TEXT

TITEL1648: Krieg und Frieden in Europa


ORTMünster
JAHR1998


ONLINE-TEXTJakobi, Franz-Josef: Westphaliae Metropolis Monasterium. Topographie und Gesellschaft Münsters im konfessionellen Zeitalter
SEITEBd. 1, S. 381-389


TEXT

I. Einleitung

In urbem Monasteriensem Westphaliae Metropolim
Westphalae gentis decus, aura, splendor,
Civitas Paulo celebris patrono,
Notior Delphis, variis Athenas
Artibus aequat!
[...]
Eminent turres nimium levatae,
Sunt domus altae, speciosa lucent
Templa; et obscurae decorata cingunt
Moenia fossae.
[...]
Et viros doctos veneratur omnis
Civitas, quorum ingeniis abundat
Ceteras longe superatque nostri
Climatis oras.
[...]
Gedicht auf die Stadt Münster, die Hauptstadt Westfalens
Zierde und strahlender Glanz westfälischen Landes
Stehst du, herrliche Stadt, im Schutze des Paulus!
Mehr als Delphi gerühmt, als Stätte der Künste
Gleichst du Athen selbst!
[...]
Stolze, mächtige Türme ragen zum Himmel,
Hohe, stattliche Häuser und prachtvolle Kirchen
Schmücken die Stadt, und dunkle Gewässer umspülen
Ringsum die Mauern.
[...]
Hochangesehn in der ganzen Stadt sind die Männer,
Die der Wissenschaft dienen; so viele Gelehrte
Hat keine Stadt wie diese, den Ruhm macht ihr keine
Andere streitig.
[...]

So portraitierte am Ausgang des Mittelalters der aus den Niederlanden stammende Gelehrte Johannes Murmellius die alte Bischofs- und Hansestadt Münster, in der er 13 Jahre lang (1500-1513) als stellvertretender Rektor der Domschule bzw. als Leiter der Stiftsschulen von St. Martini und St. Ludgeri für die humanistische Bildungsreform tätig war. Die Verse gehören zu der 50 "sapphische" Strophen umfassenden Ode "in urbem Monasteriensem Westphaliae Metropolim", in der Murmellius in Form des traditionellen "Städtelobs" die äußere Stadtgestalt der "Hauptstadt Westfalens" und ihre Stadtgesellschaft als Heimstatt der Künste und der Wissenschaften überschwenglich preist. [1]

Das Werk, in dem unter anderem auch der gesamte Gelehrtenkreis um Rudolf von Langen vorgestellt wird, dem Murmellius selbst angehörte, hat eine interessante und aufschlußreiche Entstehungsgeschichte: Der Autor hat es - wie der Titelzusatz der zeitgenössischen Ausgaben verrät - aufgrund einer Wette mit dem als Gast bei ihm in Münster weilenden Kölner Rhetorik-Professor Georg Sibutius an einem Tage, und zwar am 4. Juli 1503, verfaßt. [2] Auch wenn es deshalb eher als Ausweis humanistischer Gelehrsamkeit anzusehen ist denn als realistisches Stadtportrait, wird daran doch deutlich, daß Münster zu Beginn des konfessionellen Zeitalters ein geistiges Zentrum im Nordwesten des Reiches und eine Stadt von überregionaler Bedeutung und Ausstrahlung war. Daß das - trotz der Errichtung und des blutigen Endes der Täuferherrschaft in den Jahren 1534 und 1535, durch die die Stadt und ihre künstlerische Ausstattung stark in Mitleidenschaft gezogen wurde [3] - während des gesamten 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so blieb, wird durch eine außerordentlich reichhaltige Überlieferung belegt. [4] Davon sollen im Folgenden einige Komplexe exemplarisch betrachtet werden, um daran vor allem deutlich werden zu lassen, von welchen Voraussetzungen her Münster in der letzten, verheerendsten Phase des Dreißigjährigen Krieges als Haupttagungsort für die Verhandlungen zur Beendigung der Auseinandersetzungen überhaupt in Betracht kommen konnte, und wie es einer Stadt dieser Größenordnung, mit ca. 10.500 Einwohnern [5], möglich war, mehrere Jahre lang für annähernd 150 Gesandtschaften aus fast allen deutschen und europäischen Ländern, d.h. für mehrere tausend Personen verschiedenster Nationalität und Konfession [6] die Gastgeberrolle zu übernehmen.


II. Topographie


Während im Städtelob des Murmellius die äußere Stadtgestalt Münsters nur in wenigen Andeutungen aufscheint, vermittelt zwei Generationen später die Feder des Chronisten ein konkretes und detailliertes Bild. Hermann von Kerssenbrock, der langjährige Rektor der Domschule (1550-1575), hat seiner zu Beginn der 1570er Jahre verfaßten Geschichte des Täuferreiches eine ausführliche Beschreibung Münsters vorangestellt, in der er unter anderem auf die räumliche Ausdehnung, das Befestigungssystem, die öffentlichen Gebäude sowie die Plätze, Kirchen und Klöster eingeht. [7]

Fast gleichzeitig mit diesem historiographischen Produkt humanistischer Gelehrsamkeit, in dem unter anderem der Ursprung der Stadt mit Hilfe etymologischer Deutungen des ursprünglichen Städtenamens Mimigernaford unter Rückgriff auf ältere Darstellungen in die germanische Frühzeit zurückverlegt wird [8], entstand ein erstes zeichnerisches Stadtportrait in Form einer in Kupfer gestochenen Stadtansicht. Remigius Hogenberg fertigte es nach einer von Hermann tom Ring gezeichneten Vorlage im Jahre 1570. Auch dieses Stadtportrait, das neben einer Widmung an den Baseler Arzt und Humanisten Leonhard Thurneysser eine Kurzfassung der bei Kerssenbrock formulierten Gründungslegende enthält, ist mit seiner überraschenden Präzision und Detailgenauigkeit ein Zeugnis der neuen wissenschaftlichen Ambitionen des 16. Jahrhunderts. [9]

In Münster setzte sich diese Tradition bis in die Hochphase des Dreißigjährigen Krieges fort. Mit dem Vogelschauplan des Everhard Alerdinck, der auf einer präzisen topographischen Aufnahme der Stadt beruht, bringt sie im Jahre 1636 ein neues Spitzenzeugnis hervor. Die Maßstabgerechtigkeit, mit der Straßenzüge und Grundstücksparzellierungen sowie Lage und Gestalt der Gebäude wiedergegeben sind, verblüfft noch heute und kann als Grundlage für stadtarchäologische Untersuchungen dienen. [10]


II.1. Hermann von Kerssenbrocks Beschreibung der äußeren Stadtgestalt

Kerssenbrock beginnt seine Darstellung mit einer Beschreibung der naturräumlichen Lage Münsters "beinahe in der Mitte des alten Sachsenlandes zwischen Rhein und Weser, das heute Westfalen heißt"; er sieht die Stadt schon dadurch prädestiniert, "totius Westphaliae metropolis" zu sein. [11] Eine erste Bestätigung erfährt diese Vorrangstellung für ihn durch das den anderen westfälischen Städten und denen anderer Regionen überlegene Befestigungssystem. [12]

Nach der Beschreibung dieses die Stadt wie ein undurchdringlicher Panzer umschließenden Befestigungssystems wendet sich Kerssenbrock dem Stadtinneren zu. Er beginnt mit den Kirchen und Klöstern. [13] An erster Stelle steht der Dom, der mit der ihn umgebenden Dom-Immunität die Mitte der Stadt bildet.

