Kirche und Kirchhof im Dorf > Wirtshaus


Dorfansicht mit Gastwirtschaft in Hillentrup (Ausschnitt) / Münster, Westfälisches Landesmedienzentrum, 05_2455






Roland Linde

Ländliche Wirtshäuser in Westfalen

In fast allen frühneuzeitlichen Kirchdörfern Westfalens konnte man in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche ein Wirtshaus finden, oder, wie man hier sagte: einen "Krug". Anscheinend haben sich solche Einrichtungen erst seit dem 16. Jahrhundert in größerer Zahl auf dem Lande etabliert, was durch das allgemeine Bevölkerungswachstum und vor allem durch das Anwachsen der unterbäuerlichen Schichten zu erklären sein wird.

Die Krüger verdienten nämlich nicht nur am Ausschank, sondern am Verkauf von Bier in Kannen und Fässern für den alltäglichen und festlichen Bedarf. Das überwiegend alkoholarme Bier war ein Grundnahrungsmittel, das die einzelnen Haushalte nicht selbst herstellen konnten. Die meisten Krüge brauten das obergärige Hopfenbier (Altbier) selbst. Manche Krüge führten auch Importbiere, z. B. aus Minden, Hameln und Braunschweig ("Broyhan"). Den Brauerzünften dieser Städte war es gelungen, überregional beliebte Biermarken zu etablieren. Im 17. Jahrhundert wurde in Westfalen zudem der Kornbranntwein populär. Demzufolge legten die Krüger auch eine Brennerei an.

Welche Rechte der einzelne Krug besaß - Brauerei, Brennerei, Ausschank, Verkauf der Getränke in kleinen und großen Gefäßen, Handel mit Kolonialwaren - und welche Abgaben davon an den jeweiligen Landesherrn zu entrichten waren, das wurde in erblichen Privilegien oder in befristet erteilten Konzessionen geregelt. Besonders lukrativ war das Monopol auf den Verkauf von Bier für Hochzeits- und Tauffeiern sowie Richtfeste ("Haushebungen") in einem bestimmten Gebiet. In der ländlichen, an der Besitzgröße orientierten Hierarchie der ländlichen Bevölkerung gehörten die Krüger eigentlich zu den "kleinen Leuten", doch durch ihre Gewerbetätigkeit gelangten einige zu beachtlichem Wohlstand und konnten in Bürger- und Bauernfamilien einheiraten.

Baulich unterschieden sich die Krüge in Westfalen nicht grundsätzlich von den übrigen ländlichen Wohngebäuden vom Typus des Niederdeutschen Hallenhauses, es sind allerdings einige Charakteristika zu verzeichnen, wie man sie sonst aus dem städtischen Hausbau kennt. Im östlichen Westfalen setzten sich die Gäste in die ofenbeheizte Wirtsstube. Diese Stube wurde gelegentlich nach städtischem Vorbild durch einen zweistöckigen Fenstererker (=Utlucht) erweitert. Im westlichen Westfalen fand der Schankbetrieb dagegen an der Herdstelle im hinteren Bereich der hohen Deele statt (=Flett). Häufig wurde dieser Bereich durch eine Scherwand vom vorderen Teil der Deele abgetrennt, die Herdstelle mit einem Sandsteinkamin versehen und der Gastraum durch den Einbau eines Schornsteins vom Rauch befreit. Aufwendige Fensterbahnen aus kleinen, mit Bleistäben verbundenen Scheiben, wie sie eher in der Stadt zu finden waren, sorgten für eine bessere Beleuchtung. Besondere Schlafkammern oder -stuben für vornehme Reisende gab es auf dem Lande nur selten. Man schlief auf den Bänken der Wirtsstube oder auf Strohsäcken im Küchenflett.

