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TITEL350 Jahre Westfälischer Friede - Entscheidungsprozesse, Weichenstellungen und Widerhall eines europäischen Ereignisses


ORTMünster
JAHR[1998]


ONLINE-TEXTGrußworte zur Eröffnung: Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Johannes Rau
SEITES. 10-14


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"Wer nicht Gutes und Böses: Summa: Lebendiges und Schicksal zusammenschauen kann, der lasse die Geschichte und lese Romane, wo man einander am Ende kriegt." Das hat Jacob Burckhardt, Ihr berühmter Kollege aus dem 19. Jahrhundert, einmal gesagt, und er hat damit - gewissermaßen ex negativo - beschrieben, was historisches Verstehen ist, was den rechten Umgang mit der Geschichte ausmacht. Ich finde, das ist ein richtiges, ja, ein weiser Satz, und er trifft gewiß auch auf die Geschichte des Westfälischen Friedens zu, auch wenn man auf den ersten Blick zu einer anderen Meinung kommen könnte. Denn diese Geschichte liest sich allemal so spannend wie ein Roman, und am Ende - nachdem das furchtbare Morden und Sterben des Dreißigjährigen Krieges aufgehört hatte - wurde auch alles gut; man "kriegte" sich vielleicht nicht gerade, aber man bekriegte sich wenigstens nicht mehr. Jedenfalls auf den ersten Blick, und wenn man nicht zu genau hinschaut. Sieht man sich die Dinge freilich etwas näher an, dann gewinnt die historische Zusammenschau, die Burckhardt nahe legt, auch beim Westfälischen Frieden große Bedeutung; dann ist gerade in diesem Fall das vertiefte Nachdenken über Ursache und Folge, Absicht und Wirkung, Gewinn und Verlust in der Geschichte besonders fruchtbar und weiterführend. Um solches Nachdenken wird es auf diesem Kongreß gehen. Dazu haben sich die besten in- und ausländischen Kennerinnen und Kenner der frühen Neuzeit hier in Münster versammelt. Ich begrüße Sie alle und sage Ihnen ein herzliches Willkommen.

Der Kongreß, den wir heute eröffnen, ist etwas Besonderes. Er ist es auch nicht nur wegen seiner prominenten Besetzung, die alles vereint, was im Fach Rang und Namen hat. Ihr Kongreß setzt darüber hinaus einen wichtigen Anfang. Er ist der großartige Auftakt zu einem großen Ereignis, das seine Schatten vorauswirft. Ich meine die Feierlichkeiten zur 350. Wiederkehr des Westfälischen Friedens, die am 24. Oktober 1998, also fast auf den Tag genau in zwei Jahren, ihren Höhepunkt erleben werden. Wir werden an diesem 24. Oktober eine große historische und kunstgeschichtliche Ausstellung und dann auch einen weiteren bedeutenden wissenschaftlichen Kongreß eröffnen. Dazu werden viele Staatsoberhäupter, dazu wird ganz Europa in Münster und Osnabrück zu Gast sein. Das wird ein denkwürdiges Jubiläum, ein schönes Fest, aber auch eine selten gute Gelegenheit, auf eine besondere Herausforderung der europäischen Politik hinzuweisen, auf ihre Verantwortung für den Frieden, nicht nur auf unserem Kontinent, sondern auf der ganzen Welt. Ihr Kongreß wird sich in der nächsten Woche mit einem Friedensschluß beschäftigen, der den Namen einer Region trägt, einer Region, die nicht von ungefähr zu den schönsten in ganz Deutschland zählt und die mir besonders lieb ist. Der Westfälische Friede ist aber keineswegs nur ein regionales Datum, der Friede von Münster und Osnabrück ist ein epochemachendes Ereignis, ein Ereignis von europäischem Rang; die Geburt einer neuen Friedens- und Staatenordnung in Europa, die Geburtsstunde der Unabhängigkeit bedeutender republikanischer Nationen - der niederländischen Generalstaaten und der Schweizer Eidgenossenschaft. Wenn ich es recht sehe, dann trägt Ihr Kongreß dieser geschichtlichen und geographischen Dimension in vorzüglicher Weise Rechnung.

