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Schulverwaltung, Bildungspolitik und Schulentwicklung 1918-1945


 
 
 
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Westfalen eine vielfältige Bildungslandschaft auf. Gut ausgebaute, geschlecht- und schichtspezifisch ausgerichtete Schulsysteme bestanden nebeneinander; untereinander waren sie nur lose verbunden. Land- und Stadtschulwesen näherten sich einander an. Die städtischen Volksschulen hatten mittlerweile ein Niveau erreicht, das demjenigen von kostenpflichtigen Vorschulen mittlerer oder höherer Schulen entsprach und auch bürgerliche Kreise veranlasste, ihre Kinder in öffentliche Schulen zu schicken. 1920 kamen in Preußen bereits mehr als die Hälfte aller Sextaner der höheren Schulen aus Volksschulen.[1] Daneben existierte noch eine Vielzahl von mittleren Schulen (Bürgerschulen, Lateinschulen, Rektoratsschulen, höhere Mädchenschulen) mit allgemeinbildender oder berufsvorbereitender Funktion.

Die Schulartikel der Weimarer Verfassung von 1919 setzten eine achtjährige Schulpflicht unter Einbezug einer Fortbildungsschule fest. Ein vierjähriger Grundschulbesuch für alle Kinder sowie der Besuch einer weiterführenden Schule nach Neigung und Anlage und ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen oder religiösen Stellung der Eltern wurden so für alle Kinder geöffnet und verpflichtend. Das Reichsgrundschulgesetz vom 28.4.1920 bekräftigte die vierjährige allgemeine Grundschulzeit und hob die (privaten) Vorschulen auf. Mit der Schaffung dieser egalitären Ausgangslage für alle Kinder stützte dieses Gesetz die demokratische Legitimität der Weimarer Republik. Zudem förderte es eine einheitliche Entwicklung des deutschen Schulwesens (Grundständigkeit der höheren Schulen), auch wenn die konkrete Schulpolitik im Zuständigkeitsbereich der Länder blieb und sie zumeist als pragmatische Weiterentwicklung des bestehenden Schulsystems durch die Verwaltung stattfand.[2]

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war in Westfalen und Preußen die geistliche Ortsschulinspektion abgeschafft worden (28.11.1918). Auf eine vollständige Säkularisierung der Schule konnten sich die politischen Parteien aber nicht einigen; stattdessen kam es zum "Weimarer Schulkompromiss" von 1919, nach dem die Schaffung von Simultan-, Konfessions- und bekenntnisfreien Schulen vom Willen und Antrag der Erziehungsberechtigten abhängig gemacht wurde. Da es nie zum Erlass eines Rahmengesetzes als Basis zur Umsetzung des Kompromisses kam, blieb die konkrete Umsetzung Sache der unteren Ausführungsbehörden. Konfessionelle Konflikte waren somit vorgespurt und die Bekenntnisschule blieb im hohen Maße de facto erhalten. 1926 kam es in Dortmund zu einem "Westfälischen Kulturkampf", als ein konfessionsloser Sozialist Schulrat eines evangelischen Schulbezirks wurde. Gleichzeitig gab es hier im Regierungsbezirk Arnsberg neben Düsseldorf den höchsten Anteil weltlicher Schulen unter den preußischen Regierungsbezirken.[3]

Neben der Verweltlichung und Verstädterung des Volksschulwesens ist für die 1920er Jahre eine Vermehrung der Schulen bei gleichzeitiger Verminderung der Schüler- und Erhöhung der Lehrerzahlen festzustellen. Die Umwandlung der Seminare in zweijährige Pädagogische Akademien in Preußen im Jahre 1925 stellte eine Reaktion auf den Lehrerüberfluss dar; sie sollten durch eine Professionalisierung der Lehrerausbildung die Zugangsmöglichkeiten erschweren. Zugangsvoraussetzung war von nun an die bestandene Reifeprüfung einer höheren Schule.[4]

