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(84 KB)   Empfang Kardinal von Galens vor dem Dom zu Münster, 16.03.1946 / Münster, Stadtarchiv / Münster, LWL-Medienzentrum für Westfalen/O. Mahlstedt   Informationen zur Abbildung

Empfang Kardinal von Galens vor dem Dom zu Münster, 16.03.1946 / Münster, Stadtarchiv / Münster, LWL-Medienzentrum für Westfalen/O. Mahlstedt
FAMILIEGalen, von
VORNAMEClemens (Clemens August)
TITELDr. theol. h. c. / Graf


VERWEISUNGSFORMLöwe von Münster
GESCHLECHTmännlich
GEBURT DATUM1878-03-16   Suche
GEBURT ORTBurg Dinklage
TAUFNAMEClemens Augustinus Joseph Emmanuel Pius Antonius Hubertus Marie
KONFESSIONkath.
TOD DATUM1946-03-22   Suche
TOD ORTMünster
BEGRÄBNIS DATUM1946-03-28
BEGRÄBNIS ORTMünster, Dom, Ludgerus-Kapelle


VATERGalen, Ferdinand Heribert von (Münster 31.08.1831-Dinklage 05.01.1906)
MUTTERSpee, Elisabeth von


ÄMTER / FUNKTIONEN | Münster, Bistum <1802 - > | Bischof / Erzbischof, kath. Kirche | 71 | 1933-09-05 - 1946-03-22
28.05.1904: Priesterweihe im Dom zu Münster durch Bischof H. Dingelstad; 05.09.1933: Ernennung zum Bischof durch Papst Pius XI., nach Absage des Domkapitulars Heinrich Heufers; 19.10.1933: Treueid; 28.10.1933: Bischofsweihe im Dom zu Münster durch den Kölner Kardinal Joseph Schulte; 21.02.1946: Kardinal


BIOGRAFIEAls Anfang September 1933 bekannt wurde, daß Papst Pius XI. den damals fünfundfünfzigjährigen Pfarrer Clemens Graf von Galen zum neuen Bischof von Münster ernannt hatte, löste diese Nachricht weithin Verblüffung aus. "Da muß der Heilige Geist aber viel helfen", so oder ähnlich lauteten erste Reaktionen von Geistlichen und Laien, die den Pfarrer an St. Lamberti in Münster als ebenso eifrigen wie beliebten Seelsorger kannten. Außer durch adlige Herkunft und hünenhafte Gestalt mit 1,99 Meter Größe ragte Graf Galen nämlich keineswegs aus dem Kreise seiner Mitbrüder hervor. Er gehörte weder Domkapitel noch Fakultät an und war nicht als eigenständiger theologischer Denker oder glänzender Prediger hervorgetreten. Auch galt er keineswegs als geistlicher Schriftsteller, trotz eines kleinen Buches, mit dem er sich 1932 seinen Groll über zunehmende Verweltlichung des öffentlichen Lebens durch Vordringen liberaler und sozialistischer Ideen von der Seele geschrieben hatte. Schon der Titel dieser literarischen Attacke, "Die 'Pest des Laizismus' und ihre Erscheinungsformen" (im Verlag Aschendorff in Münster erschienen), kennzeichnete ihren Verfasser als Gegner jeder Art von kirchlicher "Anpassung". Mit dieser Haltung korrespondierte Galens Standort innerhalb des politischen Katholizismus: rechts von der Mitte. Dennoch gelang es dem Bischof von Münster, in seiner nur zwölf Jahre währenden Amtszeit bei seinen Diözesanen nicht bloß respektvolle Zuneigung und schließlich uneingeschränkte Verehrung zu finden (was in Westfalen selten genug ist), sondern darüber hinaus weltweite Popularität. Sie war Echo und Dank für den unerschrockenen Mut, mit dem Galen in der Zeit der Hitler-Herrschaft Unrechtsmaßnahmen und Verbrechen der staatlichen Obrigkeit öffentlich verurteilt hat, und zwar in einer Art und Weise, mit der er aus dem Kreis des Episkopats herausragte. Der "Löwe von Münster", wie er deswegen in aller Welt genannt wurde, hat sein Bischofsamt jedoch keineswegs etwa im Zeichen von Widerspruch oder gar Auflehnung gegen die von Nationalsozialisten ausgeübte Obrigkeit begonnen, im Gegenteil: deren Rechtmäßigkeit stand für ihn 1933 wie 1945 außer Zweifel. Das ist die erste Feststellung, die für eine historische Würdigung Galens zu beachten ist. Eine zweite muß in Erinnerung rufen, daß die bischöfliche Wirksamkeit dieses münsterischen Oberhirten neun Monate nach Beginn der Hitler-Herrschaft einsetzte und knapp zehn Monate nach deren Untergang ende. Sie blieb damit äußerlich nahezu deckungsgleich den zwölf Jahren der Diktatur zugeordnet. Dieses Phänomen hat die Zeitgenossen, die darin vielfach eine providentielle Bestimmung erblickten, um so mehr betroffen, als Galen am 22. März 1946 im Zenit seines bischöflichen Wirkens starb, nur sieben Wochen, nachdem der münsterische Oberhirte von Papst Pius XII. mit dem Kardinalspurpur ausgezeichnet worden war. Auch wenn sich inzwischen Nachruhm und Wertschätzung dieses 71. Nachfolgers auf dem Stuhle des hl. Liudger verfestigt haben, so steht eine abschließende Würdigung aus. Sie setzt eine Auswertung neuer Quellen und Darstellungen über das Verhältnis von Kirche und "Drittem Reich" voraus. Auch fehlt bisher eine Monographie über die jüngste Geschichte des Bistums Münster, also eine Art Gegenstück zu der 1974 erschienenen Untersuchung von Bernd Hey über die evangelische Kirchenprovinz Westfalen in der Zeit von 1933 bis 1945.


