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Carl Severing (1875-1952) / Düsseldorf, Landtag Nordrhein-Westfalen - Archiv
FAMILIESevering
VORNAMECarl
TITELDr.-Ing. e. H.
BERUF / FUNKTIONPolitiker, Abgeordneter, preußischer Innenminister, Reichsinnenminister


GESCHLECHTmännlich
GEBURT DATUM1875-06-01   Suche
GEBURT ORTHerford
KONFESSIONref.
EHEPARTNER1899: Twelker, Emma
TOD DATUM1952-07-23   Suche
TOD ORTBielefeld


VATERSevering, Louis
MUTTERTwelker, Johanne


BIOGRAFIE"Es wäre unaufrichtig, wenn ich nicht gestehen wollte, daß ich vor einigen Jahrzehnten vom Leben mehr an bleibenden Ergebnissen erwartet habe." So stellte sich Carl Severing im letzten Abschnitt seiner ebenso inhalts- wie aufschlußreichen Lebenserinnerungen, die 1950 erschienen sind, selbst die Frage nach der Schlußbilanz seines Lebens, nach den Aktivposten, die die Mühen und Sorgen der voraufgegangenen Jahrzehnte gelohnt haben. "Heute bescheide ich mich mit dem Bewußtsein, in den Kämpfen der Arbeiterklasse um politische, soziale und kulturelle Gleichberechtigung mit dabei gewesen zu sein, mitgeholfen zu haben an der Lösung der Riesenaufgabe, aus dem Heloten und Maschinensklaven den selbstbewußten Arbeiter zu machen... Den ganzen Menschen im Arbeitsjoch herauszuführen aus den Schattenseiten des Lebens, ihn wie alle anderen mit dem Sonnenlicht des Wissens und der Bildung vertraut zu machen, ihn gleichberechtigt und darum auch gleichverpflichtet einzureihen in die Produktion und die Gesellschaft - das war die große Aufgabe der Arbeitervereinigungen, denen ich von frühester Jugend angehört habe und für die ich heute noch im Rahmen der mir verbliebenen Kräfte tätig bin." Die zurückhaltende Bescheidenheit dieser Aussage vermag in keiner Weise die Härte des Kampfes widerzuspiegeln, den Severing zeit seines politischen Lebens zu bestehen hatte. Er konnte, als er seine Memoiren schrieb, auf ein in dieser Intensität sicherlich ungewöhnliches Leben zurückschauen - durch und durch sozialdemokratisch, in erster Linie der Partei und ihren Aufgaben gewidmet und schließlich der Republik von Weimar zugewandt, die er mitbegründet hatte. In seinem Lebensweg spiegelt sich ganz besonders die politische Entwicklung der Sozialdemokratie, eine Entwicklung, die von der politischen Verteufelung durch bürgerlich-konservative Parteien bis hin zur anerkannten Regierungsfähigkeit reichte und die zugleich etwas vom Bewußtwerdungsprozeß innerhalb der Arbeiterschaft auszusagen vermag. Wenn Severing dem ersten Band seiner Erinnerungen den Untertitel "Vom Schlosser zum Minister" gegeben hat, dann steckt in einer solchen Formulierung die ganze Geschichte vom Eintritt der Arbeiter in die politische Öffentlichkeit, die Geschichte politischer Emanzipation in einer Zeit, in der der Wechsel vom Schraubstock zum Ministersessel nicht zu den vorgezeichneten politischen Karrieren zählte.

1.

Carl Severing wurde am 01.06.1875 in Herford als Sohn eines Zigarrenarbeiters und einer Weißnäherin geboren und lernte bald die Nöte und Entbehrungen seiner Klasse kennen. Von der Armenschule in die Bürgerschule übernommen, ersetzte der Junge durch großen Fleiß und Interesse, was ihm an sozialen Voraussetzungen fehlte. Es war sicher nicht alltäglich, wenn der reformierte Herforder Pfarrer Kluckhohn den jungen Severing wegen seiner Beschlagenheit in religiösen Dingen zum Studium der Theologie vorschlug. Dieser Pfarrer Kluckhohn, der sich gerade um die Armen seiner Pfarre kümmerte, ist für Severing auch später noch die Idealgestalt eines Gottesdieners geblieben; sie hob sich günstig gegenüber anderen Geistlichen ab, denen Severing noch als junger Mann im ersten politischen Kampf begegnete.

