PERSON

FAMILIEWolff
VORNAMEJeanette


GESCHLECHTweiblich
GEBURT DATUM1888-06-22   Suche
GEBURT ORTBocholt
KONFESSIONjüd.
EHEPARTNER1910 Hermann Wolff
TOD DATUM1976-05-19   Suche
TOD ORTBerlin


VATERCohen, Isaac
MUTTERCohen, Dina


BIOGRAFIE"Mit Bibel und Bebel" - diese Überschrift wählte die gebürtige Bocholterin Jeanette Wolff, als sie im Winter 1945/46 im kriegszerstörten Berlin ihre Erinnerungen niederschrieb. Die Aufzeichnungen begann Jeanette Wolff mit einem Rückblick auf ihre Kindheit und Jugend im westmünsterländischen Bocholt. Sie endete mit erschütternden Erlebnissen in den Nazi-Vernichtungslagern im Osten.

Diese Hölle hatte Jeanette Wolff nur durch eine Kette glücklicher Umstände überlebt, während ihr Mann, ihre Schwiegermutter, zwei ihrer drei Töchter und zwei Schwiegersöhne von Nazi-Schergen umgebracht worden waren. Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen fand Jeanette Wolff im Deutschland der Nachkriegszeit die Kraft für ein vielseitiges Engagement. "Mit Bibel und Bebel" - präziser und knapper ließe sich ihr Lebensweg nicht beschreiben: Jeanette Wolff war gläubige Jüdin und überzeugte Sozialdemokratin.

Im westfälischen Bocholt wurde sie am 22.06.1888 als erstes Kind von Dina und Isaac Cohen geboren. Ihren Vater beschrieb Jeanette Wolf später als strenggläubigen, tief religiösen Menschen. Er war Lehrer, durfte aber diesen Beruf nicht ausüben, weil er der Sozialdemokratie angehörte. Er wurde Textilhändler und zog mit Stoffballen beladen von Bauernhof zu Bauernhof im Umland. Er und seine Frau hatten eine große Kinderschar zu ernähren. Die junge Jeanette wuchs mit insgesamt 15 Geschwistern auf. "Bei so vielen Kindern mußte mein Vater auf den Fingern pfeifen, wenn wir nach Hause kommen sollten, denn er wußte nicht alle Namen auf einmal."

Als 16jährige wurde Jeanette nach Brüssel zu gutbürgerlichen Verwandten geschickt, die ihr eine Ausbildung zur Kindergärtnerin ermöglichten. In diesem Beruf arbeitete sie mehrere Jahre, gleichzeitig besuchte sie ein Abendgymnasium; im Sommer 1909 legte sie das Abitur ab.

In Brüssel trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei, und in Brüssel lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen: den Dortmunder Kaufmann Hermann Wolff, Sohn eines national gesinnten kaiserlichen Bahnbeamten. Ihr Vater war zunächst entsetzt über den "aus dem Modejournal geschnittenen Mann", der "gar nicht in unsere Auffassung" passe. Gleichwohl heirateten Hermann und Jeanette Wolff, geborene Cohen, im Jahr 1910. Sie zogen nach Bocholt und kauften eine kleine Textilfabrik. "Wir waren die erste Firma, die den 8-Stunden-Tag schon im Jahre 1912 einführte, und wir haben damit gute Erfahrungen gemacht", erinnert sich die Sozialdemokratin später nicht ohne Stolz.

Im November 1912 brachte Jeanette Wolff ihr erstes Kind Juliane zur Welt; zwei weitere Töchter, Edith und Katharina, wurden 1916 und 1920 geboren. Im ersten Weltkrieg mußte Jeanette Wolff den kleinen Betrieb alleine weiterführen, weil ihr Mann und ihr Schwager zum Kriegsdienst eingezogen wurden. 1916 wurde sie zum ersten Mal in ein Amt gewählt: Sie wurde Mitglied der Bocholter Armenkommission.