1.

Jede Beurteilung der Tätigkeit des späteren Bischofs von Münster muß seine Herkunft, seine geistig-kirchliche Prägung und seine pastorale Tätigkeit bis hin zur Lebenswende von 1933 mit einbeziehen. Der am 16. März 1878 auf Burg Dinklage im oldenburgischen Teil der Diözese Münster geborene Clemens Graf von Galen (Clemens August nannte er sich erst als Bischof) entstammte einem urkatholischen Adelsgeschlecht. Er war das elfte von dreizehn Kindern des Erbkämmerers Ferdinand Heribert Graf von Galen und dessen Ehefrau Elisabeth, geborener Reichsgräfin von Spee. Clemens absolvierte seine Gymnasialzeit im Jesuitenkolleg Feldkirch in Vorarlberg und am Gymnasium Antonianum in Vechta, seine Studienzeit in Freiburg in der Schweiz, Innsbruck und Münster. 1904 empfing er im Peter und Pauls-Dom der heimischen Bischofsstadt Münster, der seine Kathedralkirche und Grabstätte werden sollte, die Priesterweihe.

Die Entscheidung für den geistlichen Beruf, getroffen 1898 nach einer Audienz bei Papst Leo XIII., war durch Familientradition und Erziehung bestärkt worden und stand später nie in Frage. Zum Familienerbe des adligen Theologen gehörte eine lebendige Erinnerung an den preußischen Kulturkampf, an seinen Großonkel, den Mainzer Oberhirten und bedeutendsten Bischof des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Emmanuel von Ketteler, und an den 1837 von der preußischen Regierung verhafteten Kölner Erzbischof Clemens August von Droste zu Vischering.

Seine geistliche Prägung erfuhr Clemens Graf Galen als Domvikar und Sekretär seines Onkels, des münsterischen Weihbischofs Maximilian Gereon Graf von Galen. 1906 wurde er als Kaplan nach Berlin versetzt, wo er dreiundzwanzig Jahre lang als Großstadtseelsorger wirkte, ebenso pflichtbewußt wie selbstlos, für jedermann ansprechbar und hilfsbereit. Dagegen gewann Pfarrer Graf Galen, über den der Berliner Caritas-Apostel der zwanziger Jahre, Carl Sonnenschein, urteilte: "Ganz 13. Jahrhundert", keinen Geschmack an neuen Formen kirchlicher Jugendarbeit oder liturgischer Reformen. Innerkirchlichen Veränderungen gegenüber verblieb er in konservativer Beharrlichkeit skeptisch distanziert, wenn nicht gar strikt ablehnend. Der "Herzensmonarchist", als der er sich selbst verstand, konnte sich mit der Weimarer Republik und ihrer vermeintlichen "Verfassung ohne Gott" (ein Schlagwort, das ebenso falsch wie gefährlich war) nicht aussöhnen. Der Berliner Großstadtpfarrer fand seine politische Heimat bei den sogenannten Rechtskatholiken, zählte zu den Verfechtern der "Dolchstoßlegende" vom 1918 unbesiegten deutschen Heer und kommentierte aus einer betont nationalen Sicht strittige Zeitfragen. Zusammen mit Franz von Papen, dem Reichskanzler nach Brüning, suchte Pfarrer Galen im Aufsichtsrat der Berliner Zentrumszeitung "Germania" deren Kurs vergeblich nach rechts zu drehen. Angesichts der Gefahr des Nationalsozialismus lieferte er 1932 seinem jüngeren, als Zentrumsabgeordneter tätigen Bruder Franz literarische Hilfestellung in Form zeitgemäßer Konkretisierung der katholischen Staatsanschauung, die er patriarchalisch interpretierte.

