sehr spontane und dann sehr viel kürzere Karriereplanungen und auch keine-… ich weiß auch nicht, was ich danach will; nee, also es ist viel weniger zielstrebig." (FRAU AB)

Die in den Zitaten angesprochenen frauensolidarischen, beziehungsweise männerbündischen Elemente sprechen also nicht dafür, dass Frauen generell größere Schwierigkeiten haben, sich in feste, verbindliche und hierarchische Gruppenstrukturen einzuordnen, weil ihnen eine bestimmte Begabung oder Fähigkeit dazu fehlt. Die Sozialisationsforschung zeigt vielmehr, dass es strukturelle Gegebenheiten weiblicher und männlicher Biografien sowie Lernprozesse bestimmten Denkens und Handelns gibt, die auf einer Dichotomisierung weiblicher und männlicher Entwicklung beruhen. Differierende Formen der Ich-Bildung in Beziehung zur Familie und gesellschaftlichen Konstruktions- und Produktionsprozessen begründen unterschiedliche Formen des In-Beziehung-zur-Welt-Tretens. [11] Diese differierenden Formen spalten sich in der kulturellen Stereotypisierung in eine "weibliche Moral", die mehr an der Sorge und Verantwortung für andere und an persönlichen Bindungen orientiert ist, sowie in eine "männliche Moral", die an abstrakte Prinzipien geknüpft ist.

Der folgende Abschnitt zeigt diesen Konflikt von Frauen in der institutionalisierten Politik, der durch die Bedingungen in der Partei verschärft wird und sie insbesondere daran hindert, gleichberechtigten Zugang zur Sphäre der männerstrategischen Politik zu finden.
 
 
 

3.3 Mehrfachbelastung von Frauen durch Familie und parteipolitisches Engagement

 
 
 
Über die bekannte Doppelbelastung hinaus sehen sich Frauen in der Politik häufig einer Dreifachbelastung durch Kindererziehung, Hausarbeit und die Notwendigkeit ständiger Präsenz in der Politik ausgesetzt:
"Das heißt, in der Zeit, gerade auch in der Pubertätszeit, als meine Tochter mich stark brauchte, bin ich auch in meinem Engagement zurückgegangen." (FRAU AB)

Dadurch, dass Frauen entsprechend den herrschenden Geschlechterrollen einer spezifischen Moral folgen und sich für Hausarbeit und Kindererziehung verantwortlich fühlen, sind die Bedingungen für eine politische Karriere bei Frauen und Männern ungleich:
"Ein anderer Punkt-den sehe ich auch sehr klar-dass Frauen bei den Grünen, die keine familiären Bindungen haben, immer noch sehr viel schneller und leichter Karriere machen können als Frauen, die Familie haben." (FRAU GH)

Eine andere Politikerin, die einen Grad an persönlicher Autonomie erlangt hat, versucht den Konflikt zwischen Individualität und Autonomie einerseits und Bindung/Sorge andererseits durch Entscheidung gegen Kinder zu lösen:
"Also, als ich in die Politik eingestiegen bin, hatte ich mich schon gegen eine Familie entschieden. Ich bin mit Mitte fünfunddreißig, sechsunddreißig Abgeordnete geworden, und ich hatte mich gegen Kinder entschieden. Das habe ich mit meiner Art, mein Leben zu organisieren, nicht vereinbaren können." (FRAU CD)

Bemerkenswert an diesen Aussagen über die Professionalisierungsanforderungen in der Politik der Grünen ist, dass die Politikerinnen trotz des hohen Anteils von Frauen und trotz der Gleichberechtigungs- und Frauenförderungsbestrebungen der Partei, androzentrische Strukturen sowie Vorurteile gegenüber Frauen ausmachen, die ihnen eine gleichberechtigte Partizipation innerhalb der männerbündisch organisierten Politik erschweren.
 
 
 

4. Wie gehen die Politikerinnen mit androzentrischen Strukturen um?

 
 
 
Mögliche Anpassungsstrategien an die Professionalisierungsanforderungen der Partei wie auch mögliche Strategien zur Bewältigung androzentrischer Strukturen sollen in diesem Teil untersucht werden. Die Äußerungen der Politikerinnen zur Gleichberechtigung und Ungleichberechtigung stellen nur einen Brennpunkt für die spezifische Interpretation der Wirklichkeit im Feld der Politik dar-einen Kristallisationspunkt ihrer Anpassung oder Anforderungsbewältigung.