Aber er folgte dem Vorschlag des Pfarrers nicht. Seine theologischen Kenntnisse führt er übrigens in den Lebenserinnerungen nicht nur auf das eigene Interesse für religionsgeschichtliche Fragen, sondern auch auf den Stundenplan der Herforder Bürgerschule zurück, der sechs Wochenstunden Religion vorsah. Severing zeigte sich skeptisch gegenüber einem solch hohen Anteil des Religionsunterrichts, und aus solcher Skepsis spricht die frühe Erfahrung eines Mannes, der aufgrund der Lebensvoraussetzungen seiner Klasse die Erfordernisse einer schulischen Vorbereitung an ganz konkreten Existenzfragen orientieren mußte.

Severing, obwohl von schmächtigem Körperbau, ging schließlich zu einem Schlosser in die Lehre und legte in diesem Handwerk die Gesellenprüfung ab. Fragen des Arbeiterschutzes, die Verkürzung der Arbeitszeit, Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet und nicht zuletzt die Forderungen der Pariser Sozialistenkonferenz von 1889 haben den in Familie und Schule im Sinne der Monarchie erzogenen Severing schon 1892 dem Ortsverein Herford des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes zugeführt. Ein Jahr später folgte der Beitritt zur Sozialdemokratie, deren Ortsverein er mit aus der Taufe hob.
"Daß ich nicht durch die Marxschen Lehren zur Sozialdemokratie gekommen bin, sage ich..., um der falschen Behauptung entgegenzutreten, daß die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Deutschlands nicht aus den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedürfnissen der Arbeiter selbst und nicht aus ihren Willensregungen entstanden, sondern das Werk einiger weltfremder Theoretiker und Agitatoren sei. Die Beweggründe, die mich zum Anschluß an die Gewerkschaft, zum Eintritt in die Sozialdemokratische Partei bestimmt haben, nämlich eine unmittelbare Besserung der Lebenshaltung der Arbeiter durch ihren Zusammenschluß und ihren Kampf gegen jegliche Bedrückung herbeizuführen, waren auch für Millionen anderer deutscher Arbeiter maßgebend. Aber sie waren mehr vom Gefühl, vom Willen zur Freiheit und zum wirtschaftlichen Aufstieg als von wissenschaftlicher Erkenntnis eingegeben."

Severing stand schon bald allzu intensiv in der tagespolitischen Auseinandersetzung, als daß er sich mit theoretischer Problematik hätte befassen können. Sein auf den konkret faßbaren Nutzen ausgerichtetes gewerkschaftliches Denken fand eben nur zögernd Zugang zu theoretischen Schriften, etwa des Karl Marx. So war für ihn das ganze Dilemma der Partei, die Spannung zwischen täglicher parlamentarischer Tätigkeit und theoretischer Konzeption, niemals eine echte Konfrontation. Auf den Parteitagen der Sozialdemokratie vor allem im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende wie auch auf den internationalen Kongressen der II. Internationale erlebte er die ganze Diskussion um Theorie und Praxis der Partei, ohne jemals in jene Zwiespältigkeit zu geraten, die in diesen Jahren doch einen Parteiführer wie August Bebel charakterisierte. Zu jung, um noch aus dem Erlebnis der frühen Arbeiterbewegung oder auch der Zeit des Sozialistengesetzes schöpfen zu können, verfolgte Severing die vornehmlich doch gewerkschaftlichen Ziele der Arbeitszeitverkürzung, der Lohnerhöhungen und des Arbeiterschutzes im Rahmen der institutionellen Möglichkeiten.

Seinen ersten Erfahrungsschatz sammelte er auf kommunaler Ebene, nachdem er im November 1905 ein Mandat in der Bielefelder Stadtverordnetenversammlung errungen hatte. Zu dieser Zeit war er in der Stadt schon kein Unbekannter mehr. Ein bürgerliches Blatt schrieb zur Zusammensetzung der sozialdemokratischen Fraktion in Bielefeld:
"Das markanteste Gesicht weist Severing auf... Er ist vielleicht die interessanteste Erscheinung der Bielefelder Sozialdemokratie überhaupt. Ungemein fleißig, ungemein belesen, hat er dem Metallarbeiter-Verband den Stempel des Individuellen aufgedrückt. Als Redner verbindet er Schärfe mit Begeisterung. Dem Manne folgen die Massen."