Um diese Zeit amtierte Galen bereits seit drei Jahren als Pfarrer der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti in Münster. Seine Stärke lag weiterhin in einem ungebrochenen Verständnis von der Aufgabe der Kirche, deren Lehren und Gebote er selbst in unkompliziert-demütiger Frömmigkeit praktizierte. Das Gefühl persönlicher Bindung an kirchliche und weltliche Obrigkeit war in diesem westfälischen Edelmann ebenso stark ausgeprägt wie das der Treue gegenüber Klerus und Diözesanen. "Äußere Stürme und Verfolgungen" der Kirche in Deutschland und "direkte Angriffe der Staatsgewalt" seien "abgeschlagen und zurückgedrängt" worden, glaubte Galen in seinem schon genannten Buch von 1932 feststellen zu können. Wenige Monate später übernahmen Hitler und der Nationalsozialismus Regierung und Herrschaft in Deutschland.


2.

Das Bistum Münster war in den entscheidenden Monaten der nationalsozialistischen Machtbefestigung ohne Oberhirt. Bischof Johannes Poggenburg starb am 5. Januar 1933, wenige Wochen bevor Hindenburg Hitler zum Reichskanzler berief. Am 17. Mai drängte Pfarrer Galen seinen Bruder Franz, den Zentrumsabgeordneten des Preußischen Landtags, in Berlin darauf hinzuwirken, daß etwaige Hindernisse für die Wahl des neuen Bischofs möglichst rasch ausgeräumt würden. Es drohe ein Verhängnis zu werden, so schrieb er ihm, "daß in der jetzigen Zeit der Unklarheit und Gewissensverwirrung bei Klerus und Volk" eine Diözese monatelang ohne bischöfliche Führung dastehe. Am Tage darauf berichtete die Presse, das münsterische Domkapitel habe aus der konkordatsrechtlich vorgeschriebenen, bereits vom Papst und der preußischen Regierung genehmigten Kandidatenliste den dreiundfünfzigjährigen Berliner Domkapitular Heinrich Heufers zum neuen Bischof von Münster gewählt. Der aus Lippborg stammende Heufers lehnte es jedoch ab, die Wahl anzunehmen, und zwar unter Hinweis auf seinen Gesundheitszustand. Eine solche Ablehnung war sehr ungewöhnlich. Nach Ansicht von Josef Pieper, dem münsterischen Philosophen, hatte Heufers es angesichts der ihm "allzu schweren Würde" dieses Amtes "mit der Angst bekommen".

An Stelle von Heufers wählte das Domkapitel nach einiger Verzögerung den Pfarrer Graf Galen, und es dauerte bis zum 5. September 1933, bevor Papst Pius XI. diesen zum Bischof ernannte. Noch wissen wir nicht, wer auf seine Nominierung Einfluß genommen hat; Hitlers Vizekanzler von Papen war es jedenfalls (wie vielfach angenommen wurde) offensichtlich nicht. Entsprechende Vermutungen sind jedoch verständlich; denn ein Zusammenhang zwischen der Wahl des Pfarrers von St. Lamberti und den seit dem 30. Januar veränderten politischen Verhältnissen in Deutschland erschien naheliegend. Gab es doch von Regierungsseite keine Einwände gegen den konservativ-nationalen Galen, dessen Name mit dem inzwischen erzwungenen Untergang des politischen Katholizismus nicht in Verbindung gebracht werden konnte. Vielmehr erschien der neue Bischof, gewählt während. der kurzfristigen Hochstimmung nach Abschluß des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933, als Garant für ein harmonisches Zusammenwirken zwischen Kirche und "neuem Staat". An seiner Weihe im Dom zu Münster am 28. Oktober nahmen SA-Formationen mit Hakenkreuzfahnen teil. Bei der anschließenden Gratulation unterstrichen die örtlichen Spitzen von Regierung und NSDAP das vermeintliche Bündnis mit der Kirche. Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität verlieh dem neuen Bischof wegen seiner kirchlichen Verdienste die Ehrendoktorwürde.