Er tut das durch neue Fragestellungen und durch eine bewußte Öffnung für europäisch vergleichende Methoden und Perspektiven. Ihr Kongreß wird gewiss neue Akzente setzen, wir werden noch lange von ihm sprechen und bestimmt noch länger von seinen Ergebnissen zehren. Es macht mich stolz und froh, daß Sie alle gekommen sind. Ich habe es - Jacob Burckhardt zitierend - eingangs bereits angedeutet: Der Westfälische Friede entzieht sich wie alle wirklich großen historischen Ereignisse jeder eindimensionalen Betrachtung. Was damals in Münster und Osnabrück geschah, lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen. Zu komplex waren die Entscheidungsprozesse, die zum Friedensschluß geführt haben, zu ambivalent seine Wirkungen in seiner Zeit, zu widersprüchlich ist sein Nachhall in der Geschichte gewesen.

So gehört es zur Ambivalenz dieses Friedens, daß die Ordnung, die er gesetzt hat, Jahrhunderte überdauerte, daß aber die Kriege in Europa nicht aufhörten, ja fast ungehindert weitergingen. Der Friede schaffte im Reich konfessionelle Parität, aber er schaffte die katholische Mehrheit im Reichstag nicht ab. In Deutschland herrschte seit 1648 anerkanntermaßen weltanschauliche Pluralität, doch von religiöser Toleranz waren die Verhältnisse noch sehr weit entfernt. Von Münster und Osnabrück nahm darüber hinaus das Gleichgewichtsdenken seinen Ausgang - als gestaltendes Prinzip internationaler Politik; aber im Prozeß der Friedensgestaltung selber spielte eben dieses Prinzip so gut wie keine Rolle, wie vor allem Konrad Repgen gezeigt hat. Der Westfälische Friede kannte schließlich keine Verlierer; die Menschen lebten wieder auf - vor allem in den von der Geisel des großen Krieges besonders geschlagenen Gebieten. Aber politische Gewinner hatte der Friede nur wenige, in Deutschland waren das vornehmlich die aufstrebenden Landesherren. Der Friede schuf die Voraussetzung für ihre wachsende politische Macht, aber er verfestigte damit gleichzeitig die territoriale Zersplitterung des Reiches. Gerade das hat man den Friedensmachern später zum Vorwurf gemacht. Für die übergroße Mehrheit der Historiker im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik war das Jahr 1648 gleichbedeutend mit dem Sieg des Partikularismus im Reich; man sah darin den Anfang der sogenannten "deutschen Krankheit", den Ursprung einer gespaltenen und deshalb verspäteten und schwachen deutschen Nation. Nur wenige mochten sich dieser Perspektive entziehen, die häufig genug nationalistisch verengt war; nur wenige haben die seit Münster und Osnabrück wesentlich verstärkte "Intensität regionaler Politik" - wie es Theodor Schieder genannt hat - als ein positives Grundelement der deutschen Geschichte begriffen.

Heute - im Zeichen des zusammenwachsenden Europa, in der Zeit der Europäischen Union - ist vieles anders geworden. Wir haben zum Glück die "deutsche Krankheit" überwunden; seit der Epochenwende von 1989 ist uns das ganz und gar gelungen. Gegen Rückfälle sind wir hoffentlich gefeit; dagegen stehen die bitteren Erfahrungen, die wir mit unserer unheilvollen jüngeren Geschichte gemacht haben. Heute erscheint auch der Westfälische Friede in einer anderen Sicht, in einem wesentlich helleren Licht. Für mich ist er auch ein Beleg dafür, daß möglich ist, was uns mit Blick auf die kriegerischen Konflikte unserer Zeit oft unmöglich erscheint, für mich zeigt der Friede von Münster und Osnabrück, daß trotz krasser Interessengegensätze, trotz aufgewühltester Leidenschaften die Fertigkeiten der Politik sehr wohl in die Fähigkeit zum Frieden einmünden können, wenn Vernunft waltet, wenn Maximalforderungen zurückgestellt werden. Der Westfälische Friede wirkt aber noch in anderer Hinsicht in unsere Gegenwart hinein. Er hat - wie wir wissen - die Formen und Spielregeln des diplomatischen Verhandelns seit nunmehr fast 350 Jahren entscheidend geprägt. Er gehört damit zum Wurzelwerk unseres modernen Völkerrechts. Die in Münster und Osnabrück vereinbarte sogenannte "Friedensamnestie" ist darüber hinaus beispielhaft auch für unsere Zeit. Das Prinzip des friedewirkenden Vergessens, die Regel, daß vergeben sein soll, was auf allen Seiten an Unrecht und Feindseligkeiten geschah, könnte beispielgebend werden auch für die Friedensschlüsse, die wir uns heute so sehnlich wünschen - in Nordirland, im Nahen Osten, auf dem Balkan und an den Krisenherden Afrikas und Asiens.