Das Bild der äußeren Stadtgestalt wird schließlich durch die Kurzportraits der öffentlichen Plätze und Gebäude komplettiert [14], "damit die Nachwelt erkenne, daß in dieser unserer Stadt alles im Überfluß zur Verfügung steht, was notwendig ist, wie auch das, was zur Zierde und zum Vergnügen gereicht [...], woran man die Bedeutung und die Größe unseres Gemeinwesens leicht ermessen kann", wie Kerssenbrock nicht ohne Stolz bemerkt. [15]

Das von Kerssenbrock gezeichnete Bild der Stadt wird schließlich durch allgemeine Ausführungen über die Straßenzüge mit den Häuserfronten, die Ausstattung der Privathäuser sowie die Abfall- und Wasserentsorgung abgerundet. Der Autor beginnt erneut mit einem voller Stolz vorgetragenen Lob auf seine Heimatstadt auch in dieser Hinsicht: "Was soll ich weiter mit vielen Worten ausführen, wie groß der Reichtum und Glanz der öffentlichen Plätze und der Privathäuser dieser Stadt ist, da doch klar ist, daß sie sowohl darin als auch in anderem Schmuck allen anderen westphälischen Städten überlegen ist." [ 16]


II.2. Die bildliche Darstellung der Stadt durch Hermann tom Ring / Remigius Hogenberg und Everhard Alerdinck

Wie um die ausführliche Beschreibung Kerssenbrocks bildhaft zu veranschaulichen, hat fast gleichzeitig der bedeutendste Künstler Münsters im 16. Jahrhundert, Hermann tom Ring, ein detailgetreues "conterfey" seiner Vaterstadt gezeichnet, das der aus Köln stammende Kupferstecher Remigius Hogenberg im Druck verbreitet hat. Die Silhouette der Stadt mit dem wehrhaften Befestigungssystem der Gräben, Mauern und Bastionen, mit den hochaufragenden Türmen und Giebeln der Kirchen und Profanbauten ist zu einem imponierenden Bild unter der Überschrift "Monasterium Westphaliae Metropolis" zusammengefügt. [17]

Kunstvoll ist der Stich außerdem mit drei Texte darbietenden Kartuschen und drei Wappen verziert. Die Wappen des Fürstbistums und der Stadt Münster rahmen das Doppeladlerwappen des Reiches ein, sicher eine Anspielung auf Münsters Selbstverständnis als Bischofs- und als autonome Bürgerstadt. Die Kartusche im Vordergrund trägt den Widmungstext für Leonhard Thurneysser und den Namen des Künstlers sowie das Datum 12. Mai 1570. Die beiden über der Stadtsilhouette neben den drei Wappen schwebenden Kartuschen enthalten kurzgefaßte geschichtliche Rückblicke auf die Stadtentstehung und die Stadtgeschichte in lateinischer und deutscher Sprache in enger Anlehnung an Kerssenbrocks Darstellung. Es ist anzunehmen, daß dem Autor Kerssenbrocks Werk bekannt war oder sogar Kerssenbrock selbst der Autor war. [18]

Zu dieser Seitenansicht von Süden und Westen, die die Topographie natürlich nur perspektivisch und sehr bedingt deutlich werden läßt [19], gesellt sich gut 70 Jahre später, also mitten im Dreißigjährigen Krieg, ein weiteres Meisterwerk aus der Verbindung zweier Disziplinen: der 1636 gedruckte, ebenfalls die Überschrift "Monasterium Westphaliae Metropolis" tragende Vogelschau-Plan des Everhard Alerdinck. Dem Plan liegt eine genaue Vermessung der Stadt im Jahre 1634 zugrunde, wie ein Chronogramm am unteren Bildrand ausweist. [20] (Abb. 1)

Anders als das auch künstlerisch bedeutsame "conterfey" Münsters in der Tradition der Bildnis-Malerei ist der Stadtgrundriß Alerdincks ein erstrangiges Zeugnis für eine andere die Zeit kennzeichnende Disziplin: die Geometrie und Kartographie. Beide Werke vergleichend, stellt Geisberg fest: "Ist der Stich des Remigius Hogenberg die künstlerisch wertvollste Darstellung unserer Stadt, die wir besitzen, so wird er von der Radierung Alerdincks bei weitem durch die Fülle der dargestellten Einzelheiten und die große Anschaulichkeit übertroffen; wohl wenige Städte werden sich einer gleich genauen Darstellung rühmen können." [21] Alerdinck selbst, der sein Werk als Verbindung von Mathematik und Malerei bezeichnet, nennt als Zweck seiner Bemühungen, die Stadt in einer neuen Form der Darstellung abzubilden, "warein alle dieser statt qualiteten von haus zue haus, von strassen zu strassen mit allen ihren circumferentzen proprieteten, an iezto zu finden, ad oculum quasi et ad lineam zu sehen sein". [22] Um dieses Ziel zu erreichen, hat er das bei dem bekannten Kartographen Johann Gigas Erlernte mit Hilfe des Ingenieurs Nikolaus Knickenberg präzise umgesetzt und auf den maßstabgetreu aufgenommenen Grundriß der Stadt die Gebäude und Häuserblocks eingezeichnet. [23]

Die Darstellung wirkt wie eine Bestätigung der Beschreibung Kerssenbrocks und läßt ein sehr anschauliches Bild von Stadtgestalt und Stadtraum Münsters im konfessionellen Zeitalter entstehen.


III. Gesellschaft



Der eindrucksvollen äußeren Stadtgestalt mit ihren aufwendigen Befestigungsanlagen, ihrem vielgliedrigen Ensemble von bürgerschaftlich geprägten Stadtvierteln mit öffentlichen Einrichtungen, Plätzen und Gebäuden sowie ihren geistlich geprägten Immunitätsbezirken mit Kirchen und Klöstern entsprach schon nach dem Bild des Murmellius eine ebenso vielgliedrige, selbstbewußte, den Künsten und Wissenschaften aufgeschlossene Stadtgesellschaft, die dieses Gehäuse in angemessener Weise auszufüllen imstande war.