Im 19. Jahrhundert gingen die meisten ländliche Kleinbrauereien ein, die Bierbrauerei konzentrierte sich nunmehr auf Großbetriebe, die nach bayerischer oder Pilsener (untergäriger) Brauart produzierten. Genauso verlief die Entwicklung im Brennereigewerbe. Doch die Krüge bewahrten ihre Funktion als kommunikative Mittelpunkte des Dorflebens, durch den Anbau von Festsälen und Kegelbahnen trugen sie dem Wandel der Freizeitgestaltung und dem Aufkommen des Vereinswesens Rechnung.
 
 
 
 

Ein Beispiel:
Der Krug auf dem Kirchhof in Hillentrup

 
 
 
Zu den ältesten nachweisbaren Krügen in Lippe zählt der Kirchenkrug in Hillentrup bei Lemgo. Kirche und Kirchhof wurden auf einem Plateau am Südabhang des Kleeberges angelegt. Um die Kirche und den unterhalb am Hillebach gelegenen Meierhof entwickelte sich seit dem Spätmittelalter die geschlossene Dorfsiedlung, an deren Rand einige vormalige Einzelhöfe liegen. Die im 13. Jahrhundert errichtete und im 15. Jahrhundert erweiterte Kirche wurde 1899/1900 durch einen imposanten historistischen Neubau ersetzt.

In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wahrscheinlich in der Sternberger Fehde von 1424, war die Kirche in Brand gesetzt worden. Das hölzerne Behältnis mit den Hostien blieb dabei unversehrt. In der Folge etablierte sich eine Wallfahrt zum Heiligen Leichnam von Hillentrup. Sie hatte zwar nur regionale Bedeutung und wurde vor allem von den Bürgern Lemgos genutzt, aber sie brachte doch so viele Gäste ins Dorf, dass eine Schankwirtschaft notwendig wurde.

Da das Kruggebäude auf dem Kirchhof stand, wurde es nicht zum Landschatz herangezogen, den seit dem 15. Jahrhundert alle Grundbesitzer im Gebiet der Herrschaft Lippe zu entrichten hatten. Alle zwölf Jahre musste der Krüger mit den Kirchendechen die Pacht neu aushandeln, worüber ein Meierbrief ausgestellt wurde. 1519 entrichtete Plochstert 2 Mark und 4 Scheffel Hartkorn (Roggen und Gerste) für das zur Krugstätte gehörende Ackerland sowie 2 Mark von dem tappen, d. h. vom Ausschank (mittelniederdeutsch tappe: ‚Zapfhahn'). 1582 musste Lambert Koch de Kroger für das Land 4 Scheffel Gerste und 9 Scheffel Hafer entrichten, für den Krug 1 Gulden sowie für den Hausgarten 8 Schilling und ein Paar Hühner.

Im Jahr 1605 zog Graf Simon VI. zur Lippe die Grundherrschaft der Hillentruper Kirche, die bis dahin vom Lemgoer Stadtrat kontrolliert wurde, an sich, was auch den Krug betraf. Allerdings blieb eine jährliche Abgabe an die Kirche von jährlich 6 Scheffel Hafer bis zur Ablösung im 19. Jahrhundert erhalten. Catharina, die Witwe des Krügers Henrich Wille, heiratete 1640 den Rittmeister Caspar Hoppe, seit 1649 Amtmann zu Blomberg, der den Krug verpachtete. Hoppe erhielt 1651 von Graf Otto zur Lippe-Brake ein Privileg, das den Krug zum erblichen freien Besitz erklärte. Seine Witwe Catharina kehrte 1654 nach Hillentrup zurück.

Das noch heute vorhandene ehemalige Kruggebäude (Adresse: Rawaule 6) wurde laut Inschrift vom 2. Juli 1749 durch Zimmermeister Johann Ernst Kluckhon für Henrich Christian Quatfasel (Kwotfas) und seine Ehefrau Anna Elisabeth geb. Hoppe errichtet. Quatfasel war ein Bürgersohn aus Salzuflen und betrieb zusätzlich zum Krug einen Hökerhandel.