Die folgende Interpretation verfolgt die Einzelfälle des Interviewtextes entlang folgender thematischer Aspekte:

Zugang zur Politik: Motivation/Beweggründe-Positive/
negative Erfahrungen und die Thematisierung des eigenen Frau-Seins und das Verhältnis von Privatleben und Politik.
 
 
 

4.1 Sechs Fallbeispiele

 
 
 
FRAU AB:
"Ich bin härter geworden, ich bin auch konfliktfähiger geworden."

Das Leitmotiv: Die Notwendigkeit des Konflikts


"Also, ich habe erlebt, dass Männer zumindest ihre Gefühle verstecken können, dass sie nicht so leicht zeigen, dass sie verletzt sind, dass sie ihre Unsicherheiten nicht zeigen, dass sie auch nicht so oft Rat holen, sondern schon so tun, als würden sie das alles richtig beherrschen. Das heißt, sie sind gar nicht so auf das Team angewiesen in ihrer Darstellung. Meine Erfahrung war, dass ich erst einiges lernen musste und lange Zeit brauchte. Ich musste auch erst einmal ein paar harte Niederlagen einstecken, bis ich gelernt habe, dass ich konfliktfähig sein muss, dass ich dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen darf … . Mein Bedürfnis ist eher, Streit harmonisch auszutragen, auch vernünftig auszutragen. Das funktioniert aber nicht. Also, man gewinnt die Erkenntnis: es funktioniert nicht, und man wird nicht akzeptiert, wenn man nicht konfliktfähig ist." (Frau AB)

Diese Aussage, in dem das Leitmotiv für das Verhältnis von Frau AB zur Politik enthalten ist, stammt aus einer Interviewsequenz, die mit der Frage begann: "Glauben Sie, dass die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und Konflikten eine Fähigkeit ist, die eher Männer haben?". Die Passage ist aufschlussreich für das Verhältnis zwischen dem Selbst von Frau AB und der sie umgehenden Welt der Politik sowie für die Art und Weise, wie sie auf die Bedingungen des politischen Feldes reagiert. Mit der Formulierung "bis ich gelernt habe, dass ich konfliktfähig sein muss" pointiert sie ihr Programm für das politische Überleben. Es handelt sich um das Ergebnis eines Lernprozesses.

Im gesamten Gespräch erweist sich, dass Frau AB die Politik als Konflikt empfindet. Sie sieht die äußeren Konfliktsituationen also vornehmlich in Auseinandersetzung mit anderen Politikerinnen bzw. mit Parteikolleginnen sowie in der Beschäftigung mit "harten Themen". Sie empfindet die Politik aber auch als einen Konflikt für das Selbst, der sich als Unstimmigkeit zwischen Erwartetem und Erreichtem darstellt. Ihre Unzufriedenheit ist gekennzeichnet durch den Gegensatz zwischen 'Müssen' (ihre Bemühung um ein stärkeres Selbstbewusstsein und der Wunsch, mit den "harten" Themen umzugehen) und 'Wollen' (ihr Bedürfnis, Streit gütlich und vernünftig auszutragen). Die Erfahrung, die sich hier mitteilt, ist die der Unzufriedenheit zwischen Wunsch und Realität, der Unterdrückung und dem Zulassen von Emotionen. Angesichts dieser leidvollen Erfahrungen stellt sich die Frage nach der Motivation ihres politischen Engagements.


PORTRÄT - Eine zerrissene Person zwischen Anspruch und Wirklichkeit:



Frau AB ist im Vergleich zu Parteikolleginnen nicht so erfolgreich, sondern erlebt Ausgrenzungen. Sie beschreibt sich selbst als emotional, hat aber im Verlauf ihres parteipolitischen Engagements die Erfahrung gemacht, dass es für Emotionalität und Spontaneität in der Politik keinen Platz gibt. Dementsprechend erlebt sie es als Zerrissenheit, diese Emotionalität unterdrücken zu müssen. In ihrem persönlichen Engagement vermittelt Frau AB damit insgesamt den Eindruck einer leidenden Persönlichkeit, die die Anpassungsanforderungen der Partei als Einschränkung ihrer inneren Freiheit erlebt.

FRAU CD:
"Also, als ich in die Politik eingestiegen bin, hatte ich mich schon gegen eine Familie entschieden."