Wiederum ist es Hermann von Kerssenbrock, der uns als kundiger zeitgenössischer Beobachter eine sehr konkrete Vorstellung von der in Stände und Schichten gegliederten, etwa 10.500 Köpfe zählenden Einwohnerschaft Münsters zwischen dem Täuferreich und dem Dreißigjährigen Krieg vermittelt. [24]

Diese Stadtgesellschaft ist im wesentlichen geprägt durch eine selbstbewußte Bürgerschaft, die sich etwa in der Ratskammer und im Amtshaus der Kramergilde ihre Repräsentationsarchitektur von künstlerischem Rang zu schaffen wußte. [25] Während und unmittelbar nach dem Friedenskongreß konnte sie in den Auseinandersetzungen um die Niederlassung der Lotharinger Chorfrauen zum letzten Mal ihre seit dem Mittelalter gegen den bischöflichen Stadtherrn erkämpften Autonomierechte geltend machen. [26 ] In ihren Repräsentanten wie z.B. Hermann tom Ring [27] und Bernhard Rottendorff [28] hatte sie Anteil am europäischen Geistesleben des Humanismus und der Kunst der Renaissance.

Es war diese Stadtgesellschaft, die die Gastgeberfunktion für den europäischen Friedenskongreß übernehmen konnte. In ihr waren die konfessionellen Gegensätze nach der Katastrophe des Täuferreiches während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst weitgehend ausgeglichen worden; nach dem Machtantritt der Wittelsbacher Fürstbischöfe wurden sie dann in einem allmählichen Verdrängungsprozeß der Protestanten im Zuge der Rekatholisierung der Stadt relativ unspektakulär beigelegt. [29]


III.1. Hermann von Kerssenbrocks Beschreibung der Einwohnerschaft

Die ganze Stadt, so beginnt Kerssenbrock seine Darstellung, umfasse zwei Arten von Menschen, die eine sei die der Religiosen oder Kirchenleute, die andere die der Weltlichen oder Laien. Die erste Gruppe sei unterteilt in den höheren und den niederen Klerus; zum "clerus primarius" zählten die vierzig ausschließlich adeligen Mitglieder des Domkapitels, die "Domherren", zum "clerus secundarius" gehörten alle sonstigen Priester am Dom, die Kanoniker der vier weiteren Stiftskapitel (Alter Dom, St. Ludgeri, St. Martini, St. Mauritz) und außerdem die gesamte Pfarrgeistlichkeit an den sechs Pfarrkirchen sowie die Nonnen und Mönche der sieben Frauen- (Liebfrauen Überwasser, St. Aegidii, Niesinck, Rosenthal, Ringe, Hofringe und Reine) und vier Männerklöster (Georgs- und Johanniterkommende, Fraterhaus und Franziskaner-Minoriten). [30] Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal des Klerus gegenüber der sonstigen Stadtgesellschaft sieht Kerssenbrock darin, daß dessen Mitglieder von allen bürgerlichen Lasten befreit sind. (Abb. 2)

Bevor er zur Beschreibung des weltlichen Standes und der politischen Funktionen in der Bürgerschaft übergeht, erwähnt Kerssenbrock noch eine weitere Personengruppe, deren Mitglieder nicht dem Bürgerrecht unterworfen sind: den Adel bzw. Ritterstand (ordo equester). Adelige haben zwar ihre Wohnhöfe in der Stadt, leben aber eigentlich nach je eigenem Recht als einzelne außerhalb der Stadt auf ihren befestigten Landsitzen, sind also nicht zur Stadtgesellschaft zu zählen.

Den Laienstand sieht Kerssenbrock wie den Klerus zweigeteilt: in den Ordo der Patizier und den der Plebejer. Beide bringen aus sich heraus einen dritten hervor: den der Ratsherren (senatorium ordinem), dem die gesamten politischen Leitungsfunktionen übertragen sind. Diese Gruppe der Amtsträger setzt sich aus Mitgliedern beider bürgerlichen Schichten zusammen, stellt also eine Funktionselite dar, die nach persönlichem Ansehen und Vermögen politische Macht per Mandat der Mitbürger in einem komplizierten Wahlverfahren übertragen erhält.

Dem "plebejus ordo" zählt Kerssenbrock alle übrigen Stadtbewohner, freie wie unfreie, zu. Er weist noch ein besonderes Strukturmoment auf, das nicht, wie die bisherigen, sozusagen eine vertikale Schichtung ergibt, sondern eine horizontale Aufteilung in Sektoren: die Zunftordnung, durch die außerdem verbindliche Rahmenbedingungen des gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens für die Kaufleute und Handwerker festgelegt werden. Kerssenbrock zählt die 17 zu seiner Zeit bereits "Ämter" (curiae) genannten Gilden auf, die einen besonderen, vom Rat anerkannten Rechtsstatus mit einer in einer "Gilderolle" schriftlich fixierten Verfassung haben und denen jeweils zwei gewählte "Gildemeister" vorstehen. [31]

Kerssenbrock liefert insgesamt eine recht präzise und vollständige Beschreibung der Stadtbevölkerung, bei der lediglich die außerhalb der ständischen und sozialen Ordnungen lebenden Angehörigen des "fahrenden Volkes" fehlen. Zahlenangaben allerdings, sowohl absolute als auch solche über die Verhältnisse der Bevölkerungsgruppen zueinander, liefert er nicht. Sie lassen sich jedoch aus den zeitgenössischen Schatzungsregistern, in denen die Steuerpflichtigen aufgeführt sind und die für das 17. und 18. Jahrhundert weitgehend vollständig erhalten sind, indirekt gewinnen. Die zentrale Einheit, die bei der Erfassung der Steuerpflichtigen zugrunde lag, war weder die Einzelperson noch die Familie, sondern der Haushalt, für den jeweils der Vorstand verantwortlich war. Zählt man den gesamten Klerus und die Insassen der Armenhäuser, Spitäler und Stiftungen sowie die "Aftermieter", die keinen selbständigen Haushalt führten, nicht mit - insgesamt dürften das ca. 1.500 Personen gewesen sein -, so ergeben sich nach den Berechnungen von Franz Lethmate für Münster um 1600 gut 2.200 solcher Haushalte mit ca. 9.150 Personen. [32]