Für den neuen münsterischen Oberhirten, der sich von nun an (wie erwähnt) Clemens August nannte, stand die von Hitler geführte Reichsregierung als rechtmäßige Obrigkeit ebensowenig in Frage wie für die Mehrzahl der deutschen Katholiken (und nicht nur für sie), die vom Einbruch der Diktatur überrascht wurden. Allerdings bildete die unreflektierte Hinnahme der neuen rechtmäßigen Obrigkeit für den Bischof den Ausgangspunkt zunehmenden Widerspruchs, gemäß seinem Wahlspruch "Nec laudibus nec timore": sich weder durch Lob beeindrucken noch durch Drohung einschüchtern zu lassen. Aus der Besorgnis vor wachsender Unchristlichkeit und Unrechtmäßigkeit staatlich befohlener oder geduldeter Maßnahmen und Obergriffe erwuchs der Gewissensprotest des in seiner Ehre getroffenen adligen "Untertanen". Er richtete sich gleichermaßen gegen innerweltlichen Totalitätsanspruch und Staatsvergötzung, gegen den amtlich propagierten Rassenkult eines "Neuheidentums" und gegen daraus resultierende Verbrechen der Staats- und Parteiführung. Soweit möglich, argumentierte der Bischof unter Berufung auf das Reichskonkordat, ansonsten vom Boden einer christlich-konservativen Staatsanschauung aus, die ganz preiszugeben das nationalsozialistische Regime vorerst nicht wagte.

Innerhalb des deutschen Episkopats nahm der münsterische Oberhirte schon bald eine Sonderstellung ein, ohne daß diese Haltung nach außen hin immer deutlich wurde. So schlug Galen in internen Eingaben und Protesten an staatliche Stellen wesentlich kräftigere Töne, aber auch einen stärker nationalen Grundakkord an als seine bischöflichen Amtsbrüder. Galens erste Osterbotschaft von 1934, in der er das Neuheidentum verurteilte, und zwar scharf und deutlich, wurde in der Diözese (wie sich Friedrich Muckermann erinnerte) mit "ungeheurem Jubel" aufgenommen: "Von diesem Tage an war Clemens August der Liebling seiner Diözese". In der Osterbotschaft stand der Satz: "Mit heiliger Freude wollen wir, wenn Gott sie zuläßt, den Märtyrern gleich Nachstellungen und Verfolgungen ertragen."

Im gleichen Jahr 1934 ließ der Bischof von Münster eine Gegenschrift des Bonner Kirchenhistorikers Wilhelm Neuß zu Alfred Rosenbergs antiklerikalem Machwerk "Mythus des 20. Jahrhunderts" veröffentlichen, nachdem der eigentlich zuständige Kölner Kardinal Schulte "gekniffen" hatte, wie Rudolf Amelunxen nachträglich urteilte. Drei Jahre später, 1937, protestierte Galen massiv gegen die Enteignung jener Druckereibesitzer, die in seinem Auftrag die Enzyklika Papst Pius XI., "Mit brennender Sorge", gedruckt hatten - eine Enzyklika, die sich gegen den Nationalsozialismus richtete und zu deren Erlaß auch Galen dem Papst geraten hatte.

Wiederholt argumentierte der münsterische Oberhirte mit seiner durch das gesetzlose Vorgehen von NSDAP und Gestapo verletzten Ehre als deutscher Mann und deutscher Bischof. Daß er bereits früh mit seiner Verhaftung rechnete, geht aus einem Dokument vom 22. Februar 1936 hervor. Darin legte der Bischof genau fest, was im Falle der (wie er es umschrieb) "Gewaltanwendung" gegen ihn geschehen solle, nämlich: allgemeines Trauergeläut und anschließend Verbot jeden Glockengeläuts für die Dauer seiner "Behinderung".