Nach dem kläglichen Zusammenbruch des kaiserlichen Obrigkeitsstaates wurde Jeanette Wolff im Frühjahr 1919 in die Bocholter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bis 1932 war sie Stadträtin, neben der Belastung durch Betrieb, Haushalt und die Erziehung der Kinder. Sie gehörte dem Ausschuß für private Wohlfahrtspflege an, war Mitglied in der Rechnungskommission und im Gesundheitsausschuß.

Auch innerhalb der westfälischen SPD übernahm sie in den 20er Jahren mehr und mehr Ämter. Sie fiel vor allem durch ihre geschliffenen Reden auf, in denen sie auch vor Kritik an den eigenen Genossen nicht sparte und mehr gegenseitige Toleranz forderte.

Hauptthema ihres politischen Engagements wurde - neben der Kommunalpolitik - die Auseinandersetzung mit den rechten Feinden der jungen Demokratie. Früh schon warnte sie vor der NSDAP. Den "Stürmer", das antisemitische Kampfblatt der NSDAP, hatte sie ebenso aufmerksam gelesen wie Hitlers "Mein Kampf". In den Wahlkämpfen wetterte sie mit scharfer Zunge und wohlvorbereiteten Argumenten gegen die Nazis. Jeanette Wolff scheute nicht einmal davor zurück, sich in Wanne-Eickel während einer NS-Parteiversammlung an das Rednerpult zu mogeln und Joseph Wagner, den späteren NS-Gauleiter für Westfalen-Nord, öffentlich bloßzustellen.

Die Rache der "Braunhemden" ließ nicht lange auf sich warten. Am Tag der Reichstagswahl vom 05.03.1933 wurde Jeanette Wolff von SA-Leuten in "Schutzhaft" genommen. Zwei Jahre blieb sie inhaftiert. Im April 1935 kehrte sie zu ihrer Familie zurück, die inzwischen nach Dortmund verzogen war. Den Betrieb in Bocholt hatte ihr Mann aufgeben müssen; eine Tochter hatte nur klammheimlich noch Stoffe bei den Bauern auf dem Land verkaufen und so Geld zum Lebensunterhalt verdienen können.

In Dortmund konnte die Familie nur mit Mühe Unterschlupf finden. "Juden unerwünscht" - hieß es allerorten. Die Familie Wolff sah sich zahllosen Drangsalierungen und dem offenen Terror der Nazis ausgesetzt, der in wenigen Sätzen kaum zu beschreiben ist: Der Überfall während der "Kristallnacht", bei dem SA-Leute um ein Haar die 85jährige Mutter aus dem dritten Stock der Dortmunder Wohnung geworfen hätten; die Zwangseinweisung der Familie in heruntergekommene sogenannte "Judenwohnungen"; und schließlich die düstersten Jahre ihres Lebens - die Jahre der Deportation.

Im Januar 1942 wurde die Familie getrennt. Die Mutter und ihre Schwiegermutter wurden hochbetagt in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie an
Mißhandlungen und Unterernährung starben. Eine Tochter wurde in das Frauen-KZ
Ravensbrück verschleppt, wo sie 1944 von einem SS-Mann erschossen wurde. Jeanette Wolff und ihr Mann wurden nach Riga deportiert, wo sie unter mörderischen Bedingungen, unter den alltäglichen Qualen des SS-Terrors Zwangsarbeit leisten mußten.

In den letzten Kriegswochen wurden beide nach Stutthof, ein KZ in der Nähe von Danzig transportiert. Hier sah Jeanette Wolff ihren Mann zum letzten Mal; er wurde weitergeschleust in Richtung KZ Flossenbürg, kam dort aber nie an. Ausgehungert und entkräftet wurde er wenige Tage vor Kriegsende von einem SS-Kommando in der Oberpfalz ermordet.