Diese rund 9.150 den bürgerlichen Haushalten zuzurechnenden Personen, die in den Schatzungsregistern statistisch erfaßbar sind, verteilten sich ziemlich regelmäßig über die Stadt und ihre Wohnviertel. Für die Wahrnehmung der politischen Autonomierechte, insbesondere des komplizierten Wahlverfahrens für die Ratsmitglieder, war die Stadt in sechs - in Münster "Leischaften" genannte - Stadtbezirke aufgeteilt. Die Grenzziehung der Leischaften entsprach weitgehend der der fünf großen Pfarreien - der kleinen von St. Servatii war keine Leischaft zugeordnet -, wobei die große, das gesamte Gebiet westlich der Aa umfassende Überwasser-Pfarrei in zwei Leischaften aufgeteilt war. [33] (Abb. 3)


III.2. Ratskammer und Krameramtshaus als Repräsentationsarchitektur der Bürgerschaft

Außer der künstlerischen Darstellung der äußeren und der inneren Stadtgestalt in Wort und Bild dokumentieren auch zwei bedeutende bis heute - wenn auch mit starken Eingriffen und Umbauten -erhaltene Architekturzeugnisse auf besonders eindrucksvolle Weise das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der die Stadtgesellschaft im konfessionellen Zeitalter prägenden verfaßten Bürgerschaft: die in den Jahren 1576 und 1577 vorgenommene Neugestaltung der Ratskammer und der 1589 fertiggestellte Neubau des Amtshauses der Kramergilde. [34]

Die Umgestaltung der Ratskammer erfolgte im Zusammenhang umfassenderer baulicher Veränderungen des gesamten Rathauskomplexes. Bis zum Jahre 1576 war die im Mittelalter zunächst als Fachwerkbau ausgeführte "domus civium" mit der "Bürgerhalle" und dem Schaugiebel am Prinzipalmarkt baulich von dem dahinter liegenden "Steinwerk" mit der Ratskammer im Erd- und der Rüstkammer im Obergeschoß getrennt. Jetzt wurden beide unter einem neuen Dach zu einem Gebäude zusammengefaßt, und dieses wurde mit einer neuen rückwärtigen Giebelwand versehen. Das Rathaus erhielt so jene äußere Gestalt, die bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg Bestand hatte und die in den 1950er Jahren wiederhergestellt wurde. Für die Ratskammer entstand durch die Baumaßnahme von 1576/77 eine neue östliche Seitenwand mit vier großen Fenstern, deren Gestaltung Teil der Neugestaltung des gesamten Innenraumes wurde. [35]

Das Konzept für diesen Entwurf ist - nach einer von Max Geisberg zuerst vorgenommenen Zuschreibung - aller Wahrscheinlichkeit nach unter Mitwirkung Hermann tom Rings entstanden. [36] Sie erfolgte ganz im Zeichen der Funktion des Raumes als Versammlungsort des Rates und als zentraler Ort der städtischen Gerichtsbarkeit. Diese war neben der Wehrhoheit und den Markt- und Handelsprivilegien seit dem Mittelalter das wichtigste Element der Stadtverfassung und Kernstück der bürgerlichen Autonomie. [37]

Am 12. November 1589 konnte die Kramergilde mit ihren Gildemeistern Arnold von Guelich und Johann Rall an der Spitze ihr neues Amtshaus in Besitz nehmen. Mit einem viertägigen Jahresfest, dem "Gildezech", an dem 82 Mitglieder und 24 Witwen der verstorbenen Meister teilnahmen, wurde es festlich eröffnet. [38] Wie der Alerdinck-Plan ausweist, war es größer, und es war auch repräsentativer ausgestattet als das 1525 errichtete Haus der Gesamtgilde, das "Schohaus" auf dem alten Fischmarkt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die achtköpfige Gesandtschaft der niederländischen Generalstaaten beim Friedenskongreß hier in den Jahren 1646 bis 1648 Quartier nahm. Hier wurde also der Frieden zwischen Spanien und den Niederlanden ausgehandelt. [39] Wie sehr sich die Kaufleute Münsters in der Nachfolge der Kramergilde mit dem Haus als sichtbarer Dokumentation ihres hansischen Traditionsbewußtseins und Selbstverständnisses über die Jahrhunderte identifizierten, zeigt sich unter anderem daran, daß sie es nach der Auflösung der Zunftordnung und Konfiskation ihres Vermögens während der napoleonischen Zeit in den 1820er Jahren vom preußischen Staat zurückkauften und zum Domizil des 1835 neugegründeten "Vereins der Kaufmannschaft" machten. Später ging es dann in den Besitz der Stadt Münster über, die es für verschiedene öffentliche Zwecke und zuletzt - bis 1993 - als Hauptgebäude der Stadtbücherei nutzte. [40] Als es dann der Westfälischen Wilhelms-Universität für die Gründung des "Niederlande-Zentrums" übergeben wurde, verlegte der Verein der Kaufmannschaft im Einvernehmen mit allen Beteiligten und in Erinnerung an die alte Tradition seine Geschäftsstelle wieder in das Krameramtshaus zurück.


III.3. Die Auseinandersetzungen um die Niederlassung der "Lotharinger Chorfrauen" (1643-1655) - Manifestation des Ringens um die städtischen Autonomierechte

Das Selbstbewußtsein und der Selbstbehauptungswille der in Gilden und Leischaften organisierten verfaßten Bürgerschaft, die in der Neugestaltung des Rathauses und der Ratskammer und im Bau des Krameramtshauses in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts manifest geworden waren, waren auch zur Zeit des Friedenskongresses noch lebendig. Die Auseinandersetzungen um die Niederlassung der "Lotharinger Chorfrauen" in der Stadt sind dafür ein anschauliches Exemplum. [41]

Die durch die kriegerischen Ereignisse Anfang der 1640er Jahre aus Lothringen vertriebenen Augustinerinnen der Congregatio Beatae Mariae Virginis waren über Trier und Köln auf der Suche nach günstigen Bedingungen für ihre Betätigung als Schulorden nach Münster gekommen. In der rekatholisierten Stadt - der von Kriegshandlungen verschonten Stadt des Friedenskongresses -, in der sie wohl schon im Laufe des Jahres 1643 im Gefolge ihres Protektors Graf Nassau eingetroffen waren, hofften sie sie zu finden. Offenbar bot sich ihnen jedoch erst nach dem Ende der schwierigen Verhandlungen und dem Abschluß des Westfälischen Friedens am 24. Oktober 1648 Gelegenheit, ihre Gönner unter den Gesandten und die städtischen Entscheidungsgremien mit ihrem Anliegen zu befassen.