Und eben diese gemeindliche Kleinarbeit, die für Severing vornehmlich in sozialpolitischer Tätigkeit bestand, bot gewiß nicht den Rahmen, um bei jeder Gelegenheit plakativ den revolutionären Charakter der internationalen Sozialdemokratie hervorheben zu können. Seiner Entscheidung für die parlamentarische Mitarbeit als einzige Möglichkeit zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft lag die Anschauung zugrunde, daß die materialistische Geschichtsauffassung als Erkenntnis-Dogma der Partei mit dem Leben und den Erfordernissen in Partei und Gewerkschaften nicht in Einklang zu bringen war.

Diese Ansicht, in der Begegnung mit dem Gewerkschaftsführer Carl Legien noch gefördert, erfuhr für Severing ihre endgültige Bestätigung, als er selbst im Jahre 1907 als sozialdemokratischer Abgeordneter des Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück in den Reichstag eingezogen war. Neben Gustav Stresemann, Matthias Erzberger und dem Sozialdemokraten Ludwig Frank zählte er zu den jüngsten Volksvertretern des Plenums. In seiner parlamentarischen Arbeit wurde er in dieser Phase geprägt von dem Rheinpfälzer Sozialdemokraten Eduard David und dem Bergarbeiterführer Otto Huë, dessen Hauptarbeitsfeld das rheinisch-westfälische Industriegebiet war. Mit beiden verband ihn bald eine enge Freundschaft. Zur ersten Rede Severings im Reichstag in Berlin schrieb die christlich-soziale Zeitung "Das Reich":
"Einer der ersten Redner war heute der neugewählte Abgeordnete für Bielefeld, der sozialdemokratische Gewerkschaftssekretär Carl Severing. Er hätte sich doch wenigstens heute einmal die Haare kämmen können. So stand der 31 Jahre alte Struwwelpeter als echter Proletarier da und brachte verschiedene Klagen vor."

Wiewohl er in den Wahlen von 1912 sein Mandat wieder verlor, hatte die kurze Zeit als Reichstagsabgeordneter doch genügt, um Severing vollends von der Bedeutung der parlamentarischen Mitarbeit zu überzeugen. Sie sollte vor allem diejenigen zur verantwortungsbewußten Tätigkeit verpflichten, die nicht mehr an den Zusammenbruch des Kapitalismus glaubten.

2.

Seit Januar 1912 war die sozialdemokratische Fraktion mit 110 Mandaten die stärkste parlamentarische Gruppe im Reichstag. Sicherlich täuschte sich Severing aber über den internationalen Wert und das Ansehen der Reichstagsfraktion im Ausland, wenn er sich von der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten im August 1914 einen moralischen Nutzen für die deutsche Sache versprach. Genau das Umgekehrte war der Fall. Vor dieser erheblichen Fehleinschätzung hätte ihn eigentlich schon die Rede des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès warnen müssen, der bereits 1904 auf dem Amsterdamer Kongreß der II. Internationale der sozialdemokratischen Fraktion im deutschen Reichstag politische Ohnmacht vorgeworfen hatte. Andererseits bleibt seine Spekulation verständlich bei einem Mann wie Severing, der vornehmlich in innenpolitischen Kategorien dachte und vermutlich glaubte, aus der zahlenmäßigen Stärke der Fraktion deren internationale Wertschätzung ablesen zu können.