Galen hat immer wieder dem Gefühl der Rechtlosigkeit in "weitesten Volkskreisen" Ausdruck verliehen. Obwohl er auf seine Proteste und Eingaben aus Berlin zunehmend seltener Antwort erhielt, was ihn empörte, nannte er weiterhin übergriffe von Regierung und Einheitspartei gegen Recht und Freiheit beim Namen. 1937 erklärte er in einem Hirtenbrief resigniert: "Wir werden uns der Gewalt fügen müssen." Besonders empörte es ihn, daß die in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftierten Priester seiner Diözese ohne Gerichtsurteil verhaftet worden waren. Mehrfach war er bereit, zugunsten der bedrängten Juden auf die Kanzel zu gehen, sah davon jedoch auf Bitten von Vertretern der münsterischen Judenschaft wieder ab, um deren Lage (nach ihrer eigenen Einschätzung) nicht zu verschlechtern.

Zahllose Dokumente aus Kreisen der Reichsregierung wie der Gauleitung und der Gestapo, die bereits kurz nach Kriegsende aufgefunden wurden, belegen, daß die Machthaber den Bischof von Münster zu ihren gefährlichsten Gegnern zählten. Man warf ihm "staatsabträgliche Gesinnung" vor, und das kam für einen normalen Sterblichen einem Todesurteil gleich. Galen galt zusammen mit dem Berliner Bischof Konrad Graf Preysing, einem Vetter von ihm, und dem Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, der sich anfänglich im Charakter der Hitler-Regierung gründlich getäuscht hatte, als Vertreter des harten Kurses im deutschen Episkopat.


3.

Oberregionale und übernationale Bedeutung erlangte Bischof Graf Galen aber erst und endgültig während der Kriegszeit, und zwar durch drei berühmt gewordene Predigten aus dem Juli und August 1941, zu einer Zeit, da die deutschen Truppen tief nach Rußland eindrangen. Galen hatte sich die Konsequenzen dieser spektakulären "Flucht in die Öffentlichkeit", wie er selbst seine Proteste in einem erst 1976 bekannt gewordenen Schreiben an den Nachbarbischof Berning von Osnabrück nannte, gründlich überlegt. Daraus resultierte sein Entschluß, von der Linie der "papierenen" und wirkungslosen Proteste des Episkopats abzuweichen, von der sich der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der greise Breslauer Kardinal Bertram, nicht abbringen ließ. Berning gegenüber bezeichnete es Galen als seine Gewissenspflicht, öffentlich für Kirchenfreiheit und Menschenwürde einzutreten und "gegebenenfalls die eigene Freiheit und das Leben zum Opfer zu bringen". Und da er die anderen Bischöfe nicht zu einem gemeinsamen Schritt bewegen konnte, ging Galen allein auf die Kanzel. In drei Sonntagspredigten protestierte er gegen die Ermordung von Geisteskranken, gegen die Beschlagnahme von Klöstern und die Vertreibung von Ordensleuten.

In allen Fällen handelte es sich um Verbrechen und Obergriffe staatlicher Instanzen, über die der Bischof zuverlässig informiert war. über den Abtransport von Geisteskranken aus der Heilanstalt Marienthal in Kinderhaus bei Münster und deren Ermordung und Einäscherung an abgelegenen Orten des Reiches hatte ihm der Anstaltspfarrer Lackmann berichtet. Galens Predigten, die er durch Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft über die ihm zur Kenntnis gelangten Verbrechen begleitete, waren als öffentlicher Aufschrei des Gewissens die im Hitler-Staat schärfstmögliche Form von Protest und Anklage. Ihr Wortlaut ging in Windeseile um die Welt und wurde auf Flugblättern der deutschen Kriegsgegner in halb Europa verbreitet, ein Himmelsgeschenk für die alliierte Propaganda, wie ein britischer Autor Jahre später bekannte. Den deutschen Katholiken vermittelten die schonungslosen Anklagen des Bischofs von Münster das stärkende Bewußtsein, daß hier ein Kirchenfürst bereit war, die unverkürzte Verkündigung der überlieferten Lehre der Kirche mit dem Leben zu bezahlen.