Nach ausführlicher Beratung rang sich der Rat in einer Sitzung am 25. Februar 1649 [42 ] zu einem Beschluß durch, der zwar in der Tendenz positiv, aber mit hohen Auflagen verbunden war und unter einen gravierenden Vorbehalt gestellt wurde. Nur mit Rücksicht auf die hochgestellten Intervenienten - nämlich die Mediatoren Fabio Chigi und Alvise Contarini - und obwohl die Bürgerschaft bereits über Gebühr durch Geistliche und Ordensleute belastet sei - so heißt es im Ratsprotokoll -, stellte der Rat die Niederlassungsgenehmigung und die Befreiung von den bürgerlichen Pflichten in Aussicht; allerdings verlangte er eine mit päpstlicher Autorität zu sanktionierende vertragliche Festlegung auf erhebliche Einschränkungen und machte außerdem seinen Beschluß von der Zustimmung der Gesamtgilde abhängig.

Entsprechend den in der Stadtverfassung festgelegten Verfahrensregeln berieten die Gildeführer auf einer Vollversammlung über die Angelegenheit. Sie lehnten den Ratsbeschluß rundweg ab und gingen in ihrer Beschlußfassung sogar noch darüber hinaus: Die Lotharinger Chorfrauen - so argumentierten sie - gehörten nach ihrer Selbstbezeichnung dem Augustinerorden an, und das gebe zu der Besorgnis Anlaß, daß den weiblichen bald männliche Ordensangehörige folgen würden; durch die Unterrichtung der städtischen und nichtstädtischen Jugend würden die Schwestern außerdem Ordensnachwuchs gewinnen, und es würde bald ein richtiges Kloster entstehen; für diese Entwicklung gäbe es genügend negative Beispiele in jüngster Vergangenheit; den Schwestern sei deshalb nicht nur die gewünschte Niederlassung und Abgabenbefreiung zu verwehren, sondern ihnen sei binnen kürzester Frist das Aufenthaltsrecht in der Stadt zu entziehen. [43]

Der Rat geriet durch dieses massive Votum in eine schwierige Situation, zumal sich auch Graf Nassau inzwischen als Intervenient eingeschaltet hatte. Er, der Rat, mußte den hohen Repräsentanten des Papstes und des Kaisers die Ablehnung ihres Begehrens mitteilen und sich dadurch außerdem in eine Konfrontation mit dem Landesherrn bringen, der die Niederlassung durch ein in Bonn ausgestelltes Mandat bereits 1647 genehmigt hatte. [44] Wie nicht anders zu erwarten, gaben sich die Intervenienten mit dem ablehnenden Bescheid nicht so ohne weiteres zufrieden. Die Angelegenheit zog sich den ganzen Sommer und Herbst des Jahres 1649 ohne Veränderung der kontroversen Positionen weiter hin.

An dem Verfahren ist zweierlei bemerkenswert: zum einen der immer wieder erneuerte Hinweis der Gilden auf die schlechten Erfahrungen mit den jüngst vergangenen Ordensniederlassungen in der Stadt; zum zweiten die Möglichkeiten der Mitbestimmung in städtischen Angelegenheiten, die dieser Standesorganisation der Kaufleute und Handwerker zur Verfügung standen und die sie in die Lage versetzten, selbst der geballten Macht des Landesherrn, den Voten des Rates und der mächtigen Intervenienten zu trotzen.

Die Erklärung dafür ist im veränderten Rechtsstatus der Stadt - konkret gesprochen im geänderten Verhältnis zwischen Stadt und Landesherrn - zu suchen. Mit der Neutralitätserklärung zu Beginn des Friedenskongresses [45] hatte Münster auf Zeit faktisch den Status einer freien Reichsstadt erhalten. Damit waren aber die Entscheidungs- und Selbstbestimmungsrechte der Stadtverfassung uneingeschränkt wieder in Funktion gesetzt, die durch den bischöflichen Landesherrn und das Domkapitel in den vorhergehenden Jahrzehnten Zug um Zug eingeschränkt worden waren. Diese aus der mittelalterlichen Blütezeit der Hansestadt Münster herrührende, nicht-codifizierte Stadtverfassung sah ein Mitbestimmungsrecht der Gilden durch ihre Sprecher bei allen Ratsbeschlüssen und gegebenenfalls das Votum der Gesamtversammlung aller Bürger, der "Gemeinheit", in den wichtigsten städtischen Entscheidungen vor; die Sprecher der Gilden hatten ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Rates. [46] Konsequenterweise hatten sie denn auch schon im Jahre 1642 den Dominikanern, die bereits seit dem Mittelalter in der Stadt weilten, den Bau eines neuen Klosters verweigert. [47]

In diese Situation also waren die Lotharinger Chorfrauen wohl unwissentlich geraten, als sie sich - sozusagen als Kriegsflüchtlinge - aus dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Lothringen aufmachten, um nach einer neuen Bleibe zu suchen. In der Hoffnung auf günstige Bedingungen und auf hohe Protektion hatten sie sich über Trier und Köln in die katholische Kongreßstadt Münster begeben. Hier jedoch stießen sie von Anfang an auf den jetzt auch politisch durchsetzbaren Widerstand der Gilden, der selbst durch die gemeinsamen Bemühungen der Repräsentanten von Kaiser und Papst nicht überwunden werden konnte.


III.4. Gildebürger, Künstler und Gelehrte als Repräsentanten der bürgerlichen Stadtgesellschaft

Die in den 17 vom Rat autorisierten Gilden, den Leischaften und der "Gemeinheit" organisierte Bürgerschaft war es also, die im konfessionellen Zeitalter die münsterische Stadtgesellschaft dominierte. Sie erlebte in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Blütezeit, die Josef Prinz als das "goldene Jahrhundert" bezeichnet hat. [48] Sie war gekennzeichnet durch ein friedliches Miteinander und einen Interessenausgleich zwischen den Herrschaftsansprüchen des fürstbischöflichen Landesherrn und den städtischen Autonomiebestrebungen, der schon bald nach der Täuferkatastrophe, an der Gilden und Gemeinheit zunächst die Schuld zugesprochen worden war, zur Wiederzulassung der Gilden geführt hat. Diese Atmosphäre religiöser und politischer Toleranz bot den Spielraum für die Entfaltung von Handel und Handwerk, Kunst und Gelehrsamkeit. Auch als mit den Fürstbischöfen Ernst (1585-1612) und Ferdinand (1612-1650) sowie mit der Niederlassung der Jesuiten (1588) und weiteren Reformorden in der Stadt ein anderer Geist in Münster Einzug hielt und es darüber zu innerstädtischen Spannungen und Konflikten kam, blieb die bürgerliche Stadtgesellschaft republikanisch gesinnt und stellte zunächst alles andere als die Hofgesellschaft einer Residenzstadt dar.