Das Leitmotiv - Die Unvereinbarkeit von Politik und Familie:


"Also, wenn da noch mehr Pflichten da wären-Kindern gegenüber -, dann könnte ich nicht so arbeiten, wie ich das jetzt mache. Ich würde das auch nicht richtig finden. Ich bin jetzt zum Beispiel wochenlang eigentlich höchstens noch am Sonntagnachmittag zu Hause gewesen. Wenn ich eine richtige Familie hätte, könnte ich das nicht machen. … Ich bin mit Mitte fünfunddreißig, sechsunddreißig Abgeordnete geworden, und ich hatte mich gegen Kinder entschieden. Das habe ich mit meiner Art, mein Leben zu organisieren, nicht vereinbaren können. Das ist so, dass man da im Nachhinein manchmal auch kritisch drüber nachdenkt, aber das ist nicht so, dass ich das jetzt unbedingt wollen würde. Aber ich bin froh, dass ich nicht so einen Weg gegangen bin, wo man die ganze Zeit immer nur kämpfen muss, das zu vereinbaren. Also, ich beneide nicht die Frauen, die beides haben und in beiden Rollen wie immer unzufrieden sind. Das gibt es auch sehr oft." (Frau CD)

Frau CD begreift familiäre Unabhängigkeit als unabdingbare Voraussetzung ihrer politischen Arbeit. Sie ist in der Entscheidung zwischen Karriere und Familie kompromisslos; sie würde sich unzufrieden und in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen, wenn sie wegen einer Familie ihre Selbständigkeit aufgeben müsste. Existenzielle Bedingung des politischen Engagements von Frau CD scheint die völlige Kontrolle und Gestaltungsfreiheit über ihr eigenes Handeln zu sein. Folglich musste sie auf eine Familiengründung verzichten. Die autonome Kontrolle und persönliche Handlungsfreiheit scheint nicht allein in der privaten Lebensgestaltung von Frau CD eine Rolle zu spielen, sondern gleichfalls in ihrer politischen Führungsposition. Im Hinblick auf beide ist Unabhängigkeit für sie etwas überaus Wertvolles, das sie auf keinen Fall preisgeben oder verlieren will.


PORTRÄT - Eine eigenständige Persönlichkeit:



Das Bild, das Frau CD von sich zeichnet, ist das einer ungemein eigenständigen Persönlichkeit. In der Politik kann sie sich gegenüber abwertenden Rollenzuschreibungen wehren und ihre Unabhängigkeit sichern, indem sie negative Erfahrungen nicht auf sich als Frau bezieht. Auch im Privatleben tritt sie geschlechtsspezifischen Rollenstereotypen aktiv entgegen, die ihre Selbstbestimmung in Abhängigkeit verwandeln würden-selbst wenn dies für ihre Lebensplanung den Verzicht auf eigene Kinder bedeutet.

FRAU EF:
"Also, als ich mich entschieden habe, für den Landtag zu kandidieren, hatte ich ein ganz zentrales Motiv, und das lautete: Die Frauenpolitik soll nicht untergehen."


Das Leitmotiv - Der Kampf um die Frauenpolitik:


"Schon in meiner Zeit als Frauenreferentin unter rot-grün war doch klar-obwohl wir da gerade die Einrichtung eines Frauenministeriums hier für Niedersachsen erreicht hatten und frauenpolitisch sehr viel Positives passiert war -, dass grüne weibliche Abgeordnete, die sich in erster Linie für Frauenpolitik einsetzen, nicht unbedingt ein Karrieresprung erwartet. Und da habe ich so für mich das Gefühl gehabt, wenn es so eine Entwicklung gibt, im Grunde weibliche grüne Politikerinnen, die Frauenpolitik so mitmachen, dann ist das sicher nicht gut für das frauenpolitische Projekt-so meine damalige Auffassung, und dann habe ich gesagt: Ich kandidiere einfach; und zwar nur ausdrücklich mit dem Thema-als Feministin und Frauenpolitikerin habe ich nicht damit gerechnet, gewählt zu werden und bin dann aber zu meiner großen Überraschung auf der Landesdelegiertenkonferenz relativ gut platziert worden und bin dann tatsächlich auch als vorletzte Abgeordnete der Grünen da in den Landtag eingezogen. ... Was ich damals hatte und sicher auch gebraucht habe, war ein ausdrückliches politisches Engagement für eine Sache, nämlich an der Stelle auch, glaube ich, eine Überzeugung zu transportieren." (Frau EF)