Über das gesellige Treiben im Krug informieren die Register des Gogerichtes. 1642 wird Cord Finke zu 1/2 Tlr. Buße verurteilt, weil er "Sontags unter der Predigt sich im hiesigen Kruge zum Bier gesetzt, darin bis Dinestag morgen verblieben und den Habern (Hafer), womit er ... abgeborget Haber zahlen sollen, versoffen." Beleidigungen im Krug spielten vor Gericht eine große Rolle, da sie im öffentlichen Rahmen ausgesprochen wurden und daher besonders ehrenrührig waren. 1673 beschimpfte z. B. Hans Raschmacher aus Lüdenhausen "im Kruge zu Hilverntrup" Hans Hummeke und seinen Sohn, sie seien "Zauberer". Raschmacher habe dann "von den Worten zu den Schlägen gegriffen und ihn (Hummeke) mit einem Kruge an der Stirn blutig geschlagen".

Ein Eintrag von 1683 belegt die Existenz einer sonst nicht dokumentierten, zunftähnlichen Leinewebervereinigung, die sich im Krug traf: "Die sämtlichen Leinewebers klagen, daß, wie sie in den Krug zu Hilfentrup, umb miteinander eine Kanne Bier zu trincken, gegangen wehren", hätten verschiedene junge Burschen gerufen: "Die Leinewebers wehren wohl gute Kerle, aber ihre Dechanten (Vorsteher) wehren Schelme". Diese damals als sehr beleidigend empfundene Bezeichnung führte natürlich wiederum zu Handgreiflichkeiten.

Der Eindruck vom Krugleben, den man aus den Gerichtsunterlagen gewinnt, ist allerdings einseitig. Einen interessanten Gegenpol stellen die polizeilichen Untersuchungsberichte verschiedener lippischer Amtsverwaltungen von 1812 dar, in denen dargelegt wurde, wie viele Gäste in den einzelnen Krügen angetroffen wurden und wie diese sich verhielten. So visitierte der Braker Untervogt an fünf Abenden zwischen dem 24. Januar und dem 2. Februar auch den Hillentruper Krug. An den Terminen unter der Woche (an einem Mittwoch, Freitag und Sonnabend) wurden keine Gäste angetroffen.

An den Sonntagen war jedoch viel Betrieb. Am Sonntag, 26. Januar, wurde an zwei Tischen von je vier bzw. fünf Gästen das damals beliebte "Pochespiel" (ein Brett-Kartenspiel) um wenige Pfennige Einsatz gespielt, an einem Tisch saßen vier weitere Personen, darunter - ungewöhnlicherweise - ein Ehepaar. Nur einer der Kruggäste war für den Untervogt erkennbar betrunken. Am folgenden Sonntag spielten an einem Tisch fünf Personen, an einem anderen saßen sechs Leute. Diesmal wurde kein Betrunkener vermerkt. Die Kruggäste waren vor allem Einlieger (Mieter ohne eigenen Grundbesitz), Knechte, ältere Söhne von Hofbesitzern, aber auch Hofbesitzer selbst. Die sonst sehr ausgeprägten sozialen Unterschiede waren, das lässt sich an den Visitationslisten ablesen, im Krug vorübergehend aufgehoben.

1884 erwarb der Wirt Friedrich Büngener die Quatfaselsche Stätte Nr. 30. Doch er empfand die Lage des Kruges wohl als ungünstig, kaufte 1898 eine Hausstätte an der Hauptstraße und errichtet dort ein neues Gasthaus. Den alten Kirchenkrug verkaufte er an den Zimmermeister Heinrich Ridder, der den Schankbetrieb nicht weiterführte.














Die Kirche und der Kirchhof im Dorf -
Berichte aus Westfalen im
konfessionellen Zeitalter






 
Dorfansicht mit Gastwirtschaft
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