Zwar waren ihre Repräsentanten zur Zeit des Friedenskongresses durch die jesuitische Schulung der Schola Paulina gegangen, aber sie lebten und agierten in der Mehrzahl eher im Geist des Humanismus und der republikanischen Stadtkultur als dem der Gegenreformation und der höfischen Barockkultur. Zu ihnen gehörten der Domschulrektor und Geschichtsschreiber Hermann von Kerssenbrock, der der Stadt und ihrer Einwohnerschaft ein literarisches Denkmal setzte, ebenso wie die Gildemeister der Kramergilde, die den Neubau ihres Amtshauses verantworteten; zu ihnen gehörten ebenso die Gildemeister und Verantwortlichen auf dem Schohaus, die gegen weitere Ordensniederlassungen in Münster, die Abwanderung von Immobilien in die "tote Hand" und die Befreiung weiterer Häuser und Grundstücke von den bürgerlichen Lasten energisch Front machten, wie der Gildemeister Everhard Alerdinck, der eine topographische Aufnahme der Stadt durchführte und als Kartenwerk zum Druck beförderte.

An je einem Angehörigen der Generationen vor und nach 1600 lassen sich Geist und Habitus der bürgerlichen Stadtgesellschaft der "Metropolis Westphaliae" exemplarisch verdeutlichen: an dem schon mehrfach erwähnten Maler und Gildemeister Hermann tom Ring (1521-1596) und an dem Stadtarzt und Ratsherrn, Dichter und Gelehrten Bernhard Rottendorff (1594-1671).

Hermann tom Ring repräsentiert die mittlere Generation der berühmten Malerfamlie. [49] Er kam am 2. Januar 1521 als ältester Sohn des nach Münster zugewanderten und bald als Meister in die Malergilde aufgenommenen Ludger tom Ring d.Ä. zur Welt. Er besuchte die gerade zum humanistischen Gymnasium umgewandelte Schola Paulina, trat dann in die Werkstatt seines Vaters ein und nach dessen Tod im Jahre 1547 seine Nachfolge an. Bereits 1556 wurde er zweiter Gildemeister, von 1569 bis zu seinem Tod erster Gildemeister der Maler. Er blieb sein Leben lang in der Stadt, in der er als Jugendlicher die Täuferzeit miterlebt hatte, und entfaltete hier ein reiches Wirken auf vielen alten und neuen Gebieten der Künste und Gelehrsamkeit. Neben der Portrait- und Kirchenmalerei sind hier etwa die Buchillustration, die Kartographie, die Architektur und sogar die Astronomie zu nennen. Er stand mit Künstlern und Gelehrten innerhalb und außerhalb Münsters in regem Austausch. Zur Gestaltung und Ausstattung kirchlicher, öffentlicher und privater Bauwerke und Häuser seiner Vaterstadt trug er nach Kräften bei. Für die Gildebürgerschaft und ihre rechtsförmige Organisation engagierte er sich in besonderer Weise, indem er eigenhändig eine Abschrift des während der Täuferwirren in Mitleidenschaft gezogenen Statutenbuchs der Gesamtgilde verfertigte und so dafür sorgte, daß deren verbriefte Autonomie- und Mitwirkungsrechte am Verfassungsleben der Stadt auch weiterhin in allen Einzelheiten nachgewiesen werden konnten. [50] Von seinem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis zeugt die in zwei überdimensionalen Tafelbildern für die lebenden und verstorbenen Mitglieder seiner Familie in ihrer Pfarrkirche St. Marien Überwasser ganz im Stile adeliger Vorbilder errichtete Familien-Memoria. [51] Das künstlerische Denkmal, das er seiner Vaterstadt setzte, ist die ausführlich besprochene Stadtansicht, die Remigius Hogenberg in Kupfer gestochen und dem gemeinsamen Freund Leonhard Thurneysser gewidmet hat. Zu Recht charakterisiert ihn Paul Pieper als einen "homo universalis" der Renaissance. [52]

Dr. Bernhard Rottendorff gehörte wie Hermann tom Ring der münsterischen Bürgerschaft in zweiter Generation an. Wie dieser blieb er seiner Vaterstadt bis zu seinem Tode treu, diente ihr in vielen öffentlichen Ämtern und Funktionen und verbreitete durch seine Gelehrsamkeit und ärztliche Kunst seinen und ihren Ruhm weit über die Grenzen der Region hinaus. Nach dem Urteil Helmut Lahrkamps war er "wohl der bedeutendste Gelehrte, den Münster im 17. Jahrhundert aufzuweisen hatte". [53]

Zur vollen Wirksamkeit konnte sich sein vielseitiges Talent zweifellos während des Friedenskongresses entfalten. Mehr als dreieinhalb Jahre lang beherbergte er den schwedischen Residenten, den Freiherrn Schering Rosenhane, und dessen Frau in seinem Hause, das dadurch zum Mittelpunkt protestantischen Lebens in Münster wurde. Dessenungeachtet unterhielt er sehr persönliche Kontakte auch zum päpstlichen Nuntius und Friedensvermittler Fabio Chigi, der ihm das bekannte Scherzgedicht über den münsterischen Regen widmete. In ärztliche Behandlung begaben sich bei ihm ebenso Kurfürst Ferdinand, der ihn nach Bonn, und der kaiserliche Hauptbevollmächtigte Graf Trauttmansdorff, der ihn nach Osnabrück berief.

Als leidenschaftlicher Wortführer der Friedenssehnsucht gab er sich in einem am 29. April 1646 in lateinischer Sprache verfaßten Appell an die in Münster versammelten Kongreßbevollmächtigten der kriegführenden Parteien zu erkennen, die er aufforderte, endlich ihrer Christenpflicht zu genügen, das Blutvergießen und die Kriegsgreuel zu beenden und sich im Kampf gegen die das christliche Abendland bedrohende Türkengefahr zusammenzuschließen. [54] (Abb. 4)

Voller Stolz nennt er sich denn auch in einem Brief an einen Gelehrten-Kollegen, den Latinisten Johann Friedrich Gronovius in Deventer, den "inventor" der Schaumünzen, die die Stadt Münster auf den Abschluß des Friedens mit den von ihm verfaßten Inschriften "Pax optima rerum" bzw. "Hic mausoleum martis pacisque trophaeum" über der Stadtsilhouette Münsters prägen ließ. [55] (Abb. 5)


IV. Schluß



Entsprechend dem Hamburger Präliminarvertrag vom 25. Dezember 1641, durch den Münster zum Ort der Friedensverhandlungen zwischen Kaiser/Reich und Frankreich bestimmt worden war, wurde die Stadt durch den kaiserlichen Bevollmächtigten, den Hofrat Johann Krane, am 27. Mai 1643 in einer feierlichen Zeremonie auf dem Rathaus für die Dauer der Friedensverhandlungen von allen eidlichen Bindungen an den Landesherrn gelöst, zur Neutralität gegenüber den verhandelnden Kriegsparteien verpflichtet und beauftragt, für Unterkunft und Verpflegung der Kongreßteilnehmer zu sorgen. Der Rat trat nach Abstimmung mit den Gildevertretern und einem Ausschuß der "Gemeinheit" diesen Bestimmungen bei und übernahm die daraus erwachsenden Verpflichtungen. [56]