Im Ersten Weltkrieg entwickelte Carl Severing in Bielefeld höchste publizistische und lokalpolitische Aktivität. Auf einer Massenversammlung der Partei am 28.07.1914 warnte er zunächst einmal vor den kaum absehbaren Folgen eines Krieges. Ein solcher Krieg konnte, war das Spiel der Bündnisse zwischen den Staaten erst einmal in Bewegung geraten, nur ein Weltkrieg sein, in dem "Millionen von Volksgenossen zur Schlachtbank geführt" würden. Deutlich unterstrich Severing die Notwendigkeit einer nach Westen orientierten Außenpolitik des Reiches. Ein Bündnis zwischen Deutschland, Frankreich und England, so meinte er, könnte den Weltfrieden sichern. Seiner Westorientierung entsprachen eine scharf akzentuierte Ablehnung deutscher Nibelungentreue gegenüber Österreich sowie die Warnung vor dem autokratischen System des russischen Zarismus. Mit dieser Abwehr des Zarismus lag Severing genau auf der Parteilinie, von der aus sich die für viele Fraktionsmitglieder des Berliner Reichstages ohne Zweifel schwierige Frage der Kreditbewilligung leichter entscheiden ließ. Auch Severing hat in dem Bielefelder Parteiorgan "Volkswacht" versucht, die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten aus dieser antizaristischen Motivation heraus zu rechtfertigen:
"Unser Herz weiß nichts von Kriegsbegeisterung, es ist erfüllt mit tiefem Abscheu vor dem Kriege; aber wenn kein Opfer mehr hilft, um das Verhängnis aufzuhalten, wenn wir uns dann der namenlosen Schändlichkeiten erinnern, die der Zarismus an seinen eigenen Volksgenossen verübt hat, wenn wir uns weiter vorstellen, die Schergen dieser barbarischen Gewalt könnten als trunkene Sieger unser Land betreten, dann dringt ein Schrei über unsere Lippen: Nur das nicht!"

Und nach der Bewilligung teilte er mit, die Zustimmung sei als Losungswort zu begreifen, das die bloße Pflichterfüllung des an der Front stehenden Soldaten zum "Siegeswillen des sozialistischen Verteidigers", zum Verfechter der nationalen Unabhängigkeit und der westeuropäischen Kultur steigern solle: "Wir, die wir niemandes Knechte sein wollen, wollen nicht Knechte des Zaren werden."

Schon Ende 1914 war die Spaltung der Sozialdemokratischen Partei abzusehen, die 1917 eintrat. Wiewohl Severing ein unbeugsamer Verfechter der Parteieinheit war, hat er doch die "Sonderbündler" ziehen lassen, weil er angesichts der parteiinternen Opposition eine zunehmende Zerrüttung der Partei befürchtete. Die Spaltung erschien ihm als das kleinere Übel, zumal er in der Sozialdemokratie eine wesentliche Kraft der Landesverteidigung sah, bei einer totalen Aufsplitterung und Zerrüttung aber Schlimmes für Land und Volk befürchtete. Sicherlich nicht ohne Genugtuung weist er darauf hin, daß in seinem Bezirk, dem Bezirk östliches Westfalen mit den beiden Lippe, die Opposition erst gegen Ende des Krieges aufgetreten und relativ schwach geblieben sei. Er führt das auf die unermüdliche Fürsorge der Parteileute für die Soldaten und die Daheimgebliebenen zurück.

Wie überall drängte sich auch in Ostwestfalen tatsächlich eine Reihe von kriegsbedingten Sorgen und Nöten auf, die es zumindest zu lindern galt, wenn sie schon nicht ganz behoben werden konnten; Severing, Stadtverordneter und Sprecher der Fraktion in Kriegswirtschaftsfragen, stand im Zentrum der lokalpolitischen Arbeit und nahm zugleich noch die Bürde der persönlichen Fürsorge und Bemühung um Familien von Frontsoldaten auf sich. Gleichzeitig entwickelte er eine hohe Versammlungsaktivität, die notwendig war, da sich Zweifel am Sinn des Krieges, Skepsis gegenüber den deutschen Absichten ausbreiteten. Er selbst übernahm die Aufgabe, allerorten auftauchendes Unbehagen zu beschwichtigen, was ihm schließlich sogar den Beinamen "Bremser" eintrug - und das war nicht freundlich gemeint. Es ist für den Sozialdemokraten Severing kennzeichnend, daß er auf jeden Fall Sozialdemokratie und Arbeiterschaft vom Odium der Vaterlandslosigkeit befreien wollte und das Wohl von Land und Volk jenen nachgerade als Warntafel entgegenhielt, die aus dem Kriege sozusagen aussteigen wollten. "Wehe dem Volk", so schloß er sich dem Ausspruch seines Parteigenossen Friedrich Stampfer an, "das seine Waffen fünf Minuten zu früh an die Wand stellt." Das hieß für ihn allerdings auch, solche Politiker und Militärs zurückzuweisen, die den Annexionismus als Parole auf ihre Fahnen schrieben. Er selbst meinte, sich mit dieser Haltung durchgesetzt zu haben, wenn er schrieb:
"Die Abwehr der sinnlosen Agitation für Weiterführung des Krieges um jeden Preis hatte den Erfolg, daß in den kritischen Tagen, die bald einsetzten, die Arbeiterschaft meines Wirkungskreises die musterhafteste Disziplin hielt. Auch als die ersten Nachrichten von der Auflehnung der Marine in Kiel eintrafen, blieb alles ruhig und besonnen."