Diese ausgewählte Textstelle ist einer längeren Passage über die Spielregeln des politischen Geschäfts entnommen. Es geht in diesem Zusammenhang um die Frage, was man sich aneignen und wie man sein muss, um in die Politik der Grünen gut zurechtzukommen. Wie thematisiert Frau EF im Einzelnen diese Problematik, welche Aspekte stehen dabei für sie im Vordergrund? Frau EF gibt zu erkennen, dass das Eingebunden-Sein in ein vertrautes Thema von großer Bedeutung für ihr Fortkommen in der Partei gewesen sei. Ihre Einbindung als Feministin in die Frauenpolitik erklärte sie aus ihrer Überzeugung heraus, sich für Frauenbelange zu engagieren und dieses Engagement auch anderen Frauen zu vermitteln.


PORTRÄT - Zwischen Identifikation mit der Frauenpolitik und Abgrenzung von weiblichem Verhalten:



Frau EF präsentiert sich als unabhängige Persönlichkeit innerhalb ihrer Partei, die mutig in offene Auseinandersetzung geht, die kritikfähig ist und es nicht scheut, sich bei anderen durch Kritik unbeliebt zu machen. Ihr Ziel ist es, traditionell männliche Maßstäbe des politischen Handelns auch als weibliche Orientierungsmöglichkeiten zu etablieren. Frau EFs vordergründige Unabhängigkeitsargumentation mit der Akzentuierung des starken frauenpolitischen Engagements dient jedoch dazu, eine innerliche Unsicherheit hinsichtlich ihrer weiblichen Rolle zu kaschieren.

FRAU GH:
"Ich muss mit gewissen Defiziten einfach leben, aber ich habe da meine Schwerpunktsetzung, und das ist o.k."


Das Leitmotiv - Die Familie als Energiequelle für die Politik:


"Meine Familie ist mir ganz wichtig, ja. Sie hat erste Priorität; ich sammle auch ganz viel Kraft und Energie aus diesem Familienleben. Das motiviert mich auch ganz klar. In meiner Familie finde ich meine Ruhe vor dem hektischen Leben hier. Da schöpfe ich ganz viel Kraft, weil vieles in der Politik sehr technokratisch ist. Sie bringt mich auf den Punkt zurück, zentriert auf meine Arbeit. Das finde ich ganz positiv, dass sie mir immer diese Kraft mitgeben und sagen: "du musst das jetzt einfach machen, du musst das auch für uns, für unsere Lebensbedingungen". Also, diese Rückkopplung zur Realität, ist auch nett [lacht]." (Frau GH)

Dieses Zitat ist einem ausführlicheren Textzusammenhang entnommen, in dem Frau GH sich über mögliche Wege zum Erfolg in der Politik äußert. Es steht im Zusammenhang mit den Prioritäten, die sie in ihrem Leben setzt. Was ist es nun genau, das Frau GH in der Politik zum Erfolgt verhilft? Sie betont das Bedürfnis, ihr Leben mit ihrer Familie zu gestalten. Dabei stellt es sich für sie nicht einmal als Problem dar, dass sie manche politischen Entwicklungen nicht hundertprozentig mitbekommt, weil sie weit von Hannover entfernt wohnt und in der Regel pendelt. Sie betont, dass sie diese Situation realistisch einschätze: "Ich muss mit gewissen Defiziten einfach leben", und bekennt sich damit zu einem Leben mit Kompromissen. Ihr kommt es offensichtlich darauf an, sich glaubwürdiger zu präsentieren als jemand, der die Politik nicht in erster Linie als Ort für Karriere ansieht.


PORTRÄT - Eine widersprüchliche wertkonservative Person:



Das Bild, das Frau GH von sich zeichnet, ist das einer Person, die sich in einem Dilemma zwischen ihren individuellen politischen Präferenzen und den durch ihre Erziehung verinnerlichten konservativen Werten befindet. Ihr wertkonservativer sozialpolitischer Anspruch stimmt nicht recht mit ihrer Parteizugehörigkeit überein; es scheint fast so, als wisse sie manchmal selbst nicht recht, wohin sie gehört. Nur durch eine weitgehende Anpassung an androzentrische Strukturen gelingt es ihr, sich in ihrer politischen Arbeit selbst zu schützen und zu behaupten und die Politik in Einklang mit ihrer Familie zu bringen.