Für uns Deutsche kann die Beschäftigung mit dem Westfälischen Frieden aber auch noch in anderer Hinsicht erhellend sein. Wie in einem fernen Spiegel zeigen uns die historischen Vorgänge von Osnabrück und Münster, daß wir, wenn wir von deutscher Geschichte reden wollen, über Europa nicht schweigen dürfen, daß wir die europäischen Bedingungen unseres deutschen Denkens und Daseins stets im Auge behalten müssen, kurz: daß wir nicht nur als Deutsche, sondern als Europäer eine Geschichte haben, eine Geschichte, die uns mit unseren Nachbarn jenseits unserer Grenzen immer verbunden hat und noch verbindet. Gerade aus dieser gemeinsamen Vergangenheit können wir als Europäer lernen, was Europa braucht und was es vielleicht nicht mehr braucht, ja, was von Schaden sein kann. Was es braucht, ist die Pflege und Förderung der Vielfalt und der Vielschichtigkeit, die unseren Kontinent von jeher und in jeder Beziehung ausgemacht hat. Wenn wir deshalb ein bürgernahes, ein Europa mit Bodenhaftung wollen, dann dürfen wir unsere regionalen Identitäten nicht vernachlässigen, dann müssen wir die Idee des Europa der Regionen stark machen.

Was Europa darüber hinaus braucht, das ist ein neuer Impuls für das Projekt der Moderne, ein erneutes und vertieftes Nachdenken über die universalen Ideen der Aufklärung, der Menschheit und der Humanität, die hier ihren Ursprung haben. Solches Nachdenken muß kritisch sein - und selbstkritisch, offen für die Zeichen der Zeit und den Wandel der Welt; und es muß ein Denken sein, daß die Empathie für das Fremde ebenso wichtig nimmt wie die Sympathie für das Eigene. Denn was Europa heute nicht mehr braucht, das ist eine Haltung, die allein am europäischen Wesen die Welt genesen lassen will. Eine solche Haltung ist ebenso unbegründet wie obsolet, aber leider gibt es sie noch immer - bei uns und auch anderswo. Deshalb hat der Berliner Soziologe Wolf Lepenies recht, wenn er warnend darauf verweist, daß die europäischen Gesellschaften bis in unsere Gegenwart hinein "Belehrungskulturen" gewesen sind und daß sie "Lernkulturen" werden müssen, wenn sie künftig in einer Welt bestehen wollen, die längst nicht mehr eurozentrisch ist.

Mittlerweile haben sich die weltpolitischen und vor allem auch die weltwirtschaftlichen Gewichte verschoben, andere Kontinente und Weltregionen haben an Bedeutung beträchtlich gewonnen, aber Europa war, ist und bleibt unser Schicksal. Der richtig gebrauchte Reichtum seiner Traditionen ist seine Stärke. Ihr Kongreß kann helfen, uns darauf wieder zu besinnen, uns noch einmal stärker ins Gedächtnis zu rufen, was dieses Europa ausmacht: Europa ist ja weit mehr als eine technische Organisation, mehr als eine Wirtschaftsunion, mehr als ein supranationaler Staatenbund; es ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus gemeinsam erlebter und auch erlittener Geschichte, und es ist ein grandioser, ein bewegender Gedanke, der Frieden, Freiheit und Wohlstand sichern kann. Der Westfälische Friede von 1648 markierte eine Epochenwende. Wir leben heute an der Wende zu einem neuen Jahrtausend. Die intensive Begegnung dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart könnte dazu beitragen, uns alle ein Stück zukunftsfähiger zu machen.

Dr. Johannes Rau


QUELLE     | 350 Jahre Westfälischer Friede - Entscheidungsprozesse, Weichenstellungen und Widerhall eines europäischen Ereignisses | S. 10-14
PROJEKT    1648 - Westfälischer Friede

DATUM AUFNAHME2005-11-08
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