3.

Die Revolution erlebte Severing in Bielefeld. Sie verlief hier in der Tat ruhig, und Severing hat dazu ein gut Teil beigetragen. Es ging ihm nicht zuletzt darum zu demonstrieren, daß die Sozialdemokratie fähig war, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Deutsche Arbeiter seien keine Plünderer und Mörder, ließ er wissen, und scharf lehnte er alle Gelüste nach einer Diktatur des Proletariats ab. Die Verwirklichung sozialer Ziele durch das Parlament war in dieser Übergangsphase und dann in der ersten deutschen Republik, deren Geschichte eng mit dem Namen Severing verbunden ist, die eigentliche Mitte seines politischen Wollens. Diese Zeit mit ihren Revolutionswirren, Streiks und Putschen, ihrer Radikalisierung links und rechts konfrontierte ihn besonders mit den Fragen der parlamentarischen Möglichkeiten und in enger Verbindung dazu mit dem Problem des Republik-Schutzes. Severing, den die "Vossische Zeitung" als einen Vertreter von vier Jahrzehnten gewerkschaftlicher Disziplin, Verantwortungsfreudigkeit, Nüchternheit und Gemeingeist apostrophierte, führte nicht nur die Bielefelder Revolution in ruhige Bahnen, er sorgte auch für die Beilegung des großen Eisenbahnerstreiks in Hamborn Anfang 1920 und war schließlich von Münster aus als Reichskommissar tätig, um nach dem Kapp-Putsch Ruhe und Ordnung im aufständischen Ruhrgebiet wiederherzustellen.

Mit der Übernahme des preußischen Innenministeriums in der Regierung Otto Braun im Frühjahr 1920 begann für Severing die Zeit fast ununterbrochener ministerieller Tätigkeit, die erst mit dem Papen-Putsch vom Sommer 1932 endete. Es waren anfänglich die Jahre der Inflation, der Ruhrbesetzung, des Separatistenaufstandes im Rheinland, der mitteldeutschen Unruhen und der oberschlesischen Grenzkämpfe, aber es war auch die Zeit der Festigung der Republik und des republikanischen Staatsgedankens. Daß die Funktionsfähigkeit der Weimarer Republik weitgehend von der Staatstreue ihres Beamtenkörpers abhing, ließ sich für Severing an den Ereignissen des Kapp-Putsches vom 13.03.1920 ablesen. Er bewies durchaus Sinn für politische Realitäten, als er die Beamtenschaft von jenen Elementen säuberte, die Kapp unterstützt hatten - eine Maßnahme, die auch vor Parteifreunden wie dem ostpreußischen Oberpräsidenten August Winnig nicht haltmachte, ihm aber dennoch die verleumderische Kritik der Rechtspresse eintrug. Zu dem politischen Erfordernis des Tages trat sein ausgeprägter Sinn für Rechtlichkeit, der es ihm untersagte, eine Personalpolitik nach dem Parteibuch zu führen, und somit auch kategorisch gebot, die ehemals konservative Ausschließlichkeit der preußischen Beamtenschaft zu überwinden. So ist die Öffnung des preußischen Verwaltungskörpers gewiß sein Verdienst und neben der Reorganisation der Polizei wohl als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Festigung der Republik anzusehen.

In der politischen Öffentlichkeit sprach man damals von "System Braun-Severing", Dazu schreibt jedoch Hagen Schulze, der in seiner Braun-Biographie Carl Severing sehr plastisch gegen Braun absetzt:
"Vorerst in den Monaten nach dem Kapp-Putsch und noch ein paar Jahre länger, blieb es allerdings bei dem 'System Severing'. Das lag daran, daß nach außen hin das gesamte Regierungsprogramm Otto Brauns, die Schaffung und Erhaltung des demokratischen Preußens, in der Person Severings inkarniert erschien; Severing führte es nicht nur, im Rahmen seiner Möglichkeiten, aus, sondern er vertrat es auch glänzend und mit dem vollen Einsatz seiner rhetorischen, schriftstellerischen und darstellerischen Fähigkeiten. Er war ein Mann, der die Phantasie der Republikaner befeuern konnte und der das auch gerne tat, denn Eitelkeit war ihm nicht fremd."