FRAU IJ:
"So bin ich dann relativ lange zu Hause gewesen und habe auch alleine für Haushalt und Kindererziehung gesorgt und war alleine dafür zuständig."


Das Leitmotiv - Der Kampf gegen die traditionellen Geschlechterrollen:


"Aber ich war ein Jahr in der Partei-war ich im Stadtrat und war Fraktionsvorsitzende und musste mich mit sämtlichen Politikfeldern befassen -, und seit mir das Problem bewusst geworden ist, wie ungerecht diese traditionelle Rollenaufteilung ist, und wie viel einfach Kreativität ... von Frauen der gesamten Gesellschaft dadurch verloren geht, dass sie eben nur Hausfrauen und Mütter sind und auf diese Rolle auch festgelegt sind, … seitdem setze ich mich natürlich überall dort, wo ich kann, gegen diese traditionellen Rollen ein." (Frau IJ)

Auf welche Weise reagiert Frau IJ auf die Bedingungen des politischen Feldes? Frau IJ erklärt, dass sie das Thema Frauenpolitik erst für sich entdeckt habe, nachdem sie in die Parteipolitik eingestiegen sei. Erst durch die frauenpolitische Programmatik und die interne Frauenförderung der Grünen sei ihr bewusst geworden, wie ungerecht die traditionelle Geschlechterrolleaufteilung sei. An welche Ungerechtigkeit denkt sie dabei zuerst? Sie spricht von der unterbundenen Kreativität von Frauen, die der gesamten Gesellschaft verloren gehe, wenn sie nur auf die Rolle von Hausfrauen und Müttern festgelegt würden.


PORTRÄT - Politik als Ausweg aus der traditionellen Rollenzuweisung:



Das Bild, das Frau IJ von sich entwirft, ist das einer Frau, die sich ihre Rechte hart erkämpft hat. Sie bemüht sich, der Lage von Frauen überhaupt mehr Anerkennung zu verschaffen. Die durch die Quote verbürgte paritätische Präsenz von Männern und Frauen in den Parteigremien sieht sie schon als zuverlässigen Garanten für die gleichberechtigte Partizipation und als ausreichenden Schutz vor Diskriminierung. Sie hat selbst die grüne Politik als entscheidenden Schritt auf ihrem Weg der Gleichberechtigung erlebt.

FRAU IJ:
"Jetzt bin ich aber natürlich auch nicht der Typ, der sich in der Diskussion so schnell in der Ecke drängen lässt, und man würde sich dann schon wehren."


Das Leitmotiv - Die Notwendigkeit eines strategischen und autonomen politischen Auftretens:


"… aber Frauen sollten sich bewusst auch klar machen: ich muss nicht nur klug sein und kompetent sein und mich gut darstellen, sondern: ich muss auch wissen, wer mich unterstützt und muss auch das organisieren. Ich muss im Zweifel aber auch dann auch was dafür tun. Ich glaube, es erschweren sich die Chancen auch, wenn Frauen zu wenig Selbstvertrauen und zu wenig Selbstbewusstsein haben und das durch ihr Auftreten auch dokumentieren: dann werden sie viel eher mal in die Ecke gestellt oder übersehen. Oder sie ziehen den Kürzeren, wenn es um Bewerbungen geht und Kandidaturen. Man gerät, wenn man nicht entsprechend diesen-auch innerhalb der Grünen-medialen Aspekt berücksichtigt, schon ins Hintertreffen." (Frau KL)

Diese Textpassage thematisiert das mangelnde Selbstbewusstsein von Frauen-ein Thema, das für Frau KL offensichtlich eine hohe Bedeutung einnimmt, da sie häufig darauf zurückkommt. Nach ihrer Einschätzung werden Frauen häufig politisch in die Ecke gestellt, wenn sie zu wenig Selbstvertrauen und zu wenig Selbstbewusstsein haben und das durch ihr Auftreten auch dokumentieren. Es reiche nicht aus, klug und kompetent zu sein, man müsse sich auch gut darstellen und Unterstützung für die eigene Position organisieren können.