Es erscheint schwer verständlich, daß es Hitler zweimal ablehnte, dem ihm verhaßten Bischof, wie Reichskirchenminister Kerrl vorgeschlagen hatte, die staatliche Dotation von jährlich 123.613,50 Reichsmark für Bischhof und Domkapitel zu sperren und Galen, wie ebenfalls wiederholt in Regierungskreisen erwogen, verhaften und ermorden zu lassen. Diese angesichts anderer Verbrechen auffällige Zurückhaltung erklärt sich wohl aus der Einsicht, daß man dann (nach einer Formulierung von Goebbels) ganz Westfalen für die Kriegszeit würde abschreiben können. Infolgedessen verschob Hitler die von ihm wiederholt so bezeichnete "Abrechnung" mit Galen auf die Zeit nach dem vermeintlichen "Endsieg". An Stelle des Bischofs verhaftete die Gestapo zweiundzwanzig Weltpriester und sieben Ordensgeistliche aus der Diözese Münster, von denen elf in Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind.

Papst Pius XII. hat das (wie er es formulierte) "offene und mannhafte Auftreten" des münsterischen Oberhirten ausdrücklich begrüßt und ihm dafür direkt und über Dritte wiederholt Dank und Anerkennung übermittelt. Am 24. Februar 1943 schrieb er dem Bischof: "Uns ist es jedesmal ein Trost, wenn wir Kenntnis erhalten von einem offenen und mutigen Wort eines deutschen Bischofs... Du, ehrwürdiger Bruder, bist übrigens der letzte, dem gegenüber wir dies eigens zu erwähnen brauchen." Pius XII. ehrte Galen durch Ernennung zum Päpstlichen Thronassistenten.

Mit seinem Eintreten zugunsten der Wiederherstellung des verletzten Rechts hat der Bischof von Münster für alle Unterdrückten und Verfolgten gesprochen, ohne Unterschied des Glaubens und der Rasse. In einem Hirtenbrief des Episkopats vom September 1943, den Galen mitunterzeichnete, standen die Sätze: "Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt wurde an schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und Geisteskranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- und Strafgefangenen, an Menschen fremder Rasse und Abstammung."

Die Zeitgenossen wußten, daß damit neben dem Mord an Geisteskranken und an russischen Kriegsgefangenen auch die Ermordung von Juden gemeint war. Wieweit allerdings der Bischof von Münster über die in den besetzten Ostgebieten unter strengster Geheimhaltung fabrikmäßig betriebenen Massengreuel informiert gewesen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Vermutlich hat er manche unkontrollierbaren Nachrichten über das Ausmaß der Verbrechen nicht glauben können. Andererseits verurteilte er die inhumane Luftkriegsführung der Alliierten. Graf Galen erhoffte aber keineswegs eine militärische Niederlage des Reiches, auch wenn er 1939 den Kriegsausbruch mit den Worten "Finis Germaniae - das Ende Deutschlands" kommentiert haben soll. Wiederholt gab er seiner Erwartung auf einen "ehrenvollen Frieden" Ausdruck, 1941 aber auch der Hoffnung auf ein für Deutschland "siegreiches Kriegsende". Den Krieg gegen die Sowjetunion verstand er als Kreuzzug gegen den antichristlichen und totalitären Bolschewismus.

Zu Angehörigen deutscher Widerstandskreise besaß Galen offensichtlich über den führenden westfälischen Juristen Paulus van Husen lockeren Kontakt. Dem Bischof lag jeder Gedanke eines Staatsstreiches fern. Sein Bestreben blieb es, an überkommenen Prinzipien und damit an der Lehre der Kirche festzuhalten. Dadurch glaubte er dem nationalsozialistischen Totalitarismus einen wirkungsvollen Damm entgegensetzen zu können, ohne jedoch, und darin liegt eine den Nachgeborenen oft schwer verständliche Grenze seines Wirkens, Staatsautorität und Kriegsdienst unter NS-Flagge in Zweifel zu stellen.


4.