Es war somit die geschilderte republikanisch gesinnte, vorhöfische Stadtgesellschaft, die als Gastgeberin des Kongresses auftrat, und zwar ohne den bischöflichen Stadtherrn, der ja als Kurfürst von Köln selbst Kriegs- und Verhandlungspartei war. Die selbstbewußten und traditionsstolzen Gildebürger und Ratsherren, Künstler und Gelehrten vom Schlage eines Hermann tom Ring und Bernhard Rottendorff waren dazu offenbar aus eigener Kraft durchaus in der Lage. In ihrer Stadt mit den mächtigen Wehrbauten, den repräsentativen öffentlichen und privaten Gebäuden, den gepflasterten Straßen, den Märkten und gut funktionierenden Versorgungssystemen gelang es ihnen - natürlich unter Einbeziehung der Domherren-Kurien auf der Dom-Immunität und der Gebäude der anderen Immunitäts-Bezirke -, mehr als fünf Jahre lang den Delegationen aus ganz Europa den erforderlichen äußeren Rahmen für ihre schwierigen Verhandlungen zur Verfügung zu stellen. Das war wohl nur deshalb möglich, weil Münster sich Anfang der 1640er Jahre trotz der zurückliegenden Kriegsjahrzehnte noch auf dem Höhepunkt seiner topographischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung als städtisches Gemeinwesen befand. [57] Auch wenn die Stadt sich an Bevölkerungszahl, Ausdehnung und Wirtschaftskraft sicher nicht mit den großen Reichs- und Residenzstädten oder gar den Hauptstädten Europas messen konnte, kam ihr als "Metropolis Westphaliae" doch überregionale Bedeutung im Nordwesten des Reiches zu.