Erst Mitte der 1920er Jahre wurde das vielfältige mittlere Schulwesen Westfalens mit Rektorats- und höheren Stadtschulen reformiert. Am 1.6.1925 leiteten die preußischen Bestimmungen eine Neuerung ein: Auf die vierjährige Grundschule hatte nun die sechsjährige Mittelschule aufzubauen, die seit 1927 als Abschlusszeugnis die mittlere Reife vergab, die wiederum zum Übergang auf höhere Handels-, Maschinenbau- und Landwirtschaftsschulen berechtigte. Parallel dazu setze im höheren Schulwesen für Jungen in den 1920er Jahre eine wahre Welle von Schulneugründungen ein: Von 1920 bis 1933 entstanden in Westfalen zusätzlich 20 (Real-)Gymnasien bzw. Progymnasien und Realschulen. Bis 1925 wuchs die Zahl höherer Schüler in Westfalen auf 0,8% der Gesamtbevölkerung. Auf eine Forderung der 1920 abgehaltenen Reichsschulkonferenz, die eine Vereinheitlichung des Schulsystems der neuen Republik anstrebte, ging die Gründung von Deutschen Oberschulen für Jungen ab 1925 zurück. Bis 1933 entstanden in Westfalen 14 dieser Schulen, die im Anschluss an die Volksschule in neun Jahren zur Hochschulreife führten. Aus den Oberschulen gingen nach 1945 die Aufbaugymnasien hervor.[5] Immer noch verschaffte aber das Gymnasium den höchsten Bildungsstatus, dessen Besuch weiterhin jedoch vorwiegend höheren sozialen Schichten vorbehalten blieb.

Auch die Mädchenbildung erfuhr einen Ausbau: Die Zahl der Lyzeen in Westfalen wuchs zwischen 1913 und 1919 von 23 auf 48, die der Oberlyzeen von 6 auf 26. 1926 besuchten 26 500 Mädchen die höheren Mädchenschulen in Westfalen.[6]

Die neue demokratische Ordnung beeinflusste nicht zuletzt den Lehrplan: Preußen erließ 1925 eine Lehrplanreform für alle höheren Schulen, in der den Fächern Deutsch, Geschichte und Erdkunde größeres Gewicht zukam. Auch die Sprachenfolge wurde von den politischen Verhältnissen beeinflusst: 1923, zur Zeit der Ruhrbesetzung, wich Französisch als erste Fremdsprache dem Englischen, mit der deutsch-französischen Verständigung 1927 unter Stresemann rückte Französisch wieder an die erste Stelle.

Neben der allgemeinen schulischen Bildung erhielt nun auch die schulische berufliche Aus- und Weiterbildung zunehmend eine gesetzliche Reglementierung. Nachdem die Reichschulkonferenz von 1920 eine obligatorische berufliche Fortbildung bis zum Alter von 18 Jahren gefordert hatte, wurden seit 1921 zunächst alle gewerblichen, kaufmännischen und landwirtschaftlichen Fortbildungseinrichtungen als Berufsschulen bezeichnet und 1923 die Einrichtung und Unterhaltung von Berufsschulen als kommunale Aufgabe (von Gemeinden, Zweckverbänden wie Kammern als Trägerschaft) festgeschrieben.[7]

Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 galt das Führerprinzip im gesamten Schul- und Bildungswesen. Ab dem 1. 5. 1934 setzte mit der Einrichtung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Zentralisierung der Schulpolitik ein. Die Schülerinnen und Schüler wurden in Parteiorganisationen der Hitler Jugend (HJ) und des Bundes deutscher Mädel (BDM) erfasst, unfügsame Lehrer entlassen und verfolgt, Lehrerverbände aufgelöst und "gesäubert". Die – während der Weimarer Republik – gewachsene gesellschaftspolitische Bedeutung der Schule instrumentalisierten die Nationalsozialisten zur Indoktrination in ihrem Sinne. Nationalsozialistische Volkstums- und Rassenideologie prägte den Unterricht v.a. in den Fächern Deutsch, Geschichte und Biologie. Die Entkonfessionalisierung der Schulen wurde verordnet.[8] Einer "nationalsozialistischen Charakterbildung" dienten insbesondere auch die schulischen Veranstaltungen wie der "Staatsjugendtag". Auf diesen Veranstaltungen referierten Lehrer im Kollegium über Rassenkunde und die Judenfrage. In etlichen Schulen stand das Schulleben unter Zwang, Druck und Bespitzelung. Während arische Schülerinnen und Schüler bevorzugt wurden, erfuhren insbesondere jüdische Schülerinnen und Schüler schon bald eine deutliche Exklusion, indem sie vom Unterricht explizit ausgeschlossen wurden.[9]