Nach der Zerstörung großer Teile der Stadt Münster durch Bomben leitete Galen sein Bistum seit dem Oktober 1944 von Sendenhorst aus. Für ihn bedeutete die deutsche Kapitulation keine Befreiung, sondern "Feindbesetzung". Äußerungen des Bischofs über Gründe oder Auswirkungen der staatlichen Umwälzung sind bisher nicht bekannt. In einem Grußwort vom 8. Mai 1945 an seinen Klerus sprach er vom Dank an Gott "für die uns wiedergeschenkte Freiheit des religiösen Lebens, des Gottesdienstes, der religiösen Unterweisung". Diese spezifizierte Aufzählung verband Galen allerdings mit dem Hinweis auf die "schmerzlichen Ereignisse", durch die diese Freiheit geschenkt worden sei. Der Bischof hat die alliierte Behauptung von der Kollektivschuld des deutschen Volkes stets zurückgewiesen. Er war auch nicht bereit, übergangsweise regionale Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Für Galen gab es nur die Seelsorge. Dazu gehörte sein Eintreten für unbelastete Mitglieder der NSDAP, für Kriegsgefangene und für internierte Deutsche, aber ebenso gegen Obergriffe der Besatzungstruppen und der befreiten Kriegsgefangenen russischer und polnischer Herkunft. Wenig später protestierte er gegen die Vertreibung der Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten.

Der Wortlaut einer entsprechend deutlich gehaltenen Predigt in Telgte am 1. Juli 1945 wurde (ähnlich wie die Kriegspredigten des Bischofs) sofort verbreitet und fand ein ähnlich starkes Echo. Wegen seiner Kritik mußte sich der Bischof am 24. Juli in Warendorf gegenüber Vertretern der Militärregierung verantworten. Ihnen erklärte er unumwunden, er werde wie bisher seine Hirtenaufgabe wahrnehmen und auch künftig keiner Weisung folgen; man könne mit ihm tun, was man wolle, auch ihn verhaften. Die Folge dieses Verhaltens gegenüber der Besatzungsmacht - Thomas Mann sprach im Juli 1945 aus dem fernen Kalifornien überheblich von "patriotischen Torheiten" Galens - war es, daß das Wort des Mannes, der der "Löwe von Münster" genannt worden war, bei der Militärregierung nichts galt. Ein Reporter des "Glasgow Observer" schrieb am 4. Januar 1946, die Militärregierung habe sich gegenüber diesem "großen Bischof und Volksführer ungewöhnlich phantasiearm und blöd" verhalten. Wie sehr Galen darunter litt, daß er nur wenig für seine notleidenden Landsleute erreichen konnte, bekannte er in seinem Fastenhirtenbrief 1946: "Es macht mich oft tieftraurig, daß ich so wenig, fast gar nicht helfen kann."

Gleichsam in Anknüpfung an seinen früheren Konservatismus formulierte der Bischof im Juli 1945 ein von ihm so genanntes "Idealprogramme" für einen politischen und gesellschaftlichen Aufbau des "deutschen Vaterlandes" - ein Terminus, dessen Verwendung damals ungewöhnlich war. Er begrüßte die politische Zusammenarbeit katholischer und evangelischer Christen in der neugegründeten CDU. Die Bezeichnung "christlich-demokratisch" wollte er allerdings durch "christlich-sozial" ersetzt wissen, da für ihn der Terminus "demokratisch" antikirchlich belastet war.

Am Vorabend des Weihnachtsfestes 1945 wurde bekannt, daß Galen zusammen mit dem Kölner Erzbischof Joseph Frings und dem Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing zum Kardinal ernannt worden war. Galen empfand die ihn überraschende, von seinen Diözesanen enthusiastisch begrüßte Auszeichnung als unverdientes Geschenk. Seit 1976 wissen wir allerdings, daß Papst Pius XII. zuerst geschwankt hatte, ob er Galen oder statt dessen den Freiburger Oberhirten Gröber auszeichnen sollte.

Sieben Tage dauerte Anfang 1946 die geradezu abenteuerliche gemeinsame Reise der neuen Kardinäle Frings und Galen nach Rom zur Entgegennahme des Purpurs. Galen setzte bei den Alliierten durch, daß er, ungeachtet der damit verbundenen neuen Strapazen, in deutschen Kriegsgefangenenlagern in Süditalien zu seinen Landsleuten sprechen durfte. Dabei ließ er in Tarent anklingen, daß er nicht mehr lange leben werde.

Bei der Rückkehr des Kardinals in sein Bistum am 16. März 1946 kannte die Verehrung, die ihm in einer immer noch gespenstischen Trümmerlandschaft entgegenschlug, keine Grenzen. Der Bischof wollte die Kardinalswürde stellvertretend als Auszeichnung für die Haltung seiner Diözesanen verstanden wissen. Er machte kein Hehl aus seiner Trauer darüber, daß ihm die Ehre des Martyriums versagt geblieben sei. Nur sechs Tage nach seinem triumphalen Empfang in Münster starb der Kardinal Clemens August Graf von Galen am 22. März 1946 an den Folgen einer akuten Bauchfellentzündung.