PORTRÄT - Das Bild einer autonom und strategisch handelnden Person:



Frau KL verfügt anscheinend schon seit ihrer Kindheit aufgrund der von ihr genossenen gleichberechtigten Erziehung über ein starkes Selbstbewusstsein und große Selbstsicherheit. Sie ist bestrebt, diese Autonomie in der Politik einzusetzen, um Bewegung und Veränderung zu erzielen. Sie versteht sich in ihrer politischen Arbeit aber wohl auch nicht in erster Linie als Frau. Aufgrund ihres starken Selbstbewusstseins kommt sie ohne männliche oder weibliche Vorbilder aus und lässt sich von Kritik wenig anfechten. Sie lebt vielmehr in der Politik die gleiche Autonomie und Unabhängigkeit wie im privaten Bereich.
 
 
 

5. Verhaltenstrategien gegenüber androzentrischen Strukturen-Anpassung oder Bewältigung

 
 
 
Beim Vergleich der sechs interviewten Politikerinnen lassen sich drei Gruppen unterscheiden: Eine Gruppe, die eine weitgehende Anpassung an androzentrische Strukturen zeigt, eine, die eine nur teilweise und reflektierende Anpassung zeigt sowie jene, die den Versuch unternehmen, die vorgefundenen Strukturen aktiv zu bewältigen und durch gleichberechtigte Handlungsmöglichkeiten zu ersetzen.
 
 
 

5.1 Anpassung an vorgefundene androzentrische Strukturen

 
 
 
Die Politikerinnen AB und EF versuchen, die Diskrepanz zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung durch Anpassung auszugleichen. Es ist jedoch zu beachten, dass beide Politikerinnen in ihrer Anpassung an die androzentrischen Strukturen in der grünen Partei unterschiedliche Motivationen folgen: Während die Anpassung für Frau AB auf der 'Suche nach dem richtigen Weg' als Strategie für das eigene politische Überleben ein notwendiges Übel darstellt, ist für Frau EF das 'Vorantreiben des frauenpolitischen Themas' mit einem Kampf um Individualität, der Stärkung ihres Selbstbewusstseins und der Abgrenzung von traditionell etablierten Geschlechterrollen verbunden.
 
 
 

5.2 Bewältigung vorgefundener androzentrischer Strukturen

 
 
 
Den Gegensatz zum Muster der Anpassung bildet die aktive Bewältigung androzentrischer Strukturen im Fall von Frau CD und KL. Ein wesentliches Merkmal dieses Musters ist das Bedürfnis nach Handlungsfreiheit. Diese Form der Selbstbehauptung ist mit einer weitgehenden Abgrenzung von traditionellen Rollenzuweisungen verbunden. Beide Politikerinnen nehmen für sich als selbstverständlich in Anspruch, durch ihre Bewältigung androzentrischer Strukturen die gleichen Rechte wie Männer zu genießen; diese Selbstverständlichkeit gilt nicht nur für das politische Leben, sondern auch für die Privatsphäre. Beide verzichten daher auf Kinder, um nicht ihre Selbstbestimmung und Eigenständigkeit zu gefährden.
 
 
 

5.3 Ausgleichende Auseinandersetzung mit männlich geprägten Spielregeln

 
 
 
Die Gruppe des Ausgleichs ist dadurch gekennzeichnet, dass die betreffenden Politikerinnen in ihren Erfahrungen auf dem politischen Terrain Selbstbestätigung suchen. Charakteristisch für diese Gruppe ist eine Perspektive des 'sowohl-als auch', in der nicht nur Gegensätze herrschen, sondern auch Nuancen möglich sind. Am Beispiel von Frau IJ manifestiert sich dies teils durch passives Hinnehmen (Akzeptieren von vorgefundenen Gegebenheiten, kein direkter Kampf gegen androzentrische Strukturen), teils durch aktive Unterstützung (Befürwortung der Quotierung als Einstieg- und Mitwirkungsmöglichkeit). Es gelingt ihr in diesem Rahmen, ihre Wünsche zu verwirklichen und sich selbst zu finden, aber auch ihre innere Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren. Bei Frau GH ist diese 'Sowohl-als-auch-Strategie' weitgehend durch Konfliktvermeidung bestimmt. So versucht sie teils durch Rückzug (Schwächen nicht vor den Augen von Männern zeigen, Anbindung an die Familie als Mittel der Distanzierung und des Selbstschutzes gegenüber der Politik), teils durch die Übernahme von Verantwortung (Überzeugung von einer staatsbürgerlichen Pflicht), sich aktiv für das Gemeinwesen einzusetzen und nicht nur dessen Nutznießer zu sein. Sie ist bemüht, sich selbst zu schützen und die Politik mit der Familie zu vereinbaren.
 