1933 wurden die Pädagogischen Akademien in Hochschulen für Lehrerbildung umbenannt, ohne damit allerdings eine Prestigeaufwertung, finanzielle Besserstellung oder Kompetenzerweiterung zu verbinden. Als vermeintlich sozialegalitären Anspruch im Bildungswesen werteten die Nationalsozialisten die Bedeutung höherer Schulbildung für den beruflichen und sozialen Statuserwerb ab.[10] Symbolisch kam diese Geringschätzung höherer Bildung u.a. durch die Abschaffung der Schülermütze zum Ausdruck: Bislang hatten die Schüler höherer Schulen durch das Tragen von Schülermützen außerhalb ihrer Schule im städtischen Leben ihre soziale Distinktion über Bildung zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus verkürzten die Nationalsozialisten die Gymnasialbildung 1937 um ein Jahr, nicht zuletzt um das gewonnene Jahr in Form von Reichsarbeitsdienst bzw. Wehrdienst – diesmal für 'höhere Staatsbelange' – verpflichtend zu machen. 1938 wurden alle höheren Schulen in Oberschulen für Mädchen und Jungen umgewandelt. Die Zahl der noch weiter bestehenden Gymnasien in Westfalen wurde damit auf 15 reduziert (in der Regel waren es die traditionellen Gymnasien des frühen 19. Jahrhunderts); zudem war die verordnete Sprachenfolge (L, GR, E, F) anspruchsvoll und garantierte nur wenig Schüler. Die Oberstufe der Jungen-Oberschule erhielt einen naturwissenschaftlichen und einen sprachlichen Zweig, diejenige der Mädchen einen sprachlichen und hauswirtschaftlichen Zweig. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Richtung wurde hingegen für Mädchen gänzlich abgeschafft, wodurch eine geschlechtsspezifische Erziehung nach traditionellen Rollenvorstellungen gefördert wurde. Nicht zuletzt durch diese Maßnahmen sank die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten in Westfalen zwischen 1934 und 1938 von 2635 auf 2052.[11]

1939 wurden die bisherigen – vornehmlich als Volksschulen geführten – Bekenntnisschulen geschlossen und in Gemeinschaftsschulen umgewandelt. Mit Kriegsausbruch nahm die Bedeutung der bereits favorisierten Fächer Heimatkunde und Sport nochmals zu. Mit dem Einsetzen der Bombardierungen in Westfalen war ein geregelter Schulunterricht kaum mehr möglich, zumal bereits zahlreiche Lehrer zum Kriegsdienst eingezogen waren und ab 1943 auch Gymnasiasten als Luftwaffenhelfer eingesetzt wurden.[12]
 
Anmerkungen
[1] Zymek, Bernd, Schulen, in: Langewiesche, Dieter (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5, München 1989, S. 155-208, hier S. 165.
[2] Zymek, Schulen 1989, S. 162, 165.
[3] Saal, Friedrich Wilhelm, Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Wilhelm (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Das 19. und das 20. Jahrhundert, Wirtschaft und Gesellschaft, Düssedorf 1984, S. 533-618, hier S. 599.
[4] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 602f.
[5] Borscheid, Peter, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914-1945), In: Kohl, Westfälische Geschichte 1984, S. 313-438, hier S. 333. Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 603f.
[6] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 604.
[7] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 605.
[8] Jeismann, Bildungsinstitutionen, S. 712-714; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 606.
[9] Jacobmeyer, Wolfgang, 1918-1945. Das Paulinum vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, in: Lassalle, Paulinum 1997, S. 134, 139; Bloch Pfister, Lutherschule 2004, S. 21; Bloch Pfister, Schulgeschichte Dülmens 2011, S. 723; Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 609.
[10] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 608; Zymek, Schulen 1989, S. 180.
[11] Saal, Schul- und Bildungswesen 1984, S. 609ff.
[12] So in Dülmen, Bloch Pfister, Alexandra, Geschichte des Dülmener Schul- und Bildungswesens, in: Sudmann, Stefan (Hg.), Geschichte der Stadt Dülmen, Dülmen 2011, S. 724.