ANMERKUNGEN -  Siglenliste für Literaturangaben

1. Ediert, übersetzt und kommentiert durch Bücker 1961; zu Murmellius s. neuerdings Schönemann 1997, S. 26ff.; Lassalle 1997a.
2. Bücker 1961, S. 54.
3. S. dazu grundlegend und mit Nachweis der älteren Forschungsliteratur Laubach 1993.
4. Ein eindrucksvolles Gesamtpanorama der Stadtentwicklung in diesem Zeitraum bietet Po-chia Hsia 1989.
5. Für die Einwohnerzahl Münsters in der Mitte des 17. Jahrhunderts lassen sich nur Schätzwerte angeben; s. dazu zuletzt Jakobi 1993a.
6. Auch die Zahl der zu den einzelnen Delegationen gehörenden Personen sowie der sich insgesamt in der Stadt aufhaltenden Gäste läßt sich nur annäherungsweise ermitteln; s. dazu Lahrkamp 1993, S. 302ff.; Jakobi 1993a, S. 497.
7. Detmer 1900, S. 18-95; das ursprünglich vom Rat der Stadt unterstützte Werk blieb ungedruckt, weil es wegen der von Kerssenbrock an mehreren Stellen geübten scharfen Kritik am Verhalten des Rates und der Gilden bei der Einführung der Reformation und der Täuferherrschaft zu Auseinandersetzungen kam, die schließlich sogar zu seiner Ausweisung aus der Stadt führten; s. dazu die Ausführungen in der Einleitung, bes. S. 90*ff. und S. 282*ff.
8. Detmer 1900, S. 8-13: Cap. II "Monasteriensis urbis initia".
9. Kirchhoff/Pieper 1980 (Edition mit ausführlichen überlieferungskritischen und topographischen Kommentaren).
10. Edition mit überlieferungskritischen und topographischen Kommentaren bei Geisberg 1910, Tafel VII und Nr. 20, S. 42-49; zur Person Alerdincks s. auch Kirchhoff 1967.
11. Detmer 1900, S. 14.
12. Detmer 1900, S. 18-26, Cap. IV "De munitionibus urbis"; über die Befestigungsanlagen grundlegend Geisberg 1932, I, S. 109-216; Kirchhoff 1970.
13. Detmer 1900, S. 26-75, Cap. V "Templorum urbis descriptio"; zu den einzelnen Kirchen s. Kohl 1993, S. 535-573; zu ihrer Lage im Stadtgebiet s. Abb. 2.
14. Detmer 1900, S. 75-91, Cap. VI "De locis aedificiisque publicis ac privatis [...]"; über die Einzelheiten der Stadttopographie s. Kirchhoff 1993.
15. "Ut posteritas intelligat, in hac nostra urbe ea omnia nobis abunde suppetere, quae vel ad usum necessarium vel ad ornatum delitiasque pertinent [...] unde reipublicae nostrae maiestas et amplitudo facile deprehenditur"; Detmer 1900, S. 75.
16. "Quanta porro sit mundities ac nitor platearum publicarum et aedium privatarum huius urbis multis verbis persequi, quorsum attinet, cum tam in his quam aliis ornamentis omnium Westphalicarum urbium sit praecipua?"; Detmer 1900, S. 80.
17. Der einzige erhaltene Abdruck befindet sich im British Museum London; der Bruder Hogenbergs, der Kölner Verleger Frans Hogenberg, hat das Werk in verkleinerter Form in sein dem Kölner Domkapitular Georg Braun gewidmetes Werk "Civitates orbis terrarum" übernommen, dessen erster Band 1577 erschien und dann in zalreichen Auflagen weite Verbreitung fand; s. Kirchhoff/Pieper 1980, S. 14. Eine originalgetreue Reproduktion, die dann in Druck verbreitet wurde, fertigte 1980 Erhard Schmitt in Münster; s. Ausst.kat. Münster 1984, Nr. 133, S. 201-203.
18. S. Kirchhoff/Pieper 1965, S. 33ff.
19. Rekonstruktion der aus drei Betrachterpositionen zusammengefügten Perspektive mit Projektion der dargestellten Bauten auf den Stadtgrundriß bei Kirchhoff/Pieper 1965, S. 40ff.
20. HosCe reCens peperIt ConIVnCta MathesIs ApeLLI gnatos hosCe foVe qVIsqVIs es atqVe faVe (Dieses junge Werk schuf die Mathematik vereint mit Apellis, hege und pflege diese Frucht, wer du auch seiest); s. Kirchhoff 1967, S. 285f.; zur Entstehung des Plans ebd.; die beiden einzigen erhaltenen Exemplare befinden sich im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster und in Privatbesitz; eine originalgetreue Reproduktion, die dann im Druck verbreitet wurde, fertigte 1930 Heinrich Guttermann im städtischen Vermessungsamt Münster; s. Ausst.kat. Münster 1984, Nr. 177, S. 252f.
21. Geisberg 1910, S. 43; Geisberg war nicht bekannt, daß Hermann tom Ring als eigentlicher Autor zu gelten hat.
22. S. den Auszug aus dem Brief bei Geisberg 1910, S. 43.
23. Lediglich die Breite der Straßen und vor allem der Befestigungsanlagen ist überzogen; Geisberg 1910, S. 44; zur Verbindung Alerdincks mit dem eine Generation älteren Arzt und Karthographen Gigas sowie zur Mitwirkung des Ingenieurs Knickenberg bei der topographischen Aufnahme der Stadt s. Kirchhoff 1967, S. 283f. und 286.
24. Detmer 1900, S. 95-114, Cap. VIII "Divisio incolarum urbis"; s. dazu Jakobi 1993a, S. 497ff.
25. Zu beiden Architekturzeugnissen nach wie vor grundlegend Geisberg 1932ff., II, S. 348-404; Geisberg 1932ff., III, S. 256-272; zur Ratskammer neuerdings Dethlefs 1996; zum Krameramtshaus Kirchhoff 1989.
26. S. dazu neuerdings Jakobi 1997a; Sönnert 1997.
27. Zu Werk und Wirken s. Riewerts/Pieper 1955; zu Hermann ebd., S. 21-53; vgl. neuerdings die Beiträge im Ausst.kat. Münster 1996.
28. Zu Werk und Wirken s. Lahrkamp 1991.
29. Vgl. die zusammenfassende Wertung durch Po-chia Hsia 1989, S. 211ff.; Duchhardt 1993, S. 246: "Hätte Münster den Weg zur Reichsfreiheit erfolgreich - wie andere Städte - abschließen können, wäre das Paradigma einer gemischt-konfessionellen, toleranten und liberalen Reichsstadt durchaus vorstellbar gewesen."; vgl. auch Lahrkamp 1992.
30. S. Abb. 2.
31. Einen Überblick über Entwicklung und Struktur gibt Johanek 1993, S. 653ff.
32. Lethmate 1912, S. 34; vgl. Jakobi 1993a, S. 490ff.
33. Zur Abgrenzung der Leischaften und zur Verteilung der Stadtbevölkerung s. Abb. 3.
34. S. die in Anm. 25 genannte Literatur.
35. Zur Wertung der Wiederaufbauleistung der 1950er Jahre s. auch Prinz 1958; mit Beschreibung und Interpretation der im Zweiten Weltkrieg ausgelagerten und schon 1948 wiederhergestellten Inneneinrichtung der Ratskammer (S. 35ff.); vgl. die photographische Dokumentation des alten und des neuen Zustandes in der von der Stadt Münster 1988 herausgegebenen Broschüre "Das Rathaus" (S. 37).
36. Vgl. Dethlefs 1996, S. 51.
37. Dazu grundlegend Ehbrecht 1993, S. 91-144.
38. Kirchhoff 1989, S. 86ff.
39. Ursprünglich war es vom kaiserlichen Bevollmächtigten, dem Hofrat Johann Krane, für den Friedensvermittler Alvise Contarini vorgesehen; auf der vom Emdener Verleger Simon Beckenstein als Farbdruck verbreiteten vereinfachten Version des Alerdinck-Plans mit der Liste der Gesandten-Quartiere ist es als "Residentz-Hoff dero Hoch-Mögenden Herrn Generall Staten der vereinigten Niederländischen Provincien acht Abgesandten" bezeichnet; s. Kirchhoff 1989, S. 88ff.
40. Zu den Umbauten und Umnutzungen des 19. und 20. Jahrhunderts s. Jakobi 1989a und Korn 1989.
41. S. dazu die Anm. 26 genannten Beiträge.
42. Stadtarchiv Münster A II 20 Bd. 79 fol. 5 v; ediert durch Helmut Lahrkamp, in APW III D1, S. 237f.
43. Die Antwort der Gildeführer wird in der Ratssitzung vom 3. März 1649 behandelt; s. Stadtarchiv Münster A II 20 Bd. 79 fol. 13v.
44. Mandat Fürstbischof Ferdinands vom 8. April 1647; Abschrift im Stadtarchiv Münster, Beilage zu A VIII 226.
45. Wie Anm. 56.
46. S. dazu Ehbrecht 1993, S. 135ff.
47. Sie konnten nach vergeblichen Versuchen 1641/42 erst 1651/63 ein Grundstück erwerben und 1676 die erste Kirche errichten; s. Kohl 1993, S. 570.
48. Prinz 1958, S. 44.
49. S. dazu und zum folgenden die in Anm. 27 genannte Literatur; eine Genealogie der Gesamtfamilie im Beitrag von Kirchhoff 1996.
50. Das "Rote Buch" des Schohauses; Stadtarchiv Münster A XI 53; dazu zuletzt Ausst.kat. Münster 1996, Nr. 74, S. 386f.
51. Ausst.kat. Münster 1996, Nr. 34, S. 551f. und 72, S. 574f.
52. Pieper 1993, S. 416; seinem Freund Thurneysser hat Hermann tom Ring ein eigenes Portrait gewidmet: Ausst.kat. Münster 1996, Nr. 54, S. 566.
53. Lahrkamp 1991, S. 47.
54. Zuerst publiziert in der Widmung eines von ihm edierten Werkes an Franz Wilhelm von Wartenberg vom 29. April 1646; s. Lahrkamp 1975, S. 118-128; s. Abb. 4.
55. S. Lahrkamp 1991, S. 21f. s. Abb. 5.
56. APW III D 1, Nrn. 19 und 20, S. 24ff.; grundlegend dazu Dickmann 1959, S. 103ff. und S. 189ff.; vgl. Lahrkamp 1993, S. 301ff.
57. Das in den berühmten Gedichten Fabio Chigis gezeichnete und bis heute immer wieder kolportierte Bild von der Stadt des ständigen Regens, der offenen Misthaufen und der Schweine auf den Straßen, des ungenießbaren Bieres und Schwarzbrots und der sonstigen Beschwernisse ist also keineswegs als realistisches Stadtportrait anzusehen; die Gedichte müssen vielmehr von ihrer Intention als heiter-ironische Scherzgedichte an die gelehrten Freunde (u.a. Bernhard Rottendorff) gewertet werden; s. neuerdings die Textedition mit Kommentar und Übersetzung in Galen 1997.


QUELLE     | 1648: Krieg und Frieden in Europa | Bd. 1, S. 381-389
PROJEKT    1648 - Westfälischer Friede

DATUM AUFNAHME2005-10-31
AUFRUFE GESAMT6233
AUFRUFE IM MONAT178