 
 

6. Ausblicke

 
 
 
In der fallübergreifenden Analyse konnte gezeigt werden, dass die Partei der Grünen trotz gleichberechtigter Einstiegsmöglichkeiten für Frauen insgesamt eine dichotome Struktur von Männlichkeit und Weiblichkeit aufweist und dadurch weiterhin traditionelle Geschlechterrollenzuweisungen fortschreibt. An vielen Stellen ist deutlich geworden, dass die Quotenregelung Frauen nicht automatisch einen gleichen politischen Einfluss verschafft, da gleichberechtigte politische Partizipation entscheidend von vorgelagerten Faktoren wie z.B. der geschlechtsspezifischen Sozialisation abhängt. Die Politik ist nicht frei von Geschlechterstereotypen, sie reproduziert vielmehr Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die in der Gesellschaft herrschen und trägt damit wiederum zu deren Zementierung bei.

Das Problem politischer Partizipation von Frauen erledigt sich also nicht allein durch die Quote. Insoweit die Quotierung aber Frauenrepräsentanz in den politischen Gremien garantiert, ermöglicht sie Frauen auf lange Sicht durch ihr politisches Handeln Persönlichkeitsentwicklung und Kompetenzentfaltung in einer traditionell männlich dominierten Kultur. Durch Erleichterungen von Einstiegs- und Mitwirkungsmöglichkeiten für Frauen in die Politik kann die Quotierung somit dazu beitragen, dass Frauen ihre Kreativität in den gesellschaftlichen Prozess einbringen.
 
 
 



Anmerkungen

[1] Vgl. Beate Hoecker, Politische Partizipation von Frauen. Kontinuität und Wandel des Geschlechterverhältnisses in der Politik, Opladen 1995, S. 37ff; Waltraud Cornelissen, Politische Partizipation von Frauen in der alten Bundesrepublik und im vereinten Deutschland, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Berlin 1993, S. 321-349, S. 321.
[2] Vgl. Barbara Holland-Cunz, Öffentlichkeit und Intimität-demokratietheoretische Überlegungen, in: Elke Biester u.a. (Hg.), Demokratie oder Androkratie? Theorie und Praxis demokratischer Herrschaft in der feministischen Diskussion, Frankfurt a.M. 1994, S. 227-246, S. 227f.
[3] Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990.
[4] Vgl. ebd.
[5] Beate Hoecker, Frauen, Männer und die Politik. Lern- und Arbeitsbuch, Bonn 1998, S.131
[6] Diese Darstellung fußt auf meiner veröffentlichten Magisterarbeit mit dem Titel: Frauen in der Politik. Spielregeln des politischen Geschäfts: Eine Untersuchung am Beispiel von Politikerinnen der Fraktion "Bündnis 90/Die Grünen" im Niedersächsischen Landtag, Marburg 2007.
[7] Vgl. Babette Glaas, Gleichberechtigt in den Parteien? Der Gleichberechtigungsartikel und die Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Herbolzheim 2000, S. 273.
[8] Vgl. Michael Meuser / Ulrike Nagel, Expertinneninterviews-vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methoden Diskussion, in: Detlef Garz / Klaus Kraimer (Hg.), Qualitativ empirische Sozialforschung, Opladen 1991, S. 441-471, S. 442ff.
[9] Vgl. Ulrich Oevermann u.a., Die Methodologie einer objektiven Hermeneutik und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Interpretatives Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352-434.
[10] Vgl. Barbara Schöler-Macher, Auf den Spuren einer möglichen Fremdheit von Frauen in der Politik, in: Angelika Wetterer (Hg.), Profession und Geschlecht: Über die Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen, Frankfurt a.M. 1992, S. 257-276, 263ff.
[11] Nach: Helga Bilden, Geschlechtsspezifische Sozialisation, in: Klaus Hurrelmann / Dieter Ulich (Hg.), Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1998, S. 279-301.


Die Autorin: Magistra der Politikwissenschaft und Germanistik, Promovendin der Germanistik an der Universität Hannover