In der deutsch-nationalen "Täglichen Rundschau" hieß es bei Friedrich Hussong: "Alle Wege in Preußen führen zu Severing."

Allerdings erhob sich die Frage, ob die demokratisch orientierte Rechtlichkeit des preußischen Innenministers Severing, die streng auf dem Boden der Verfassung blieb und sich im Rahmen der institutionellen Gegebenheiten bewegte, für den Schutz der Republik ausreichte. Für Severing entschied sich die Frage insofern gleich, als sein institutionelles Denken und (damit verbunden) sein fester Glaube an staatliche Autorität keinen Raum ließen für außerstaatliche Schutzformationen. Von daher war auch sein Verhältnis zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der Kampforganisation der SPD, festgelegt. Zwar saß Severing im Reichsausschuß des Verbandes, doch kann diese Tatsache nicht über seine grundsätzliche Ablehnung der Organisation als paramilitärischer Vereinigung hinwegtäuschen. Dem Vorsitzenden Otto Hörsing, Oberpräsident in Magdeburg, schrieb er einmal: "Die öffentliche Ruhe und Ordnung wird am sichersten dadurch gewährleistet, daß die Machtmittel des Staates gestärkt werden, daß er dagegen jede ungebetene Hilfeleistung ablehnt."

Die mit Ordnungsdenken verbundene Skrupelhaftigkeit des Innenministers hat sich allerdings dort als unzulänglich erwiesen, wo von radikalen Kräften Recht und Billigkeit außer Kurs gesetzt wurden. 1926 schied Severing aus der preußischen Regierung aus, aber 1928 berief ihn Reichskanzler Hermann Müller als Innenminister, und Severing kündigte optimistisch vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik an. Doch der Angriff der Rechtskreise gegen die Republik, in seiner ersten Phase gegen die preußische Regierung Braun gerichtet, der Severing seit 1930 wieder angehörte, war schon lange vorbereitet. Beim Papen-Putsch, dem Handstreich, mit dem der neue Reichskanzler Franz von Papen am 20.07.1932 die preußische Regierung übernahm, zeigte sich das ganze Dilemma des Innenministers und seiner Partei. Offensichtlich war deren Haltung nur noch vom Gedanken an die Legalität bestimmt und zugleich von einem Gefühl der Machtlosigkeit dirigiert, wobei kritisch zu fragen wäre, ob diese Machtlosigkeit tatsächlich bestanden hat. Als eines der ersten Opfer des Staatsstreiches vom 20.07.1932 sah Severing, wie die von ihm und seiner Partei für unantastbar gehaltene Rechtsgrundlage der Verfassung von den Kreisen um Franz von Papen und Kurt von Schleicher kaum als Hinderungsgrund für illegale Aktionen empfunden wurde. So fruchtete es auch wenig, daß Severing es Papen nicht ersparen wollte, den Weg des Verfassungsbruchs zu Ende zu gehen. Er werde nur der Gewalt weichen, ließ er den Reichskanzler wissen, und tat damit den ersten Schritt zu einer Demonstration des allgemeinen Machtverlustes bei den Trägern der parlamentarischen Demokratie.


4.