Die Todesnachricht löste allgemeine Betroffenheit aus. Erst mit fortschreitendem zeitlichen Abstand ist deutlicher geworden, daß angesichts der traditionellen Gebundenheit dieses Bischofs an überkommene Prinzipien und Formen kirchlicher Lehre und Verkündigung seine Größe wie seine Grenze auf der gleichen Linie lagen. Ebenso deutlich ist aber auch zutage getreten, daß der Kardinal zu den wenigen herausragenden Bischofspersönlichkeiten seiner Epoche gehörte. Er hat, wie es im Ehrenbürgerbrief der Stadt Münster vom 15. März 1946 heißt, unter Einsatz seines Lebens die Vergewaltigung des Rechts und des Gewissens bekämpft "und dadurch die Ehre des deutschen Volkes gerettet"; er hat "Millionen Deutsche getröstet und aufgerichtet". Was das bedeutet, wird erst dann klar, wenn man sich überlegt, für wieviele - oder richtiger: wiewenige andere Zeitgenossen dieses Urteil ebenfalls gilt.


Das Porträt Clemens August Graf von Galen erschien zuerst in leicht verkürzter Form als WDR-Sendung (11.3.1978), dann gedruckt in "Entscheidungen im Westen", Beiträge zur neueren Landesgeschichte, Bd. 7, hrsg. v. W. Först, Köln und Berlin 1979. Es beruht auf ungedruckten Quellen im Bischöflichen Diözesanarchiv in Münster, Teilen der privaten Korrespondenz sowie zahlreichen Eingaben an staatliche Stellen im Bundesarchiv Koblenz und im Staatsarchiv Münster. Gedruckte Quellen sind u. a. das Kirchliche Amtsblatt der Diözese aus der Amtszeit Galens, die von Heinrich Portmann herausgegebene Dokumentensammlung (Münster 1948) und die "Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945", bearbeitet von Bernhard Stasiewski (bisher 2 Bde., Mainz 1968/1976). Eine historisch-kritische Biographie Galens ist ein Desiderat. Die Galen-Forschung blieb stark durch die Publikation einzelner Aktenfunde ("Schlüsseldokumente") bestimmt, ohne sich bisher auf eine umfassende Quellengrundlage stützen zu können. Immer noch unentbehrlich sind die kurz nach Galens Tod erschienenen Biographien seines langjährigen Sekretärs Heinrich Portmann (Münster 1948, 15. Aufl. 1978) und des münsterischen Domkapitulars Max Bierbaum (Münster 1955, 7. Aufl. 1974). Bierbaum hat in den späteren Auflagen zahlreiche Ergänzungen und Veränderungen vorgenommen, ohne sie jedoch kenntlich zu machen.

Rudolf Morsey

QUELLE  Morsey, Rudolf | Clemens August Graf von Galen |
AUFNAHMEDATUM2004-03-15


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QUELLE    Schröer, Alois (Bearb.) | Das Bistum Münster | Bd. 1, S. 298-310
  Schulte, Wilhelm | Westfälische Köpfe | S. 086f.
  Iserloh, Erwin | Clemens August Graf von Galen (1878-1946) |
   | Köln Westfalen 1180-1980 | Bd. 1, S. 468f.
  Morsey, Rudolf | Clemens August Graf von Galen |
  Kuropka, Joachim | Clemens August Graf von Galen |
   | Streitfall Galen |
  Damberg, Wilhelm | Clemens August Graf von Galen |
  Kuropka, Joachim | Die Brüder Franz und Clemens August von Galen als Politiker |

SYSTEMATIK / WEITERE RESSOURCEN  
Zeit3.8   1850-1899
3.9   1900-1949
Ort3.5   Münster, Stadt <Kreisfr. Stadt>
4   Münster, Bistum <1802 - >
Sachgebiet16.2   Katholische Kirche
16.6.3   Geistliche, Rabbiner, Ordensleute
DATUM AUFNAHME2003-10-10
AUFRUFE GESAMT24166
AUFRUFE IM MONAT1949