Jeanette Wolff wurde 1945 von der sowjetischen Armee befreit. Sie kehrte nach Deutschland zurück, schrieb in Berlin zunächst für eine SPD-Zeitung, bevor sie im dortigen Bezirk Neukölln eine Stelle im Entschädigungsamt für Nazi-Opfer annahm. Nur ein einziges Mal, unmittelbar in der Nachkriegszeit, reiste sie in ihre westfälische Heimatstadt. Doch dort hielt sie nichts mehr. Bis zu ihrem Tbd am 19. Mai 1976 lebte sie in Berlin.

Im Sommer 1946 erhielt sie das Angebot, bei der angesehenen amerikanischen Illustrierten "Life" zu arbeiten. Doch Jeanette Wolf lehnte ab. "Ich war der Ansicht, daß ich in Deutschland notwendiger gebraucht würde als Jüdin, als aufrechter Demokrat und Sozialdemokrat."

In allen drei Beziehungen engagierte sie sich in den folgenden Jahren - mutig, temperamentvoll und besonnen, wie ihr Freunde und auch politische Gegner bescheinigten. Sie beteiligte sich am Aufbau der Jüdischen Gemeinde in Berlin, und sie zählte zu den profiliertesten Gegnern der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur "Sozialistischen Einheitspartei.Deutschlands" (SED).

Jeanette Wolf wurde Berliner Stadtverordnete; zwischen 1951 und 1961 vertrat sie die geteilte Stadt als Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Hier setzte sie sich hauptsächlich für die Entschädigung der Nazi-Opfer ein. In Haushaltsdebatten rechnete sie penibel vor, mit welch hohen Pensionen ehemalige Nazi-Funktionäre und Generäle von Staats wegen versorgt wurden, während die NS-Opfer und ihre Hinterbliebenen noch immer auf angemessene Entschädigung warteten. Wiederholt auch kritisierte sie, daß nicht wenige Nazis in Staat und Gesellschaft wieder Amt und Würden bekleideten. Jeanette Wolff bemängelte, daß sich die junge westdeutsche Republik zu wenig mit der "jüngsten Vergangenheit" auseinandersetze - ein Thema, mit dem sie auch innerhalb ihrer Partei mehr als einmal aneckte.

So unermüdlich sie sich in der Politik einsetzte - Politik war ihr nicht alles im Leben. Sie, die aus ihrem jüdischen Glauben Energie schöpfte, hatte sich schon früh am Aufbau der jüdischen Gemeinde in Berlin beteiligt. Zwischen 1965 und 1975 war sie stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland - Seite an Seite mit dem TV-Entertainer Hans Rosenthal, der sie als sein Vorbild bezeichnete, als "eine großartige Frau und kluge Politikerin".

Eine andere Weggefährtin bemerkte: "Ihre ungewöhnliche Vitalität stellte sie in den Dienst der Versöhnung, der Bekämpfung von Vorurteilen und Haß." Jeanette Wolff habe sich für ein gutes Verhältnis gerade zwischen Juden und Christen eingesetzt - "keine selbstverständliche Haltung für eine Jüdin, die so gelitten hatte". Kurz vor ihrem Tod hatte die 88jährige Jeanette Wolf ihr treibendes Motiv folgendermaßen umschrieben: "Ich habe überlebt, und das verpflichtet mich im Namen der Toten und Lebenden, mitzuhelfen zur Verständigung unter den Menschen."

QUELLE  Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 128-130
PROJEKT  Lebensbilder westfälischer Frauen
AUFNAHMEDATUM2004-05-27


PERSON IM INTERNET  Literaturkommission für Westfalen: "Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren 1750 bis 1950"
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  Personen im Verbundkatalog des HBZ NRW
  Bundesarchiv - Zentrale Datenbank Nachlässe
  Kalliope, Verbundkatalog Nachlässe und Autographen


QUELLE    Strotdrees, Gisbert | Es gab nicht nur die Droste | S. 128-130

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Typ40   Biografie (Einzelperson/Familie)
Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
3.10   1950-1999
Sachgebiet15.7   Literatur, Schriftstellerin/Schriftsteller
DATUM AUFNAHME2003-10-13
DATUM ÄNDERUNG2010-09-20
AUFRUFE GESAMT5760
AUFRUFE IM MONAT306