Die unter den neuartigen Umständen sicherlich deutliche Unvollständigkeit der eigenen Konzeption, nach der die politische Abwehr in erster Linie auf die staatlichen Institutionen beschränkt blieb, setzte der politischen Laufbahn Severings ein kaum angemessenes vorläufiges Ende. Sie war insgesamt wohl doch erfolgreich gewesen. Es folgten die Jahre des Dritten Reiches, in denen Severing im wesentlichen unbehelligt blieb. Er sei lediglich im Wartestand gewesen, schrieb er in seinen Erinnerungen. Nach dem Zusammenbruch von 1945 war es vor allem der sozialdemokratische Verlagsleiter Emil Groß in Bielefeld, damals noch ein junger Parteimann, der den alten Sozialdemokraten Carl Severing dafür gewann, sich am politischen Wiederaufbau zu beteiligen - am Neuaufbau des Staates, aber auch an dem der Partei. Diese letzte Phase seines Lebens geriet zumindest im ersten Abschnitt zu einer Zeit herber Enttäuschungen. Severing war den Militärbehörden im positiven Sinne kein Unbekannter. Sowohl die ersten amerikanischen Kampftruppen als auch die Vertreter der britischen Militär- und Besatzungsbehörden wandten sich an ihn um Rat in Fragen der gerade für die ersten Monate so überaus wichtigen Personalpolitik. Oberpräsidenten und Ministerpräsidenten in der britischen Zone erwogen, ihn zum Generalsekretär der ständigen Konferenz der Länderchefs zu wählen. Auch der britische Intelligence-Service befaßte sich in seinen allgemeinen politischen Übersichten mit Severing und dessen Stellung innerhalb der neugegründeten Sozialdemokratie. In einem Bericht vom Dezember 1945 galt er als Vertreter der alten Weimarer Schule der SPD, als Mann der Traditionalisten. Ihm wurde Kurt Schumacher gegenübergestellt, dessen größerer Dynamik Carl Severing wohl auf die Dauer unterliegen müsse. Aber es war wohl kaum so, daß sich Severing in Konkurrenz zu Schumacher sah, was für den entgegengesetzten Fall nicht mit der gleichen Sicherheit gesagt werden kann.

Indes: der britische Nachrichtendienst verfaßte seine Analyse zu einer Zeit, da die anfänglich starke Stellung Severings in der politischen Öffentlichkeit einen heftigen Stoß erhielt. Kommunistisch gelenkte Zeitungen sprachen von einer kompromißfreudigen Haltung Severings gegenüber der NSDAP, wollten sogar wissen, er sei dieser Partei beigetreten, und verurteilten ihn, weil er in den zwölf Jahren des "Dritten Reiches" eine Pension bezogen habe. Tatsächlich war der in Bielefeld äußerst populäre Severing von den Nazis in Ruhe gelassen worden, aber er hatte nur eine kleine Beihilfe erhalten, und diese erst nach harten Kämpfen vor Gericht. Als Mitglied des Metallarbeiter-Verbandes war er 1933 korporativ in die Deutsche Arbeitsfront, die Zwangs- und Einheitsorganisation der Arbeitnehmer, aufgenommen und in deren Kartei geführt worden. Von Parteibeitritt oder kompromißfreudiger Haltung konnte also keine Rede sein.

Gleichwohl schlugen solche Berichte sowohl bei der eigenen Partei als auch bei den Militärbehörden durch, die daraufhin seine Ernennung zum Mitglied des westfälischen Provinzialrats nicht genehmigten. Und es ist sicher nicht ohne Interesse, daß ihm damals britischerseits der Vorwurf gemacht wurde, er habe in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft zu wenig Risiko auf sich genommen. Ähnlich dachten auch einige Kreise in der Sozialdemokratischen Partei, für die Severing als ein Vertreter jener Generation galt, die die Machtübernahme Hitlers kampflos geduldet hatte. Der Anfeindungen jedenfalls gab es genug, um Severing gegenüber Erich Ollenhauer, dem späteren Parteivorsitzenden, im Dezember 1945 den Ausspruch des Berliner Malers Max Liebermann zitieren zu lassen, man könne zuweilen nicht soviel essen, wie man erbrechen möchte.

Die Enttäuschungen, die nicht zu übersehen sind, hielten Severing aber nicht davon ab, weiter in der Partei zu arbeiten. Am 28.04.1946 wurde er immerhin einstimmig zum Vorsitzenden des Bezirks östliches Westfalen gewählt, und nach den ersten Landtagswahlen im neuen Land Nordrhein-Westfalen vom 20.04.1947 zog Severing, nun fast schon ein halbes Jahrhundert lang Parlamentarier, in den Landtag ein. In dieser Zeit warb er für den Gedanken einer sozialdemokratischen Volkspartei, zu der auch die christlich orientierten und gebundenen Arbeiter finden konnten. Das war ein Plan, den er schon in der nationalsozialistischen Periode mit dem ehemaligen Krefelder Polizeipräsidenten und Zentrums-Mann Wilhelm Elfes besprochen hatte.

Nach fünfjähriger Tätigkeit im neuen Landtag starb Carl Severing am 23.07.1952 im Alter von 77 Jahren in Bielefeld. In der Landespolitik hatte er sich vor allem mit dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau der Region beschäftigt, und er stand mit seinem reichen Erfahrungsschatz manch jungem Abgeordneten im Landtag zur Seite. In einem Aufruf zu den ursprünglich schon für Ende 1945 vorgesehenen ersten Kommunalwahlen nach dem Kriege hatte Severing noch einmal sein ganzes politisches Credo zum Ausdruck bringen können:
"Wir wollen eine neue Welt schaffen, die Welt der Demokratie; Demokratie aber nicht nur in Staatsform und Staatsverwaltung, sondern Demokratie auch in unserer Geisteshaltung. Wenn der Wahlkampf beginnt, dann wollen wir ehrlich um die Wege streiten, die uns zu dem gemeinsamen Ziel: Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Wohlstand für alle! führen sollen... Wer von der Werbekraft der eigenen Ideen überzeugt ist, der hat es nicht nötig, die Sache seines Gegners herabzusetzen."

In dem schon einmal erwähnten Schlußabschnitt seiner Lebenserinnerungen schrieb Severing, Freunde hätten ihn häufiger mitten im Kampfgewühl darauf hingewiesen, er möge doch einmal nicht nur an die politische Sache, sondern auch an sich selbst denken. Einige Male sei auch das Wort vom Undank der Welt gefallen. Severing hat darauf eine für ihn überaus typische Antwort gefunden. Er zitierte Bismarck, bei dem es heißt: "Ich habe nie in meinem Leben auf Dank Anspruch gemacht - ich habe ihn nie erwartet, ich habe ihn auch nicht verdient, denn ich habe niemals um Dank gehandelt, sondern einfach meine Schuldigkeit getan. Ich habe gelernt, ohne den Dank der Welt zu leben, ich habe ihn erworben und wieder verloren, ich habe ihn wiedergewonnen und wieder verloren - ich mache mir gar nichts daraus, ich tue einfach meine Pflicht!" Carl Severing hat nach eben diesem Prinzip gelebt. Sein ganzes arbeitsreiches Leben stand im Dienst einer Klasse und ihrer Organisation, aber auch im Dienst eines Staates, den zu schützen ihm, dem Mitbegründer, aufgetragen war. Sein intensiv gefühltes politisches Engagement schloß ein, daß er nach den Jahren des Nationalsozialismus und der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges den Faden wieder aufgriff und zusammen mit anderen "Männern der ersten Stunde" den Wiederaufbau in Angriff nahm.


Das Porträt Carl Severing erschien zuerst eicht verkürzter Form als WDR-Sendung (16.07.1977), dann gedruckt in "Raum und Politik", Beiträge zur neueren Landesgeschichte des Rheinlandes und Westfalens, Bd. 6, hrsg. v. W. Först, Köln u. Berlin 1977. Der Autor weist darauf hin, daß in den Beständen des Public Record Office in Kew bei London noch zahlreiche Daten zur Stellung Severings in der Nachkriegspolitik Nordrhein-Westfalens zu finden sind. An Literatur hat er benutzt: Erich Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: E. Matthias/R. Morsey, Das Ende der Parteien 1933 (Düsseldorf 1960); Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung (Frankfurt 1977); H. Schulze, Anpassung oder Widerstand? Aus den Akten des Parteivorstandes der deutschen Sozialdemokratie 1932/33 (Bonn-Bad Godesberg 1975); C. Severing, 1918/19, Im Wetter- und Watterwinkel, Aufzeichnungen und Erinnerung (Bielefeld 1927); C. Severing, Mein Lebensweg, 2 Bde. (Köln 1950).

Horst Lademacher
 
AUFNAHMEDATUM2004-03-09
 
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Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Ort1.1   Nordrhein-Westfalen (NRW) <1946 - >
1.6   Deutsches Reich <1918-1945>
2.1   Bielefeld, Stadt <Kreisfr. Stadt>
2.30   Brandenburg/Preußen, KFtm. / KgR. < - 1918>
Sachgebiet3.7.3   Minister, Mitarbeiter
3.19   Politikerin/Politiker, Abgeordnete/Abgeordneter
DATUM AUFNAHME2004-01-27
DATUM ÄNDERUNG2010-12-16
AUFRUFE GESAMT11060
AUFRUFE IM MONAT808